Читать книгу Vegane Ernährung für Einsteiger - Niko Rittenau - Страница 6
DIE ZUKUNFT des Veganismus
ОглавлениеWie der kanadische Psychologe Steven Pinker schrieb, ist eine der Haupterkenntnisse der Sozialpsychologie, dass sich Menschen einen Großteil ihrer Verhaltensweisen von anderen Menschen abschauen. Aber nicht nur auf Menschen, sondern auch auf andere Tiere scheint dies in vielen Fällen zuzutreffen. So zeigt beispielsweise das gut dokumentierte Beispiel der vegetarischen Löwin Little Tyke, dass selbst Hypercarnivoren den Fleischverzehr nicht unweigerlich in ihrer DNA verankert haben, sondern es sich wohl eher von ihrem Rudel abschauen. Little Tyke war eine knapp 3 Meter lange und knapp 160 Kilogramm schwere Löwin, die im September 1946 geboren, von ihrer Mutter nach der Geburt verstoßen und daraufhin vom Ehepaar Georges und Margaret Westbeau aufgezogen wurde. Little Tyke wollte nicht nur von sich aus kein Fleisch essen und verweigerte jeglichen Fütterungsversuch damit, sondern sie lebte auf der Ranch der Westbeaus auch in Gesellschaft eines Schafs, eines Hirschs, einer Katze und eines Schwans, zu denen sie enge soziale Beziehungen pflegte. Gesundheitlich ging es Little Tyke trotz ihrer fleischfreien Ernährung bis zu ihrem Tod ausgesprochen gut.
Aus dieser sozialpsychologischen Erkenntnis kann man also auch ableiten, weshalb die allermeisten Menschen heutzutage Fleisch und andere tierische Produkte essen: Sie essen Fleisch, weil die meisten Menschen Fleisch essen. Wenn man Menschen heutzutage fragt, aus welchen Gründen sie Fleisch konsumieren, dann geben die meisten Gründe wie Geschmacksvorlieben, Gewohnheit und Bequemlichkeit an. Alle drei Bedürfnisse können zukünftig auch vegane (pflanzliche, pilz-, bakterien- oder zellbasierte) Alternativen zu tierischen Produkten befriedigen. Kaum ein Mensch gibt als Grund für seinen Fleischverzehr an, dass er oder sie es besonders toll findet, dass dafür ein Tier ausgebeutet und getötet wird.
Im Gegenteil: Das Tierleid ist für viele Menschen ein nötiges (und oft bei der Kaufentscheidung verdrängtes) Übel, mit dem sie sich arrangiert haben. Wie der Deutsche Ethikrat in einer Stellungnahme schrieb, ist die Realität der landwirtschaftlichen Praxis eigentlich gar nicht mit den vorherrschenden gesellschaftlichen Wertvorstellungen vereinbar. Somit ist es nur eine Frage der Zeit, bis technologische Fortschritte tierleidfreie Produkte hervorbringen werden, die geschmacklich hervorragend, preiswert und gut verfügbar sind und somit die Hemmschwelle für den Umstieg so niedrig machen, dass ein Großteil der Menschen von sich aus den weitestgehenden Umstieg auf diese Produkte vollzieht.
Um die Tierausbeutung zu beenden und damit eine Welt nach veganen Werten zu erschaffen, muss bei Weitem nicht die gesamte Bevölkerung vegan werden, sondern es genügt das Erreichen der sogenannten »kritischen Masse«. In der Ökonomie bezeichnet die kritische Masse jenen Schwellenwert, an dem eine Organisation genügend Eigendynamik entwickelt oder ein Produkt ausreichend Marktanteile einnimmt, um sich selbst zu erhalten und dadurch von selbst weiter an Bedeutung zu gewinnen. Wie hoch der Bevölkerungsanteil an engagierten Reformist*innen sein muss, um einen sozialen Wandel in der Gesamtgesellschaft herbeizuführen, hängt von einer Vielzahl an Faktoren ab. Jüngere Untersuchungen sprechen von etwa einem Viertel unter Optimalbedingungen und weniger als der Hälfte unter erschwerten Bedingungen. Um diesen gesellschaftlichen Wandel herbeizuführen, muss nicht mal ein Viertel oder die Hälfte der Bevölkerung der DACH-Region komplett vegan werden. Es genügt, wenn diese kritische Masse an Menschen zumindest die Werte des Veganismus befürwortet, auch wenn sie selbst noch nicht strikt danach lebt. Wie die amerikanische Psychologin Dr. Melanie Joy betont, ist ein mindestens so großer Hebel neben der Anzahl an strikt vegan lebenden Menschen auch die Anzahl sogenannter »Vegan Allies«, also »Verbündeter«, die zwar selbst aufgrund von Bequemlichkeit oder anderen äußeren Umständen noch mehr oder weniger regelmäßig tierische Produkte essen, aber von ihrer Lebenseinstellung her eigentlich einen kollektiven Wandel befürworten.
So gibt es in Hinblick auf den Erfolg der veganen Bewegung nicht nur vegan lebende Menschen als Teil der Lösung und alle anderen als Teil des Problems, sondern auch viele Graubereiche dazwischen. Es wäre fatal, diesen »Vegan Allies« nicht die Möglichkeit zu geben, ebenfalls ein Teil der Lösung zu sein. Das betonte der damalige Vizepräsidnet der Vegan Society, Leslie Cross, bereits im Jahr 1954. Er schrieb in einem Artikel, dass die vegane Bewegung alle Unterstützer*innen der veganen Idee willkommen heißen sollte – angefangen von jenen mischköstlich lebenden Menschen, die aber zumindest die Grundwerte des Veganismus gutheißen, bis hin zu jenen, die, so weit es ihnen möglich ist, strikt vegan leben.
»Die meisten Leute essen Fleisch, weil die meisten Leute Fleisch essen.«
Tobias Leenaert (The Vegan Strategist)
Selbst wenn man pessimistisch auf die ethische Entwicklung der Menschheit blickt, ist es schwer vorstellbar, dass sich unsere Welt nicht dennoch in eine Richtung entwickelt, die mit den Grundwerten des Veganismus übereinstimmt. Zwar kann man auch rein auf Basis der großen Vielfalt von pflanzlichen Lebensmitteln fernab von Fleisch- und Käsealternativen großartige vegane Gerichte zaubern (wie Sebastian im Rezeptteil dieses Buches unter Beweis stellt), aber dennoch ist es nicht von der Hand zu weisen, dass der Großteil der Menschheit den Geschmack von tierischen Produkten äußerst gerne mag. Alleine der technologische Fortschritt wird jedoch das ineffiziente und ökologisch desaströse System der weltweiten Nutztierhaltung zukünftig schlichtweg obsolet machen. Nachfolgende Generationen werden mit Unverständnis auf heutige Praktiken der sogenannten »Nutztierhaltung« blicken, da sie die kulinarischen Erlebnisse, die uns heute Fleisch, Milch, Käse, Eier und andere tierische Produkte liefern, ganz einfach ohne die Ausbeutung und Tötung der Tiere bekommen werden. Daher spielt die Entwicklung von veganen Tierproduktalternativen eine so zentrale Rolle, und die aktuell bereits vielversprechenden veganen Ersatzprodukte werden zukünftig noch mehr überzeugen und ab einem gewissen Punkt nicht mehr vom tierischen Äquivalent unterscheidbar sein. Zusätzlich werden neue Technologien echtes Fleisch unabhängig vom Tier aus Zellen wachsen lassen. Wird es also nicht der ethische Fortschritt alleine sein, der ein Ende der »Nutztierhaltung« bringt, dann wird es der technologische Fortschritt sein.
Abb. 6. Vorteile von Clean Meat gegenüber herkömmlichem Fleisch
Dabei ist es nicht weiter verwunderlich, dass viele Menschen sich eine derartige neue Welt heutzutage noch kaum vorstellen können. Denn wie eine oft zitierte Maxime besagt, neigen wir Menschen seit jeher dazu, zu überschätzen, was sich in unserer Gesellschaft kurzfristig verändern kann – und wir unterschätzen, was sich langfristig verändern wird. Wie der Tierrechtsaktivist und Autor Paul Shapiro betont, sind es primär technologische und nicht ethische Gründe gewesen, die dazu führten, dass wir heute nicht mehr Wale für ihren Tran, Tauben für ihre Flugleistung und Pferde für ihre Muskelkraft ausbeuten. Wir brauchen heutzutage schlichtweg den Tran der Wale nicht mehr für Öllampen, weil Tran durch Petroleum abgelöst wurde. Zudem haben wir mittlerweile ohnehin effizientere Methoden gefunden, um Licht zu erzeugen. Tauben mussten nicht mehr als Nachrichtenüberbringer fungieren, weil Telegrafen erfunden wurden, die später von Faxgeräten und E-Mails abgelöst wurden. Auch Pferde wurden zumindest zu großen Teilen aus der Knechtschaft des Menschen entlassen, da Autos mit Verbrennungsmotoren erfunden wurden, die Kutschen ablösten. All das waren zwar technologische Innovationen, aber sie hatten dennoch einen Einfluss auf das Mensch-Tier-Verhältnis. Ebenso wie es heute Mischköstler*innen absurd finden würden, Wale zu töten, um trotz des Vorhandenseins von elektrischem Licht Öllampen zu benutzen, wird die Tötung von Tieren für Fleisch, Leder und andere tierische Produkte zukünftigen Generationen absurd erscheinen. Die Innovationen der sogenannten zellbasierten Landwirtschaft ermöglichen es heute schon, Fleisch aus Zellen zu kultivieren. Somit wird es in Zukunft möglich sein, mithilfe einer Zelle aus der Feder eines Huhns oder der Nabelschnur eines Kalbs Abertausende Kilos an hochwertigem, umweltfreundlichem und vor allem ethischem Fleisch zu produzieren, ohne dafür Tiere zu töten. Weitere Vorteile dieser innovativen Technologien zeigt Abbildung 6.
Zur Vertiefung: Das Buch Neues Fleisch des Journalisten Hendrik Hassel widmet sich dem Thema der zellbasierten Landwirtschaft und stellt viele der wichtigsten Pionierinnen und Pioniere in diesem Feld vor. In den zwölf Kapiteln und den zwölf abschließenden eigenen Thesen informiert Hendrik umfassend über Zellkulturfleisch, mikrobiell produzierte Milchprodukte und viele weitere spannende Themen rund um diese innovative Art der Lebensmittelproduktion. Weitere lesenswerte Bücher zu diesem Thema sind Sauberes Fleisch von Paul Shapiro und Clean Meat