Читать книгу Vollmondnacht - Nina Johanna - Страница 15
ОглавлениеDer nächste Tag begann wie die beiden Tage zuvor. Die Vögel zwitscherten, eine warme Brise in den Baumkronen brachte die Blätter zum Tanzen, und Luna erwachte voller Energie aus ihrem immer berauschender werdenden Traum. Die Stimme sprach so intensiv zu ihr wie nie zuvor. Sie wusste, sie mussten sich dem Wasserfall nähern. Die beiden Freunde aßen jeweils ein halbes Brot, und Joseph berichtete voller Sorge, dass sich die Essensvorräte langsam dem Ende zu neigten. Auch die Wasserflasche war nicht einmal mehr zur Hälfte mit Flüssigkeit gefüllt. Luna versuchte sich keine weiteren Gedanken darüber zu machen und betrat mit vorsichtigen Schritten den beängstigend schmalen Pfad. Gezielt setzten beide einen Fuß vor den anderen, was ihnen heute, nachdem sie ausgeschlafen waren, viel leichter als gestern fiel. Luna merkte an Josephs Blick in den Wald, dass er sich immer noch Gedanken über die gestern gefundenen Fußspuren machte. Zu ihrer Zufriedenheit erwähnte er diese Zweifel jedoch kein einziges Mal, sondern platzierte einen Schritt nach dem anderen gekonnt wie ein Seiltänzer auf dem schmalen Weg.
Viele Schritte und mehrere Meter später wurde Luna plötzlich immer langsamer, bis sie schließlich zum Stillstand kam. „Was ist los?“, fragte Joseph, der ihr unerwartetes Stehenbleiben bemerkt hatte. „Dieser Weg kommt mir nicht mehr bekannt vor“, keuchte sie unruhig und ging nervös auf und ab. „Was meinst du damit? Es gibt keinen anderen Weg! Oder hast du vielleicht irgendwo eine Abzweigung gesehen?“ Suchend schaute er auf den zurückgelegten Pfad. „Wir sind zu weit gegangen!“, rief Luna schließlich, warf ihre Locken auf den Rücken und ging mit schnellen Schritten zurück. Joseph folgte ihr schweigend, während sie leise und undeutlich vor sich hinmurmelte. „Wir müssen da irgendwie hinunter. Nur wie? Es gab keinen Weg!“
„Da hinunter?“, rief Joseph entsetzt und zeigte mit ungläubigem Blick auf den Abhang. „Wie soll man denn bitte da hinunterkommen, ohne sich alle Knochen zu brechen?“
„Geh weiter. Immer weiter den steilen Weg hinauf. Immer weiter, und dann… Hinunter. Jetzt hinunter.“ Luna flüsterte die in ihrer beglückenden Erinnerung gespeicherten Worte der Stimme vor sich hin. „Was meinst du mit hinunter?“, fragte Joseph, der Luna nun eingeholt hatte, verständnislos. „Wo sollen wir hinunter?“
„Jetzt“, nuschelte Luna.
Genau in diesem Moment brach ein trockenes Stückchen Erde direkt unter Josephs rechtem Fuß weg. Mit zitternden Händen versuchte er das Gleichgewicht zu halten. Luna griff intuitiv und so schnell sie konnte nach seiner Hand, doch es war zu spät. Mit einer Geschwindigkeit, die Luna beim besten Willen nicht hätte erreichen können, und einem herzzerreißenden Schrei rutschte Joseph den Abhang hinunter, donnerte gegen mächtige Steine und löchrige Baumstümpfe und blieb schließlich, nach gefühlten Minuten, regungslos auf dem flachen Waldboden zusammengerollt liegen. Kurze Zeit war es still. Luna stand mehrere Meter entfernt oben am schmalen Pfad, die Augen vor Schreck weit aufgerissen, und hielt sich beide Hände zitternd vor den geöffneten Mund. „Joseph!“, schrie sie besorgt mit hysterischer Stimme. „Joseph!“ Doch der Körper ihres besten Freundes bewegte sich nicht. Voller Angst begann Luna, ohne weiter darüber nachzudenken, den steilen Abhang hinunter zu laufen. Immer wieder stolperte sie über eine dicke Wurzel, stieß sich ihre Füße an einem spitzen Stein oder blieb an einem Ast hängen, doch wie durch ein Wunder kam sie nicht zu Fall. „Joseph, Joseph, o nein, bitte nicht, Joseph, bitte, Joseph“, murmelte sie dabei panisch vor sich hin. Neben ihr rutschten von ihren Schritten gelockerte kleine Steine und mehrere Erdbrocken den Abhang hinunter. Kurz bevor der Boden wieder flacher wurde, stolperte sie schließlich über einen von Blättern bedeckten, morschen Baumstumpf, den sie übersehen hatte, fiel zu Boden und rollte die letzten Meter des Abhangs hinunter, bis auch sie neben dem Körper ihres Freundes reglos liegen blieb. Nach wenigen Sekunden stemmte sie ihre Arme mit einem lauten Stöhnen auf den Boden und hievte sich auf die instabilen Beine. Kurze Zeit waren die Bilder, die ihre Augen an ihr Gehirn sendeten, verschwommen und unklar, doch schon bald konnte sie den auf der Seite liegenden Körper von Joseph wahrnehmen. „Joseph!“ Sie legte ihre vom Sturz schmutzigen Hände schützend auf seinen starken Rücken. „Joseph, bitte sag doch was!“ Das Gesicht, die Hände und die Kleidung ihres Freundes waren von feuchter Erde bedeckt, über dem linken Auge war eine kleine Schnittwunde zu sehen, aus der Blut über das schlafend wirkende Gesicht lief. Luna strich über den Kopf ihres besten Freundes, eine Träne der Verzweiflung rollte über ihr Gesicht. „Komm schon, Joseph!“, schrie sie ihn nun zornig an. Langsam und schwer begann sich ein Arm zu bewegen, bis die Hand schließlich an den von einigen Blättern bedeckten Kopf fuhr. „Joseph!“, schrie Luna erleichtert und wischte sich mit dem linken Arm, an dem das Mondmuttermal von Staub bedeckt war, die Träne ab. Angestrengt öffnete Joseph seine braunen Augen und starrte verwirrt an Luna vorbei in den Himmel. „Was ist passiert?“, fragte er vorsichtig und entfernte anschließend mit seinem Ärmel die Erde von den aufgesprungenen Lippen. „Du bist gestolpert und den Abhang hinunter gerutscht. Ich dachte schon –, o Gott, Joseph, ich dachte schon... Ich bin so froh, dass es dir gut geht!“ Luna legte ihre Arme um seinen warmen Körper und drückte ihn vor lauter Freude fest an sich. Ein jämmerlicher Schrei ließ sie ihre Umarmung wieder lockern und ihm tief in die Augen schauen. „Dir geht es doch gut, oder?“, fragte sie ängstlich. Sehr vorsichtig setzte sich Joseph auf, immer wieder stöhnte er dabei schmerzvoll und atmete dann mehrmals flach ein. „Ich glaube, ich habe mir einige Rippen geprellt“, sagte er mit zusammengezogenen Augenbrauen und legte seine Hand auf den Brustkorb. „Und mein Bein tut fürchterlich weh.“ Erst jetzt fiel Lunas Blick auf Josephs rechtes Bein. Auf seinem Oberschenkel sah sie eine tiefe, stark blutende Wunde . „Dein Bein!“, rief Luna entsetzt. „Ich muss mich an einem Stein geschnitten haben!“, sagte Joseph unter Schmerzen und riss das Loch in der Hose über der klaffenden Wunde noch weiter auf. Der Schnitt war so groß wie eine Handfläche und ging sehr tief ins Fleisch. Rundherum und auch innerhalb der Wunde war alles voller Erde, und dunkelrotes Blut lief das Bein hinunter. „Wir müssen die Blutung stoppen!“ Luna versuchte sich an ihre Verletzung am rechten Oberarm zu erinnern, die sie sich mit ungefähr sieben Jahren zugezogen hatte, als sie über einen Zaun klettern wollte und hängenblieb. Mrs Newton hatte ihr ein Küchentuch fest um den Arm gewickelt, und kurze Zeit später hörte er auf zu bluten. Luna nahm eilig ihren blauen Pullover aus dem Rucksack. „Das wird jetzt weh tun“, sagte sie mitleidig und drückte den Pullover direkt in die schrecklich aussehende Wunde. Gequält schrie Joseph auf, sodass seine Stimme durch den Wald hallte. „Ich werde die Ärmel fest herumwickeln, damit der Pullover auf die Verletzung drückt“, erklärte Luna leise. Joseph entfuhr ein weiterer, erbärmlicher Schrei. „Entschuldige bitte, aber das muss fest sein!“, jammerte Luna und zog den Knoten noch fester. Dann nahm sie Josephs Rucksack von seinem Rücken und holte eine Wasserflasche heraus. „Gib mir deine Hände“, sagte sie, und Joseph hielt seine zu einer Schüssel geformten Hände vor ihre Nase. Mit dem bisschen Wasser, das Luna hineingeschüttet hatte, wusch er sein Gesicht und spülte anschließend den erdigen Mund aus. „Wir müssen die Wunde reinigen, sonst entzündet sie sich.“ Mit besorgtem Gesichtsausdruck starrte Luna Josephs rechtes Bein an. Die Blutung wirkte schon etwas weniger dramatisch, dennoch schaute der tiefe Schnitt unter dem Pullover alles andere als gut aus. Vorsichtig lockerte sie ihren improvisierten Verband wieder und legte eine Hand darunter. Joseph verzog schmerzerfüllt sein Gesicht. „Ich werde das restliche Wasser über die Wunde gießen, damit die Erde hinausgeschwemmt wird“, sagte sie und tat es sogleich. Zitternd saß Joseph da und stützte seinen Kopf in seine Hände, sodass die schwarzen Haare darüber fielen. „Wir brauchen etwas gegen Schmerzen! Und vorbeugend etwas gegen eine Entzündung. Wenn die Wunde anfängt zu eitern, dann...“ Luna sprach nicht weiter. Angestrengt überlegte sie, ob etwas aus dem langjährigen Unterricht von Mr Malvis in dieser Situation hilfreich sein konnte, doch ihr fiel nichts Brauchbares ein. „Das Buch!“, rief sie schließlich und zerrte es aus ihrem Rucksack. 'Hilf dir selbst - 50 Tipps, um in der Wildnis zu überleben' stand auf dem dunkelgrünen Deckel des Buches. In der Hoffnung, etwas Hilfreiches zu finden, blätterte Luna das Inhaltsverzeichnis durch. „Ulmen, Unfälle, Ungeziefer, Unkraut... Verletzungen!“ Schnell schlug sie die passende Seite auf und las laut daraus vor: „Die Natur hält eine breite Palette von Heilpflanzen bereit, die Entzündungen bei oberflächlichen Verletzungen entgegenwirken können. Manche dieser Heilpflanzen wirken schmerzmildernd, andere wirken antibiotisch. Sollten Sie sich in der Wildnis eine offene Wunde zuziehen, sollten Sie diese erst einmal so gut wie möglich mit sauberem Wasser reinigen. Nach der Erstversorgung können Sie die Blätter der Butterschlinge großflächig auf die Verletzung auflegen. Diese wirken antibiotisch und verhindern die Entstehung einer Entzündung durch Bakterien. Oral eingenommen, wirken die Blüten der Butterschlinge schmerzstillend. Sie können allerdings auch zu Halluzinationen führen.“ Neben der Beschreibung war das Bild einer Blume mit kurzen grünen Stängeln, großen dreieckigen Blättern und langen gelben Blüten, die ein bisschen an kurze Stifte erinnerten, abgebildet. „Butterschlingen wachsen an den Ufern von natürlichen Süßwassergewässern“, stand als Notiz neben der Abbildung. „Süßwasser“, wiederholte Luna nachdenklich. „Der Bach!“ Sie sprang auf und lauschte angestrengt in alle Richtungen. Leise, aber doch eindeutig hörte sie nun das Rauschen eines Gewässers, das sich in einiger Entfernung vom steilen Abhang befinden musste. „Er ist nicht mehr weit!“, rief sie aufgeregt, doch die Begeisterung verflüchtigte sich, als sie ihren besten Freund wie ein Häufchen Elend auf dem Boden sitzen sah, offensichtlich von starken Schmerzen gequält. „Kannst du gehen?“
„Mir wird wohl nichts anderes übrigbleiben. Hier sitzen zu bleiben ist ja wohl keine Option“, sagte er erschöpft. Suchend schaute Luna um sich, bis sie schließlich einen dicken langen Ast entdeckte. Sogleich holte sie ihn und präsentierte ihn Joseph mit den Worten: „Darauf kannst du dich abstützen!“ Mit dem missglückten Versuch zu lächeln griff Joseph nach dem Ast. Luna hängte sich Josephs Rucksack auf ihre Vorderseite und nahm die noch freie Hand ihres verletzten Freundes in ihre. „Auf drei“, sagte sie. „Eins, zwei, drei!“ Joseph drückte das Gewicht seines schlaffen Körpers mit seinem nicht verletzten Bein in die Höhe, legte seinen Arm um Lunas Schulter und machte einen kleinen Schritt vorwärts. Ein peinvolles Stöhnen durchfuhr den stillen Wald. Langsam und mit kleinen Schritten bewegten sie sich in die Richtung des Rauschens vorwärts. Beim Anblick ihres Freundes, der bei jeder Belastung des rechten Beins sein Gesicht verzerrte, schmerzte Lunas Herz elendiglich.
Es kam ihnen vor, als wären sie stundenlang unterwegs gewesen, bis sie endlich den Ursprung des Rauschens ausmachen konnten. Als sie zwischen zwei mit Moos bewachsenen Bäumen hervortraten, bot sich ihnen der Anblick einer sonnendurchfluteten Lichtung, durch deren Mitte ein Bach munter vor sich hin plätscherte. Links und rechts davon wuchsen Gräser wild durcheinander, und feuchte Steine glitzerten im warmen Sonnenlicht. „Ich wusste doch, wir würden ihn finden!“, rief Luna erfreut. Sie kamen dem Bach immer näher, bis sie schließlich direkt daneben, auf einem von Wildblumen bewachsenen Stückchen Wiese, ermattet zu Boden sanken. Luna holte eine Decke aus Josephs Rucksack und legte sie auf den weichen Boden. „Setz dich darauf und deck dich mit der anderen Decke zu, du zitterst ja richtig!“ Joseph tat wie ihm geheißen, während Luna sich auf die Suche nach der Butterschlinge machte. Zum Glück musste sie nicht lange suchen, bis sie eine breite Stelle des Baches fand, um die alles voller gelber Blüten war. Luna verglich das Gewächs zu ihren Füßen nochmals mit der Abbildung im Buch und pflückte einige Pflanzen, nachdem sie sicher war, das richtige Heilkraut gefunden zu haben. Schnell lief sie zurück zum aufgeschlagenen Lager, auf dem ihr Freund blass und in die Decke gewickelt saß. „Leg dein Bein hier drauf“, sagte sie bestimmt und legte ihren eigenen Rucksack auf den Boden. Dann untersuchte sie das erhöhte Bein noch einmal genau. Die Wunde war immer noch dunkelrot und schmutzig. Nochmals versuchte Luna, sie so gut wie möglich mit dem klaren Wasser des Baches zu reinigen. Dann legte sie vorsichtig die Blätter der Butterschlinge auf den Schnitt und wickelte ihren blutigen Pullover als Verband rundherum. „Iss die Blüten, sie helfen gegen die Schmerzen“, erklärte sie und reichte Joseph eine Handvoll gelber Blütenblätter, der sie, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken, in den Mund steckte und darauf herumkaute.
Es dauerte nur wenige Minuten, bis Luna die Wirkung der gesammelten Kräuter bemerkte. Joseph wirkte ruhiger und schläfrig, seine müden Augen fielen immer wieder zu. Dennoch zitterte sein mitgenommener Körper, und Luna hatte die Befürchtung, dass er Fieber bekommen hatte. Der Tag neigte sich dem Ende zu, der Bach floss rauschend an ihnen vorbei, und der Wald um sie herum wurde unheimlicher. Bald schon würde die Sonne ganz verschwunden sein. So nahe am Wasser wurde es immer kühler, und Luna beschloss, ein Feuer zu machen, an dem sich Joseph wärmen konnte. Froh darüber, dass ihr Freund so gut mitgedacht hatte, zog sie das mitgebrachte Feuerzeug aus dem Rucksack und machte sich auf die Suche nach trockenen Ästen. Dafür musste sie sich immer weiter vom Bach entfernen und tiefer in den Wald, aus dem sie gekommen waren, zurückkehren. Immer wieder beugte sie ihren erschöpften Körper zu Boden, um Äste in allen Größen für das Feuer aufzuheben. Um sie herum raschelten die Baumkronen, und der Ruf eines Kauzes war zu hören. Plötzlich, als sie bereits beide Hände voller Äste hatte, hörte Luna einen beunruhigenden Schrei aus der Nähe des Baches. „Wer bist du? Geh weg! Luna!“ Es war die panische Stimme von Joseph. Sofort rannte Luna los und verlor auf dem Weg einige der gesammelten Holzstücke. „Luna!“, schrie Joseph wieder. Luna beschleunigte ihre Schritte. Mit lautem Krachen platzte sie zwischen zwei Büschen hervor und näherte sich Joseph, der immer noch mit weit aufgerissenen Augen auf der Decke saß und sein Messer in die Luft hielt. Er starrte in den Wald hinein, aus dem sie gerade gekommen war. Schnell ließ Luna die Äste und das Feuerzeug neben der Decke fallen und warf sich auf die Knie. „Was ist los? Was ist passiert?“, fragte sie atemlos in die schreckgeweiteten braunen Augen vor ihr. „Da war ein Mann! Er wollte gerade zu mir kommen, als du hergelaufen bist! Ich habe ihn genau gesehen!“ Luna drehte sich zu den hohen Bäumen und kniff die Augen zusammen. Wie sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte in der einbrechenden Dunkelheit niemanden erkennen. Besorgt legte sie eine Hand auf die schweißnasse Stirn ihres Freundes. „Du hast Fieber, Joseph. Vielleicht hast du dir den Mann nur eingebildet!“
„Nein! Ich habe ihn mit meinen eigenen Augen gesehen! Er hatte schwarze fettige Haare, war klein und trug einen schwarzen Umhang!“
„Leg dich wieder hin, Joseph. Ruh dich aus. Ich werde wach bleiben und aufpassen“, sagte sie beruhigend. Immer noch aufgeregt, aber folgsam legte sich Joseph hin und starrte in den immer noch dunkler werdenden Himmel. Luna begann, die Äste richtig zu drapieren und sie anschließend mit dem Feuerzeug anzuzünden. Nachdenklich stocherte sie im Feuer herum. Hatte Joseph tatsächlich jemanden gesehen? Nein, bestimmt nicht. Das liegt mit Sicherheit am Fieber und an den Blüten der Butterschlingen. Kann zu Halluzinationen führen, stand im Buch. Außerdem hatte Joseph schon die ganze Zeit über das unbegründete Gefühl, dass ihnen jemand folgen würde. Die Butterschlingen haben seiner Fantasie wohl einen Streich gespielt, beschloss Luna.
Um sie herum war inzwischen tiefste Nacht angebrochen. Luna hörte Joseph, der neben dem Feuer fest in die Decke gewickelt lag, ruhig atmen, sie legte immer wieder Holz nach und beobachtete den Mond, den sie nun, von der Lichtung des Waldes aus, viel besser sehen konnte. Sein sanftes Licht wirkte vertraut und beruhigend und ließ sie unbewusst über ihr Mondmuttermal streichen. In Gedanken versunken reflektierte sie den heutigen Tag und Josephs beängstigenden Sturz in die Tiefe. Ich hätte es sein sollen! Ich hätte den Abhang hinunter rutschen sollen!, dachte sie. „Komm allein.“ Immer wieder hallten die Worte der Stimme durch ihren Kopf. Der bohrende Schmerz unter Lunas linker Schulter, den sie nun schon seit Beginn der Reise empfand, war von ihrem Sturz noch schlimmer geworden, als er nach der ersten Nacht im Wald, in der sie offensichtlich genau auf einem Stein geschlafen hatte, sowieso schon war. Vorsichtig drehte sie ihren Oberkörper und versuchte, sich der schmerzenden Stelle entgegen zu dehnen. Neben ihr gab Joseph winselnde Laute von sich und drehte sich langsam in der Decke. Mit besorgtem Blick legte Luna eine Hand auf seine schweißnasse und glühende Stirn und seufzte. Diese Nacht würde sie kein Auge zumachen.