Читать книгу Bindungstraumatisierungen bei Kindern und Jugendlichen - Nicole Vliegen - Страница 8
Vorwort von Dr. med. Peter Adriaenssens
ОглавлениеIn den vergangenen Jahren wurden erhebliche Fortschritte im Bereich der Forschung und Behandlung komplexer Traumata erzielt. In diesem Buch wurden viele dieser neuen Erkenntnisse in einer sich integrierenden Perspektive zusammengeführt, wobei der Schwerpunkt auf Adoptiv- und Pflegekindern liegt, die oftmals vielfältige traumatische Erfahrungen in Form von bedrohten oder abgebrochenen Bindungsbeziehungen erlitten haben. Komplexe traumatische Belastungsstörungen stellen insofern eine große Herausforderung dar, als mit ihnen einhergehende klinische Symptome zu einer Vielzahl von Schwierigkeiten führen können, wie z. B. Traumatrigger, Bindungsdefizite, das Vermeiden von Augenkontakt, Hyperaktivität, pathologische und perverse Verhaltensweisen bis hin zu Suchtproblemen und Selbstverletzungen. Um betroffenen Kindern eine trauma-spezifische Betreuung oder Behandlung zur Verfügung stellen zu können, ist es wichtig, neuste Erkenntnisse zu bündeln und verständlich zu machen.
Die Autor*innen des Buches veranschaulichen, dass es sich beim Verstehen komplex traumatisierter Kinder nicht einfach um das Lösen eines intellektuellen oder kognitiven Puzzles handelt. Dass wir heute von einem komplexen Trauma als Dysfunktion sprechen, bei dem bestimmte biologische und psychologische Mechanismen versagen, ist ein erster und wichtiger Schritt im Verstehen der Entstehungsgeschichte traumatischer und stressbezogener Störungen. ›Shell shock‹, ›Combat Shock‹, ›Kriegsneurose‹: im zwanzigsten Jahrhundert wechselten die Begriffe, die die schwerwiegenden Auswirkungen von Gewalt, Missbrauch und Krieg darstellen sollten, einander ab. Nach dem Vietnamkrieg stellten Psychotherapeut*innen bei Soldaten nach ihrer Entlassung aus dem Militärdienst traumabezogene Symptome fest. Sie nannten dies das Post Vietnam Syndrom und verbanden es mit traumatischen Kriegserlebnissen. Weder die Militärverwaltung, noch die Krankenkassen teilten jedoch diese Einsicht. Für sie handelte es sich dabei um Störungen, die schon zuvor vorhanden gewesen wären und sich jetzt erst bemerkbar machen würden. Die Forschenden blieben jedoch bei ihren Erkenntnissen und verglichen die Erfahrungen der Soldaten mit traumatisierenden Erfahrungen von Überlebenden des Holocausts oder Opfern von Vergewaltigung. Dieselbe Debatte ist nun im Zusammenhang mit Traumatisierungen bei Geflüchteten erneut entfacht: Auch ihre Symptome sind oftmals nicht nur auf die Erfahrungen vor der Flucht zurückzuführen. Nachdem man die verschiedenen Biografien auf Gemeinsamkeiten hin analysierte, erkannte man, dass das posttraumatische Belastungs-Syndrom (PTBS) eine universelle Antwort auf bedrohliche und überwältigende Ereignisse ist, die außerhalb normaler Lebenserfahrungen auftreten und innerpsychisch nicht zu bewältigen sind. Während man zuerst annahm, dass das PTBS nur bei einer geringen Anzahl von Personen auftritt, beschrieben Forscher*innen und Therapeut*innen ein klinisches Bild, das die herkömmlichen konkreten Beispiele und Situationen überstieg, sodass das PTBS von da dann als objektive Tatsache anerkannt wurde. Ein komplexes Trauma schreibt sich tief in den Entwicklungsverlauf ein. Es handelt sich dabei sowohl um einen beschreibenden als auch um einen erklärenden Begriff, der sich darauf bezieht, wie chronische traumatische Erfahrungen und/oder Verluste und Abbrüche in Bindungsbeziehungen, die oftmals bereits in jungen Jahren eintreffen und nicht bewältigt werden können, zu einem Spektrum an Symptomen führen können.
Personen mit einem Trauma konfrontieren uns mit schwierigen Begriffsbestimmungen: Was ist eine Tatsache, die man als Trauma ansehen kann? Welche Bedeutung trägt die Zeit im Lebenslauf? Liegt das Trauma nur in der Vergangenheit und wie kann man erklären, dass die Spuren des Traumas in neuen Bindungsbeziehungen von Pflege- und Adoptivkindern aktiviert oder reinszeniert werden können? Und was bedeutet die An- oder Abwesenheit eines Symptoms? In unserer Arbeit mit Adoptiv- und Pflegekindern stießen die Autor*innen dieses Buches auf verschiedene Schwierigkeiten: So haben die meisten traumatisierten Kinder in ihrer individuellen Lebensgeschichte einen Bindungsabbruch oder eine deutliche Bruchlinie in wichtigen Bindungsbeziehungen erlebt, ein schreckliches Erlebnis, das eingemauert oder abgespaltet worden ist, jedoch in dem Gesamtbild einen Platz finden muss. Die Autor*innen erkannten dies und wollen versuchen, das komplexe Thema so weit wie möglich zu ordnen und eine Übersicht zu geben. Ihre Offenheit gegenüber diesem komplizierten klinischen Bild entwickelte in ihnen eine Sensibilität für das Spezifische des komplexen Traumas des Kindes sowie für das Risiko, dass das ursprüngliche Trauma auch spätere bessere Beziehungen überschatten kann bzw. wiederholt wird und bei Pflegepersonen zu sekundären oder indirekten Traumatisierungen führen kann. Die Autor*innen gehen dabei auf schwierige und komplexe Fälle ein und zeigen damit auf, dass die spezifische Diagnose ›komplex Trauma‹ nicht länger als Fiktion der Psychotherapeut*innen abgetan und geringgeschätzt werden darf.
Das vorliegende Buch soll Bezugspersonen als Unterstützung dienen, verletzten Kindern und Jugendlichen zu begegnen, die oftmals unsichtbar bleiben oder missverstanden werden und demzufolge keine ausreichende Hilfe erhalten. Es ist nicht einfach, mit jemandem zusammenzuarbeiten, der misstrauisch ist, Widerstand gegenüber jedem Erwachsenen zeigt und nur unregelmäßig zu Terminen erscheint. Dieses Buch soll nicht nur Kliniker*innen/Therapeut*innen, sondern auch Pflegeeltern, Adoptiveltern und anderen Begleitpersonen in Pflegeheimen oder anderen familienvertretenden Organisationen eine solide Grundlage für die Arbeit mit komplex traumatisierten Kindern und Jugendlichen bieten, indem es Zusammenhänge zwischen Klinik und Forschung herstellt und einen aktuellen Überblick über die Neurobiologie des Traumas, die Bindungs- und Entwicklungspsychologie, die psychosozialen Mechanismen liefert und das, was heute im Kontext von Behandlungsmethoden gilt als evidenzbasiert, zur Diskussion stellt. Auf diese Weise beleuchtet das vorliegende Buch jenen Weg, der sich zwischen den als Hindernis darbietenden Bäumen hindurchschlängelt und zeigt, wie wichtig es ist, die Bäume vielmehr als Wegweiser für eine diagnostische Sichtweise anzuerkennen, die als Ankerpunkte für den Therapieprozess zu verstehen sind. Je mehr sich Berater*innen oder Therapeut*innen auf ein solides Fachwissen verlassen können, desto deutlicher können sie das Kind/den Jugendlichen einschätzen und folglich eine entsprechende Behandlung anbieten.
Es ist unsere Aufgabe, durch Fortschritte in der Beschreibung, Diagnose, Erklärung und Behandlung von Komplextraumatisierungen das Leiden, den Verlust an Fähigkeiten und den Verlust der Selbstregulierung zu begrenzen. Das ist es, was dieses Buch relevant macht. Zudem ist es wichtig, dass die Forschung deutlich zeigt, dass die Nutzung dieser Erkenntnisse das Potenzial hat, das Wiederauftreten eines Traumas zu vermeiden oder die Auswirkungen der traumabezogenen Schwierigkeiten im Leben zu mindern. Deshalb sollten Pflege- und Adoptiveltern, Erzieher*innen, Begleiter*innen und Psychotherapeut*innen den Inhalt dieses Buch kennen.
Letztendlich ist das Buch eine Hommage an viele Klient*innen, Pflege- und Adoptivkinder sowie deren Familien. Die Autor*innen wurden davon inspiriert, was sie von den Kindern gelernt haben und zwar insbesondere von der Erfahrung, dass sich Betroffene und ihre Pflege- und Adoptivfamilien von chronischen und den mehrfach traumatischen Erfahrungen der Vergangenheit erholen können und dass ihnen im Hier und Jetzt spezifische Hilfen bereitstehen.
Prof. Dr. Peter Adriaenssens
Psychiater für Kinder und Jugendliche;
Vertrauensarzt für Betroffene von Missbrauch, Misshandlung und
Traumatisierung
Universitätsklinik Gasthuisberg, Katholische Universität Leuven/Vertrauens- zentrum Kindermisshandlung