Читать книгу Vollmondnacht - Nina Johanna - Страница 7

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Ganz allein saß Luna auf dem mit roten Ziegeln bedeckten Dach des Waisenhauses, das sie bereits die letzten zwölf Jahre ihres Lebens ihr Zuhause nannte. Der Vollmond leuchtete hell vom schwarzen Nachthimmel. Ringsherum strahlten Millionen kleine Sterne durch die klare Nacht. Lunas lange braune Haare glänzten im Mondschein, und ihre blauen Augen fixierten den Zeichenblock, der leer und weiß auf ihren Knien lag. In den Räumen unter ihr machten sich die anderen Jugendlichen des Waisenhauses gerade fürs Bett fertig. Immer wieder drangen das Gelächter der Mädchen und das Poltern zugeworfener Türen durch die offenstehenden Fenster zu ihr auf das Dach. Lange Zeit war sie nun schon in diesem Haus, dessen Steine und Ziegel von den kalten Wintern und den heißen Sommern mitgenommen und brüchig wirkten. Auch das Innere des Waisenhauses war alt und abgewohnt, und in den Schlafräumen im zweiten Stock war nur sehr beengt Platz für die sechzehn Jugendlichen, die darin wohnten, acht Buben und acht Mädchen. Dennoch war es durchaus heimelig, und Luna fühlte sich sehr wohl. Sie kannte alle Angestellten: Mrs Morman, die sich um die Erziehung der Jugendlichen kümmerte, Mr Brook, den Koch, seine Küchenhilfe Mrs Newton und den strengen Mr Malvis, der als Hauslehrer arbeitete, schon seit sie ein kleines Mädchen war. Eine warme Brise wehte durch die rauschenden Baumkronen des umliegenden Waldes und durch Lunas Haar. Nachdenklich rollte sie den Kohlestift durch ihre schlanken Finger und legte ihre Stirn in Falten. Schließlich fiel ihr Blick auf ihren linken Unterarm. Dort, direkt unter der Handfläche, betrachtete sie ihr Muttermal. Es war kein normales Muttermal, das man bei jedem anderen Menschen hätte finden können. Es wirkte fast wie aufgezeichnet, als hätte es jemand absichtlich dort platziert. Luna strich mehrmals mit dem rechten Daumen darüber. „Mondsichel“, murmelte sie vor sich hin und begann den Kohlestift mit schnellen Schwüngen über das Zeichenpapier zu bewegen. So lange sie denken konnte, trug sie dieses Muttermal, das die Form eines Halbmondes hatte, bereits auf der hellen Haut ihres Unterarms. Erst vor wenigen Monaten hatte sie vom Hauslehrer Mr Malvis gelernt, dass Luna in anderen Sprachen „Mond“ bedeutete. Oft schon hatte sie darüber nachgedacht, ob dieses Muttermal die Entscheidung ihrer Eltern beeinflusst hatte, sie Luna zu nennen. Angestrengt versuchte sie sich an die Gesichter ihrer Eltern zu erinnern, doch wie sehr sie sich auch bemühte, sie konnte sie nicht ins Gedächtnis rufen. Mit nur vier Jahren verlor Luna ihre Mutter Cassandra und ihren Vater Oliver bei einem tragischen Brand, der ihr Haus mitsamt allen Fotos, Briefen und Büchern vernichtet hatte. Luna seufzte und legte eine braune Locke hinter ihr Ohr. Mit dem Finger, der von der Kohle in kürzester Zeit rabenschwarz gefärbt wurde, strich sie nun über die gekonnt platzierten Linien auf dem Papier, sodass die Striche verwischt wurden. Wie gern hätte sie ihre Eltern kennengelernt, wie gern hätte sie ein normales Leben geführt. Das Leben im Waisenhaus, das sich „In liebenden Händen“ nannte, war nicht schlecht: Sie hatte Freunde, die sich um sie sorgten, bekam dreimal am Tag etwas zu essen und durfte sogar die Schule besuchen. Dennoch konnte es nicht die fehlende Liebe der viel zu früh verstorbenen Eltern ersetzen.

Das Quietschen der alten Feuertreppe, über die sie aufs Dach gekommen war, riss Luna aus ihren Gedanken. „Hallo?“, rief sie in die Nacht hinein. Sie hörte, wie jemand Schritt für Schritt die Leiter hinaufstieg, bis schließlich die schwarzen Haare und freundlichen braunen Augen ihres besten Freundes über der Kante des Daches erschienen. „Habe ich mir doch gedacht, dass ich dich hier finde“, sagte Joseph mit einem schiefen Lächeln und balancierte über das Dach auf Luna zu. Luna beobachtete ihn mit einem Grinsen im Gesicht. „So früh habe ich dich hier aber nicht erwartet“, sagte sie spöttisch und legte ihren Zeichenblock zur Seite. Lachend ließ sich Joseph neben ihr nieder, streckte die Arme in die Luft und verschränkte sie anschließend vor seiner Brust. Luna beobachtete ihn von der Seite. Seine kinnlangen, schwarzen Haare rahmten sein Gesicht perfekt ein, die vertrauten braunen Augen strahlten, und auf seinen geschwungenen Lippen lag ein charmantes, schiefes Lächeln. Sie konnte gut nachvollziehen, warum ihn die anderen Mädchen sehr attraktiv fanden, doch sie selbst empfand nichts anderes als langjährige enge Freundschaft für ihn. „Ich hatte auch nicht vor, so früh hier zu sein“, sagte er schließlich. „Doch nachdem Roberta Eggmore nicht allein, nicht mit einer, sondern mit zwei Freundinnen beim ausgemachten Treffpunkt erschien, war mir klar, dass der heutige Abend schnell gelaufen sein wird.“ Verständnislos, aber belustigt schaute Luna in die braunen Augen ihres besten Freundes. „Agneta Prick und Sandy Johnson.“

„Oh!“, seufzte Luna und zog wissend die Augenbrauen hoch. „Dann war dein Rendezvous mit Roberta wohl eine höchst interessante Mischung aus Lästereien, armseligen Versuchen, im Mittelpunkt zu stehen, und schrillem Gelächter!“ Joseph lachte herzlich. „Als wärst du dabei gewesen! Aber es war kein Rendezvous. Ich habe Roberta versprochen, ihr beim Lernen für die nächste Mathematikprüfung zu helfen. Ein hoffnungsloser Fall, wenn du mich fragst. Aber du weißt, um die Wissenschaft unverstanden zu lassen, liebe ich sie viel zu sehr!“ Joseph legte sich auf den Rücken und starrte den strahlenden Vollmond über ihnen hypnotisierend an. „Ich verstehe“, sagte Luna schnell und legte sich ebenfalls auf den Rücken. Josephs Wissen über physikalische, mathematische und technische Dinge faszinierte sie schon immer. Dennoch versuchte sie, solche Themen zu umgehen, da Joseph wegen seiner unendlichen Hingabe und Begeisterung kaum mehr zu stoppen war, sobald er angefangen hatte, darüber zu sprechen. Luna musste an ein Gespräch im letzten Sommer denken, bei dem Joseph ihr und der Küchenhilfe Mrs Newton stundenlang erklärt hatte, welche neuen Fortschritte in der Quantenphysik gemacht wurden. Die etwas dickliche Mrs Newton war die einzige Angestellte im Waisenhaus, die Luna wirklich leiden konnte. Oft schlich sie sich in die Küche, um ihr beim Schälen von Gemüse und anderen Vorbereitungen zu helfen. Bei dem Gedanken an Mrs Newtons verwirrtes Gesicht, als sie Josephs Erläuterungen angestrengt lauschte, musste Luna leise lachen. „Darf ich auch mitlachen?“, fragte Joseph und legte sich auf seine Seite. Mit einer Hand nahm er Lunas Zeichenblock und studierte das Werk eine Zeit lang konzentriert. Ohne den Blick vom Block zu nehmen, sagte er langsam: „Hattest du schon wieder diesen Traum?“ Luna starrte in die Nacht. Stille. Es war nur der Ruf einer Eule aus den hohen Bäumen des Waldes zu hören. Ruckartig setzte sich Joseph auf. „Hattest du schon wieder diesen Traum?“, fragte er wieder, nachdem er beim ersten Mal keine Antwort bekommen hatte. „Ja“, sagte Luna langsam und fing an, über ihr Muttermal in der Form eines Halbmonds zu streichen. „Ich habe dir doch gesagt, du sollst es mir sofort sagen, wenn du wieder davon träumst“, sagte Joseph ruhig, aber bestimmt. Luna setzte sich auf und starrte Joseph direkt in die braunen Augen. „Muss ich dir jetzt jedes Mal davon erzählen, wenn ich einen Albtraum habe? Vielleicht auch noch, wenn ich mir das nächste Mal die kleine Zehe am Bett anstoße oder mit den Haaren in der Jacke hängen bleibe?“, fragte sie forsch, setzte sich auf und drehte sich wieder Richtung Wald, der im Schein des Vollmondes beängstigend lebendig wirkte. Sie hasste es, wenn ihr jemand sagte, was sie tun sollte. Natürlich war ihr klar, dass die meisten ihre Reaktion für übertrieben halten würden, aber sie konnte nicht anders. Auch ihr bester Freund wusste, dass sie nicht anders konnte, als dickköpfig zu sein. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, stand er auf, drückte ihr den Zeichenblock in die Hände und sagte: „Na komm schon, du sturer Esel, ab ins Bett! Bevor die alte Mrs Morman wieder schimpfen muss!“

Schweigend kletterten die beiden die Feuertreppe hinunter. Luna beobachtete Joseph genau, wie er schwungvoll ein Bein unter das andere setzte. Sie war unheimlich froh, ihn als besten Freund zu haben. Die Jahre, die sie allein im Waisenhaus verbracht hatte, waren unvorstellbar einsam und düster gewesen. Erst als sie neun Jahre alt war, kam der zehnjährige Joseph Morrison ins Waisenhaus. Luna konnte sich noch sehr gut an den Tag erinnern, an dem sie Joseph das erste Mal sah. Schon damals war er sehr gutaussehend, und Luna bewunderte ihn für seine Gelassenheit und seine Vernunft. Nie ließ er sich anmerken, dass sein Grund, im Waisenhaus zu sein, vermutlich noch viel schmerzlicher war als der von allen anderen Kindern, deren Eltern gestorben waren. Josephs Eltern waren beide am Leben und sehr angesehene Größen in der Wissenschaft. Für ihren Sohn hatten sie nie viel Zeit, da sie Tag und Nacht arbeiteten. Als Joseph neun Jahre alt war, ließen sich seine Eltern scheiden und fanden bald darauf neue Partner, um neue Familien zu gründen. Keiner wollte Joseph zu sich nehmen, weswegen er mit zehn Jahren ins Waisenhaus kam. Luna schluckte. Sie war die Einzige, die diese Geschichte kannte. Den anderen Buben hatte Joseph immer erzählt, seine Eltern wären bei einem tragischen Autounfall gestorben. Sie konnte nicht verstehen, wie man Joseph nicht ins Herz schließen konnte. Niemand, den sie kannte, war so vertrauensvoll und liebenswert wie ihr bester Freund. Seit Josephs Ankunft im Waisenhaus waren die beiden unzertrennlich. Fast jeden Tag trafen sie sich in ihrem Versteck auf dem Dach, um über die anderen Jugendlichen, die alte Mrs Morman und alle möglichen anderen Dinge zu reden. Luna wusste, dass Josephs Freundschaft der Grund war, warum sie die letzten sieben Jahre ihres Lebens glücklich gewesen war. Ihre Gedanken an die schöne, gemeinsame Vergangenheit wurden schnell von Zukunftsängsten verdrängt. Joseph war nun 17 Jahre alt, ein Jahr älter als Luna, und würde in nur einem Jahr das Waisenhaus verlassen müssen. Was würde aus ihm werden? Würden sie sich wiedersehen, nachdem Luna ein Jahr ohne ihn im Waisenhaus geblieben wäre? Luna verzog das Gesicht bei dem Gedanken an das bestimmt einsame Jahr. Sie hatten schon oft darüber gesprochen, dass Joseph auf dem Bauernhof im Dorf arbeiten würde, bis Luna und ihre Freundin Daisy auch 18 Jahre alt wären und ebenfalls das Waisenhaus verlassen dürften. Dann würden sie zu dritt in die Großstadt reisen und dort in einer Schule arbeiten. Joseph als Mathematik- oder Physiklehrer, Luna als Zeichenlehrerin und Daisy als Literatur- oder Geschichtslehrerin. Mehrmals hatten sie bei der Vorstellung an ihre Zukunft herzlich gelacht, doch Luna wusste, dass die Wahrscheinlichkeit, dass es auch tatsächlich so passierte, mehr als gering war.

Ungesehen schlüpften Joseph und Luna durch das offenstehende Fenster in das kleine Lernzimmer des Waisenhauses, das voller alter, schon zu oft gelesener Büchern war. Joseph schloss das Fenster hinter sich. „Pssst!“, zischte Luna und öffnete leise die spröde Holztür, die das Lernzimmer mit dem Flur verband. Sie durften nicht schon wieder dabei erwischt werden, auf dem Dach gewesen zu sein. Schon beim letzten Mal drohte die alte Mrs Morman damit, das Fenster zur Feuertreppe zunageln zu lassen, wenn sie Joseph und Luna nochmal am Dach erwischte. Nachdem die Luft rein war, schlichen die beiden den Flur entlang. Die alten Holzdielen knarrten und krächzten bei jedem Schritt jämmerlich. Erst, als sie bei zwei gegenüberliegenden Türen ankamen, blieben die beiden Freunde stehen. „Gute Nacht, Luna! Träum was Schönes“, flüsterte Joseph mit einem vielsagenden Blick. Luna starrte genervt zurück. „Und lass mir Roberta, Agneta und Sandy lieb grüßen!“, ergänzte er mit einem Zwinkern. „Sag ihnen, es war ein ganz reizender Abend, und ich kann es kaum erwarten, ihn zu wiederholen!“ Er beendete die Verabschiedung mit einer übertrieben tiefen Verbeugung. Luna musste lachen und hielt sich schnell die Hand vor den Mund, um Mrs Morman nicht aus ihrer Kammer zu locken. „Wünsch dir das nicht!“, sagte sie und kniff ihren besten Freund fest, aber liebevoll in die Wange. „Gute Nacht!“, flüsterten beide und betraten die gegenüberliegenden Zimmer. Joseph verschwand im Schlafraum der Buben und Luna im Schlafraum der Mädchen.

Im Mädchenschlafraum brannte noch Licht, als Luna sich durch die Tür schob. Einige der Mädchen waren in eine hitzige Diskussion über die kulinarischen Tiefpunkte des Waisenhauses vertieft. „Also der Kartoffelbrei gestern war eindeutig das Schlimmste bis jetzt!“, jammerte Sandy und machte ein Gesicht, als würde jemand ihre Katze abstechen. „Ich bin froh, wenn wir Kartoffeln bekommen und nicht wieder irgendeinen Fleischersatz!“, sagte Margret und verdrehte die Augen so sehr, dass man die Pupillen nicht mehr sehen konnte. „Was meinst du damit?“, fragte Roberta. „Na ja, ich bin mir ziemlich sicher, dass das, was sie uns als Fleisch verkaufen, eine Mischung aus Knochen und anderen Essensresten ist! Schau es dir doch einmal genau an! Ich glaube, dieses sogenannte Fleisch hat mit einem toten Tier so viel zu tun wie ich mit der italienischen Oper!“, war die Antwort. Sandy, Roberta und Sophie kicherten laut, während sich Luna an den Mädchen vorbei schlängelte und auf ihr Bett setzte. Es war eines von vier Stockbetten, die in einem viel zu kleinen Raum gedrängt nebeneinander standen. Die Möbel waren alt und abgewohnt, vor den zwei kleinen Fenstern hingen löchrige, wild gemusterte Vorhänge, und jeder Fleck des Zimmers war von Wäsche, Büchern oder anderen Dingen der acht Mädchen besetzt. Luna schlief in dem unteren Bett direkt vor dem Fenster. Dieses Privileg hatte sie, da sie eines der Mädchen war, das schon die längste Zeit im Waisenhaus verbracht hatte. Margret fing nach einem lauten Räuspern an, ihre armseligen Fähigkeiten als Opernsängerin darzubieten, was die anderen Mädchen wahnsinnig unterhaltsam fanden. Nur Luna saß ruhig auf dem unordentlichen Bett und betrachtete ihre Zeichnung, als sich Daisy aus dem oberen Stockbett plötzlich hinunter beugte und Luna zuflüsterte: „Soll ich unserer Madame Butterfly den Mund zukleben?“

Die wilden roten Locken fielen Daisy ins Gesicht und verdeckten die Sommersprossen, die über das freundliche Gesicht verteilt waren. „Gar keine schlechte Idee! Ich glaube, eine eiskalte Dusche würde auch helfen“, lachte Luna. Daisy war Lunas beste Freundin. Sie war nicht wie die anderen Mädchen, die sich von Oberflächlichkeiten ablenken ließen. Daisy lag am liebsten auf ihrem Bett oder an ihrem Lieblingsplatz unter der Eiche im Garten und las Bücher, in denen es um spannende Abenteuer oder tragische Liebesromanzen ging. Mit schweren Schritten stampfte Daisy nun die kurze Leiter des Stockbettes hinunter und ließ sich neben Luna aufs Bett fallen. Sie hatte bereits ihren Schlafanzug an, der ihr an vielen Stellen um einiges zu eng und voll mit kleinen Löchern war. „Hast du wieder gezeichnet? Zeig es mir!“, sagte sie fröhlich und zog Luna sogleich den Zeichenblock aus der Hand. „Hey, Lavendish!“, sagte eines der Mädchen mit ganz kurzen, schwarzen Haaren. Überrascht hob Luna den Blick von der Zeichnung. „Warst du wieder mit Joseph unterwegs?“, wollte Cindy wissen. „Ich wüsste nicht, was dich das angeht“, antwortete Luna mit hochgezogenen Augenbrauen. „Oh ja, Joseph! Was läuft da eigentlich zwischen euch? Ich finde ihn ja sehr intellektuell!“, sagte Roberta mit glühendem Blick, als würde sie Anerkennung für die Verwendung eines solchen Wortes erwarten. „Ich glaube, er mag mich auch! Mach dir also nicht zu große Hoffnungen, Luna!“ Ihre Wangen waren leicht gerötet. Luna versuchte angestrengt, ihr Lachen zu verkneifen, doch es war ihr unmöglich. Gerade, als sie mit großer Genugtuung anfangen wollte, von Josephs Meinung über die anderen Mädchen zu erzählen, wurde die Tür zum Schlafraum mit Schwung geöffnet. Mrs Morman, deren Dutt so straff frisiert war wie eh und je und deren dunkelgrauer Rock bis über die Knöchel reichte, betrat mit strengem Blick den Raum. „Zehn Uhr, Licht aus!“, sagte sie in ihrer schrillen Stimme, die ein bisschen an eine Trillerpfeife erinnerte. Mit Stöhnen und Seufzen untermalt, machten sich alle Mädchen auf den Weg zu den eigenen Betten. „Miss Lavendish! Die Tür zum Lernzimmer war schon wieder geöffnet! Wenn ich herausfinde, dass Sie und Mr Morrison schon wieder auf dem Dach waren, dann streiche ich Ihnen das Abendbrot für die nächsten zwei Wochen!“, fauchte Mrs Morman. Die Falten um ihren Mund wirkten noch tiefer als sonst, und ihre Augen funkelten über die Ränder ihrer schmalen Brille. Luna bemerkte Robertas bösen Blick und konnte nicht anders, als aufgesetzt unschuldig zurück zu lächeln. Hastig drehte Mrs Morman das Licht ab und schloss die Tür hinter sich. Auf dem Flur war das immer leiser werdende Klicken ihrer Absätze zu hören. „Na dann, gute Nacht!“, flüsterte Daisy, legte den Zeichenblock auf Lunas Bett und machte sich auf den Weg in das obere Stockwerk des Bettes. „Und solltest du in der Nacht Hilfe brauchen, ich meine, solltest du wieder schlecht träumen, bitte wecke mich einfach auf! Wirklich!“, sagte sie leise durch die Sprossen der Leiter. Luna schaute sie mit entsetztem Blick an. „Aber woher…?“ „Glaubst du, ich merke nicht, wenn das ganze Bett wackelt, weil du dich panisch hin und her wälzt? Glaubst du, ich höre dich nicht im Schlaf sprechen? Von deinen Eltern! Von einem Wasserfall!“ Sie zeigte auf die Zeichnung auf Lunas Bett. „Wie auch immer, wenn du was brauchst.. Du weißt, wo du mich findest!“

Ertappt und peinlich berührt schob sich Luna unter ihre Decke. Unbewusst fing sie an, über ihr Muttermal zu streichen, als das helle Licht des Vollmondes durch das Fenster direkt in ihr Gesicht schien. Waren ihre Träume so offensichtlich? Was konnte sie dagegen tun? Sie träumte nun schon seit vier Wochen jede Nacht den gleichen Traum. Leise nahm sie ihren Zeichenblock zur Hand und hielt ihn in das Licht des Mondes. Dort war er, mit gekonnten Strichen gezeichnet, der Wasserfall, der von einem großen Felsen in einen kleinen See fiel, umgeben von hohen Bäumen mit dicken Stämmen. Im Hintergrund hatte Luna einen Halbmond gezeichnet, der genauso aussah wie ihr Muttermal. Was war das für ein Ort? Wieso träumte sie jede Nacht davon? Nachdenklich legte Luna ihren Zeichenblock unter ihr Bett. Um sie herum war das ruhige Atmen der anderen Mädchen zu hören, und ihr Bett wackelte und knarrte leicht, als sich Daisy umdrehte. Lange Zeit lag Luna wach, beobachtete den Vollmond durch das schmutzige Fenster, dachte an ihre Eltern und an den immer wiederkehrenden Traum, bis sie schließlich in einen unruhigen Schlaf fiel.

*

Da war er wieder. Der Weg, den sie in den letzten Wochen schon so oft gegangen war. Steinig und von Wurzeln durchwachsen. Hohe Bäume mit groben, von Moos bedeckten Rinden standen links und rechts davon. Luna drehte ihren Kopf und schaute in den tiefen, dunklen Wald, der sie umgab. „Geh weiter.“ Sie begann zu laufen. Sie kannte den Weg. Geradeaus, dann rechts die leichte Steigung hinauf, bis sie bei der Gabelung ankam. Ihre Schritte waren schnell und schwerelos, als würde sie am Boden auf keinen Widerstand stoßen. Sie hörte das Rauschen der Blätter im Wind und ihren Atem, der vom Laufen schnell und kurz geworden war. „Geh weiter.“ Links oder rechts? Sie musste nicht darüber nachdenken. Sie kannte den Weg. So viele Nächte war sie ihn bereits gegangen. Ihre Füße trugen sie mit schnellen Schritten den Waldweg entlang. Mit jedem Schritt wurde er steiler. Sie lief immer weiter, immer höher hinauf. Der Weg war nun so schmal, dass man die Füße genau voreinander setzen musste, um nicht den steilen Abhang hinunter zu fallen. „Geh weiter.“ Die Stimme in ihrem Kopf sprach ruhig und langsam. Jedes Mal, wenn sie sie hörte, schoss ein Funken Glück und Aufregung durch ihren Körper. „Jetzt.“ Sie rutschte mit dem linken Fuß ab und rollte mehrere Meter den steilen Abhang hinunter. Steine, Baumstämme und Äste lagen im Weg, doch das machte ihr nichts aus. Ihr Körper glitt einfach darüber hinweg. Sie spürte keine Schmerzen. Sie fühlte sich lebendig. Stille. Regungslos blieb ihr Körper am Ende des Abhangs liegen „Steh auf.“ Ihre Arme stemmten sich in den Boden, ihr Körper fuhr in die Luft. „Folge dem Rauschen.“ Sie wusste, sie musste sehr lange unterwegs gewesen sein, doch es kam ihr vor wie wenige Sekunden. Mit leichten Schritten näherte sie sich dem immer lauter werdenden Rauschen. Der Bach. „Folge dem Rauschen.“ Mit Leichtigkeit lief sie den Bach entlang, bis seine beruhigenden Geräusche schließlich zu ohrenbetäubendem Lärm wurden. „Spring.“ Sie war an einer Kante angekommen, hinter der es mehrere Meter in die Tiefe ging. Der vorher so ruhige Bach fiel laut wie Donner und weiß schäumend in den starren See. „Spring.“ Luna sprang. Der Fall kam ihr endlos vor. Licht. Alles um sie war plötzlich weiß. Doch dann stand sie da, die Füße im kalten Wasser, vor ihr der leblose See und der steile Felsen, von dem der Bach brausend hinunter krachte. „Wasserfall“, murmelte Luna. Wie weißes Haar fiel das Wasser die steinigen, schwarzen Felsen hinunter. Plötzlich wurde es finster. Von einer Sekunde auf die andere war Nacht. Der Wasserfall brauste laut, der See lag wie tot vor Lunas Füßen. Ihr Blick fiel auf den hellleuchtenden Halbmond, der direkt über dem Wasserfall stand. Ein kläglicher Schrei durchbrach die Stille der Nacht. Luna legte die Hände über ihre Lippen, durch die der Schrei entflohen war. Schmerzen. Luna spürte Schmerzen. Ihr Körper fiel schwer zu Boden, und ein weiterer Schrei entwich ihren Lippen. Wie ein sterbendes Tier wand sich Lunas Körper im Mondlicht. Unter ihr stachen spitze Steine in ihren Rücken. Stille. Sie lag da wie gelähmt. Unfähig, den Mund zu öffnen, die Augen zu schließen, ihre Brust zum Atmen zu heben. Das Rauschen des Wasserfalls war verstummt. „Atme“, sagte die Stimme in ihrem Kopf, und ein Schwall Luft stieß aus Lunas Mund. Ihr Brustkorb begann sich zu bewegen. Laut und schwer krachte ihre Lunge.

„Lass mich dir helfen. Komm zu mir. All dein Leid und deine Sorgen. Ich kann dir helfen. Ich habe Antworten für dich. Ich weiß über deine Eltern Bescheid. Komm zu mir! Allein! Du kennst den Weg! Laufe bis zum Wasserfall. Erklimme die feuchten, moosigen Felsen. Schau hinter den Vorhang. Trau dich in die Dunkelheit! Komm zu mir! Du kennst den Weg!“ Dann war die Stimme verschwunden. Der Wasserfall begann wieder zu rauschen, der Wind wehte durch die Baumkronen. Im kleinen See waren Geräusche von Kröten zu hören. Luna drückte die Hände gegen ihren schweren und pulsierenden Kopf. Die Stimme war so schön und beruhigend. Sie wollte nicht, dass sie aufhörte. Nie wieder wollte sie sich bewegen oder woanders hingehen, so lange die liebliche Stimme nicht zu ihr sprach.

„Sprich zu mir!“, schrie Luna in den Wald. „Sprich zu mir!“

*

„Luna, wach auf!“, hörte sie Daisys Stimme von Weitem schallen. Hektisch riss Luna ihre Augen auf. Die braunen Haare klebten an ihrem vor Schweiß nassen Gesicht, und ihre Hände umklammerten verkrampft ein Ende der Decke. Ihre Augen brauchten lange, um das sommersprossige Gesicht vor ihrer Nase scharfstellen zu können. „Was ist passiert?“, fragte Luna atemlos. Ihr Mund war trocken, als hätte sie schon seit Ewigkeiten keine Flüssigkeit mehr zu sich genommen. „Du hast schon wieder geträumt, oder?“ Luna starrte sie schweigend an. Ihr Kopf schmerzte. Noch immer hallte die Stimme in ihren Gedanken. „Komm zu mir.“

„Du Arme! Du bist ja ganz durcheinander! Luna, es war nur ein Traum. Ich glaube, ich bleibe lieber bei dir“, flüsterte Daisy, schob Luna sanft Richtung Fenster und schlüpfte unter ihre Decke. „Mach dir keine Sorgen, ich pass auf dich auf! Ich kenne mich mit solchen Dingen aus!“ Liebevoll nahm sie Lunas Hand in ihre eigene. „Ich habe auch oft Albträume, weißt du? Aber ich kenne einen…“

„Psssst! Halt endlich deinen Mund, Daisy! Andere wollen schlafen!“, fauchte eines der Mädchen in die Dunkelheit. Daisy klopfte wissend auf Lunas Hand. „Versuch, noch mal einzuschlafen!“ Gähnend streckte sie sich und bewegte sich mehrmals hin und her, bis sie schließlich eine bequeme Position gefunden hatte. Nach nur wenigen Minuten hörte Luna Daisy neben sich tief atmen, doch sie selbst starrte in die Nacht. „Komm zu mir.“ Oft schon hatte sie darüber nachgedacht, dass sie es seltsam finden müsste, eine Stimme zu hören und jede Nacht den gleichen Traum zu träumen. Auch Joseph hatte es mehr als beunruhigend gefunden, als sie ihm einmal davon erzählt hatte, doch Luna fühlte sich sicher und geborgen, sobald die Stimme in ihren Gedanken sprach. Sie war wie eine Droge, die ihr ein Gefühl von Schwerelosigkeit und Lebendigkeit gab. Die Stimme hatte Antworten. Luna kannte den Weg. Sie musste vorbei an dem Gästehaus, in dem sie im Sommer kurze Zeit als Aushilfe gearbeitet hatte, vorbei an dem alten Bauernhaus, bei dem Joseph und sie letzten Winter Schneeschippen geholfen hatten, und den Waldweg entlang bis zu der Weggabelung, die sie bei einem Schulausflug schon einmal gesehen hatte, und dann immer weiter ins Ungewisse. Wie lange würde sie bis zum Wasserfall brauchen? Woher kam die Stimme in ihrem Kopf? „Komm zu mir.“ Wusste die Stimme etwas über ihre Vergangenheit? Vielleicht sogar über ihre Eltern? „Komm zu mir. Allein!“ Luna musste es einfach herausfinden. Sie wollte Antworten auf die Fragen, die sie sich nun schon so lange stellte, finden. Sie wollte den Wasserfall finden, den sie nun schon so oft gesehen hatte. Zitternd hob sie ihre Hand zu den Augen und betrachtete das Muttermal. „Trau dich in die Dunkelheit.“ Luna musste es tun! Sie hatte keine andere Wahl! Morgen würde sie losgehen und dem vertrauten Weg folgen. In ihren Ohren hörte sie noch immer das aggressive Rauschen des Wasserfalls. „Komm zu mir.“ Luna starrte den Vollmond an, der durch das schmutzige Fenster in ihr Gesicht leuchtete. Neben ihr lag ihre rothaarige Freundin, die leise Atemgeräusche von sich gab und immer noch Lunas Hand hielt. Morgen würde sie sich auf den Weg machen.

Vollmondnacht

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