Читать книгу Vollmondnacht - Nina Johanna - Страница 24

Оглавление

Mit kleinen, vorsichtigen Schritten tasteten sich die beiden durch die Dunkelheit voran. Der Wasservorhang hinter ihnen hatte sich wieder geschlossen, und Joseph, immer noch unfähig, Worte zu formulieren, hielt sich an Lunas Rucksack fest, um sie nicht zu verlieren. „Wir hätten die Taschenlampe herausnehmen sollen“, flüsterte Luna. Ihre Stimme hallte durch das Nichts, das sie umgab, als würde sie sich in einer großen, steinernen Halle befinden. „Autsch! Pass auf, wo du hin steigst!“, fauchte sie nun und versuchte, den Weg mit ihren Händen zu ertasten. Weder links noch rechts befand sich eine Wand, an der sie entlang laufen und sich festhalten hätten können. Es fühlte sich an, als wären sie von einem Schwarzen Loch verschluckt worden. „Entschuldigung“, flüsterte Joseph kleinlaut, ließ ihren Rucksack los und humpelte hinter Luna durch die Dunkelheit. „Siehst du hier irgendwo Licht?“, wollte Luna wissen, doch es blieb keine Zeit für eine Antwort. Plötzlich verlor Luna den Boden unter einem ihrer Füße, trat ins Nichts, und ehe sie sich wieder fangen konnte, rutschte ihr Körper mit großer Geschwindigkeit in die Tiefe. Luna schrie panisch und wusste nicht, wie ihr geschah, um sie herum war es immer noch stockfinster. Hektisch fuhren ihre Arme durch die Luft, um einen Felsvorsprung, einen Ast oder irgendetwas anderes zum Festhalten zu finden, doch ihre Hände konnten nichts greifen. Nun konnte sie auch den überraschten Schrei einige Meter hinter ihr wahrnehmen und vermutete, dass Joseph auch an die falsche Stelle getreten war und hinter ihr steil bergab rutschte. Nach mehreren Sekunden verstummte das Geschrei schließlich, und Luna blieb still, mit geschlossenen Augen, auf dem flachen kalten Boden liegen. Stechende Schmerzen durchfuhren ihren ganzen Körper, den Kopf, mit dem sie auf dem Boden aufgeschlagen war, die Schulter, die vorher schon geschmerzt hatte, und den Brustkorb, der sich nur langsam und sehr mühsam hob und senkte. Unerwartet knallte eine schwere Masse gegen ihren Rücken und schob sie noch einige Meter weiter. Unfähig, die Augen zu öffnen, und voller Schmerzen lag sie nun da. Joseph, der zu schnell unterwegs gewesen war, um ihr auszuweichen, stand mit zitternden Beinen auf, zog seinen Rucksack fester und humpelte schnell zu seiner Freundin. „Entschuldigung, Luna, ich konnte nicht bremsen oder ausweichen! Geht es dir gut? Tut dir etwas weh?“ Er lehnte sich über ihren Körper und strich eine der braunen Locken aus ihrem Gesicht. „Luna? Komm schon, steh auf! Was war das? Was ist das für ein Ort? Das ist ja...“ Seine Stimme verstummte schlagartig, und er erhob sich langsam. Mühsam öffnete Luna ihre blauen Augen, die sich wegen der unerwarteten Helligkeit gleich wieder schlossen. Ein lautes Stöhnen entwich ihrem Mund, während sie sich langsam auf ihre Arme stemmte und auf ihre wackeligen Beine stellte. Als sie ihren Freund sah, der sich mit vor Staunen weit geöffnetem Mund und in die Höhe gerichtetem Blick um sich selbst drehte, lenkte auch sie ihre Aufmerksamkeit auf den Ort, an dem sie sich befand.

Sie standen mitten in einem sehr hohen und zur Decke hin spitz zulaufenden Raum mit Mauern aus hellem Sandstein. Die hohe Decke war von hängenden Grünpflanzen bewachsen. Kühles Licht erhellte den Raum, und an einer Wand floss leise plätschernd ein schmales Bächlein von der Decke Richtung Boden und in einer kleinen Rille auf Brusthöhe den Raum entlang. Luna verfolgte das Wasser fasziniert mit ihrem Blick, bis es schließlich durch den hohen, offenen Durchgang den Raum verließ. „Wo sind wir hier? Was ist das für ein Ort?“, fragte sie verwundert und schaute in die verwirrten Augen ihres Freundes. „Mein Traum hat mich wirklich hierher geführt! Die Stimme wollte, dass ich diesen Ort finde!“ Die Freude über den Erfolg ließ Luna ihre Schmerzen vergessen. Strahlend drehte sie sich im Kreis, bis sie schließlich vor Joseph stehenblieb, die Hände in die Hüften stemmte und ihn herausfordernd anschaute. „Na, was sagst du jetzt?“ Gerade, als dieser antworten wollte, hörten sie sich nähernde, schallende Schritte. Joseph packte Luna beunruhigt an den Schultern, zog sie zu sich und legte einen Arm schützend vor sie. Im Durchgang erschien ein ernst dreinschauender, kleiner Mann mit blasser Haut und schwarzen, fettigen Haaren, durch die an beiden Seiten abstehende Ohren hindurch blitzten. Da er ein Bein mühsam nachziehen musste, war der Gang des Mannes sehr unrund und langsam. Seine Haltung war durch einen kleinen Buckel leicht vornübergebeugt. Schlagartig blieb der Mann stehen und schaute zuerst Joseph und dann Luna unfreundlich in die Augen. Josephs Griff um Lunas Arm verfestigte sich. Eine Zeit lang standen sie sich schweigend gegenüber, bis sich schließlich die schmalen Lippen des Unbekannten bewegten. „Tusana del Selene erwartet Sie bereits“, sagte er mit langsamer, tiefer Stimme, drehte sich um und verließ den Raum ohne ein weiteres Wort. Luna starrte Joseph überrascht an und machte kurz darauf Anstalten, dem seltsamen Mann zu folgen, doch ihr Freund hielt sie zurück. „Was hast du vor? Du willst dem doch nicht folgen! Luna! Das ist der Mann, den ich im Wald gesehen habe! Er hat uns bis hierher verfolgt!“, flüsterte Joseph aufgeregt in das Ohr seiner Freundin. Luna zog die Augenbrauen zusammen und schüttelte zaghaft den Kopf, als könnte sie nicht glauben, was sie gerade gehört hatte. „Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache! Wir müssen hier so schnell wie möglich weg!“, fauchte Joseph und schaute sich nach einem Fluchtweg um. Unerwartet schob sich das Gesicht des Mannes mit den fettigen Haaren nochmals durch den Eingang. „Beeilen Sie sich“, sagte er emotionslos und verschwand sogleich wieder. Neugierig und ohne weiter darüber nachzudenken, setzte sich Luna in Bewegung und folgte den Schritten des Mannes. Als sie den hohen Raum verließ, schaute sie staunend auf beide Seiten des anschließenden langen Zimmers. Links und rechts befanden sich mehrere helle Säulen, die mit wilden Wellenformen verziert waren und bis in den Himmel zu reichen schienen. Die Decke lief wieder spitz zusammen, und auf den Wänden waren seltsame Zeichen zu sehen, von denen Luna vermutete, dass sie Schriftzeichen waren. Mit schnellen Schritten holte Joseph seine Freundin ein und griff unsanft nach ihrem Oberarm. „Was machst du?“, fragte er, doch Luna ignorierte ihn. Nach mehreren Metern verließen sie den langen Raum und betraten eine riesige Halle, deren Sandsteinwände von grünen, hängenden Pflanzen teilweise bedeckt waren. In der Mitte der Halle fiel plätscherndes Wasser wie ein kleiner Wasserfall von der Decke hinunter und wurde schließlich in einem runden Teich aufgefangen. Rundherum befanden sich mehrere weiße Wendeltreppen, deren Enden unterschiedlich weit in die Höhe ragten und bei Felsvorsprüngen aufhörten. Einige in Weiß gekleidete Personen, allesamt mit abrasierten Haaren und gesenkten Köpfen, gingen die Wendeltreppen hinauf und hinunter, ohne Luna und Joseph auch nur eines Blickes zu würdigen oder gar mit ihnen zu sprechen. „Folgen Sie mir“, sagte der unbekannte Mann und begann, eine der Treppen zu besteigen. Bei jedem Schritt knallte sein verkrüppeltes Bein gegen die Stufen, doch er verzog sein Gesicht kein bisschen. Luna betrat die prunkvoll verzierte Treppe, deren Handlauf mit Efeu bewachsen war, und setzte einen Fuß vor den anderen, bis sie sich schließlich in schwindelerregenden Höhen wiederfand. Von oben konnte Luna nun erkennen, dass der Boden der großen Halle aus hellem Marmor bestand und dunkle Mosaike unterschiedliche Sternbilder darstellten. Hinter ihr stolperte Joseph mit seinem verletzten Bein fluchend die Stufen hinauf, wich mühsam einer der weißgekleideten Personen aus und versuchte, seinen Blick nicht in die Tiefe zu richten. Als sie schließlich das Ende der Wendeltreppe erreicht hatten, betraten sie einen verwinkelten Raum mit vielen breiten und schlankeren Säulen. Luna schaute sich ungläubig um und entdeckte ein riesiges Loch in der Decke, durch das der Mond leuchtete und so dem Raum kühles Licht spendete. Genau unter dem Loch befand sich ein mit klarem Wasser befülltes Becken aus hellem Stein. In der einen Ecke des Raums standen dicke Hocker und ein großer schwerer Tisch aus demselben Stein, aus dem auch das Becken gemacht zu sein schien. „Nehmen Sie Platz. Tusana del Selene wird Sie gleich empfangen“, sagte der Mann unbeeindruckt und verschwand hinter einer der breiten Säulen. Luna ging zu einem Hocker, setzte sich folgsam darauf und ließ ihren Blick nochmals durch den Raum schweifen. Die Stimmung war unheimlich und mystisch, aber gleichzeitig auch aufregend und spannungsgeladen. Joseph ging nervös neben dem Tisch auf und ab und murmelte etwas wie: „Wir dürften nicht hier sein! Das kommt mir alles sehr komisch vor!“ vor sich hin. Bald schon war das Herannahen von Schritten zu hören, und Luna sprang aufgeregt auf und starrte in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Joseph blieb wie angewurzelt stehen und umklammerte die Riemen seines Rucksacks.

Vollmondnacht

Подняться наверх