Читать книгу Vollmondnacht - Nina Johanna - Страница 19

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Der nächste Tag ihrer Reise verlief wie der vorherige. Luna wechselte den Verband um die etwas besser aussehende Wunde, die beiden Jugendlichen aßen ihren letzten Proviant auf und gingen mit langsamen Schritten weiter den Fluss entlang. Um Joseph von seinen Schmerzen abzulenken, erzählte Luna lustige Geschichten über die Mädchen aus dem Waisenhaus. „Weißt du noch, als Sophie letztes Frühjahr die Hühner der Bäuerin zusammentreiben wollte, ausrutschte und direkt auf die eingesammelten Eier fiel?“ Joseph lachte laut, als würde er sich dieses Bild gerade wieder ins Gedächtnis rufen. „Die Bäuerin verscheuchte sie fluchend vom Hof und lief ihren Hühnern lieber allein nach!“ Auch Luna grinste breit bei dem Gedanken an dieses Ereignis. Es ließ sie die Sehnsucht nach der Stimme, die sie nun schon zwei Tage lang nicht mehr gehört hatte, vergessen. Auch letzte Nacht hatte Luna kein Auge zugetan und war komischerweise dennoch kein bisschen erschöpft oder müde. Die Energie sprudelte aus ihr, und sie dachte nicht daran, sich auszuruhen. Vorsichtig wanderten sie über die wild wuchernden Grasflächen neben dem Fluss und kletterten immer wieder über größere Gesteinsbrocken. Die Strömung des immer breiter werdenden Baches nahm an Geschwindigkeit zu und krachte an ihnen vorbei. Joseph humpelte tapfer neben seiner ihn stützenden Freundin her und steuerte ebenfalls lustige Geschichten über die anderen Jugendlichen im Waisenhaus bei. Luna lachte immer wieder, machte sich aber insgeheim große Sorgen darüber, wie lange sie noch unterwegs sein würden, dass der Proviant aufgegessen war und sie nicht wusste, wie lange Josephs Bein ohne professionelle Behandlung noch durchhalten würde. Nachdem die beiden Freunde einige Zeit gegangen waren, setzte sich Joseph auf die Decke, um sich etwas auszuruhen. Durstig schüttete er das kalte Wasser des Baches aus seiner Trinkflasche in den Rachen und lagerte das pulsierende Bein hoch. „Ruh dich aus, Joseph! Ich werde mich hier ein bisschen umschauen!“, sagte Luna und spazierte etwas tiefer in den Wald hinein. Die Luft kam ihr feuchter vor als zuvor, und die Stämme der Bäume waren dunkler, als sie sie in Erinnerung hatte. Gerade, als sie mit ihrem Fuß einen kleinen Felsbrocken wegkicken wollte, entdeckte sie ein schwarzes Stück Stoff, das etwa so lang wie ein Unterarm war und schmutzig in der Erde lag. Neugierig hob sie es hoch, begutachtete es von allen Seiten und steckte es, nachdem sie es für brauchbar befunden hatte, in die Hosentasche. Mit langsamen Schritten tastete sich Luna immer weiter vor. Der Wald roch modrig nach fauligem Holz. Doch plötzlich erfasste ihre Nase einen bekannten Geruch. Wie ein Hund streckte sie sie in die Höhe, um den Ursprung des Duftes ausfindig machen zu können. Mit schnellen Schritten folgte sie dem süßen Duft, bis sie schließlich vor einem dornigen Busch zum Stehen kam. „Himbeeren!“, rief sie begeistert und machte sich sofort daran, die köstlichen roten Früchte in ihrem etwas hinauf gezogenen Shirt zu sammeln. Vorsichtig, um keine Beere zu verlieren, kam sie kurze Zeit später zurück zum Bach. Als Joseph sie auf sich zukommen sah, schaute er sie entsetzt an. „Was ist mit dir passiert?“, fragte er laut. „Ich habe Himbeeren gefunden!“, rief Luna fröhlich und klappte ihr rot gefärbtes Oberteil nach unten, sodass Joseph einen Blick auf ihre Ausbeute werfen konnte. Erleichtert entspannten sich Josephs Gesichtszüge, er begann zu lachen. „Himbeeren! Ich dachte, dich hat ein Tier attackiert, und du verblutest mir gerade!“ Luna grinste breit. „Ich wasche die Himbeeren im Bach, dann können wir sie ohne Sorge essen.“ Luna wusch nicht nur die Himbeeren, sondern auch den gefundenen Stofffetzen, so lang, bis er rein war, und legte ihn anschließend zum Trocknen auf einen Stein. Dann setzte sie sich neben Joseph auf die Decke und reichte ihm einige Beeren. Gerade, als sie sich eine der saftigen Beeren in den Mund stecken wollte, schlug ihr Joseph auf die Hand, sodass alle Beeren auf die Decke fielen. „Was soll das?“, fragte Luna überrascht und sammelte die Beeren wieder ein. „Nicht essen! Das sind keine Himbeeren! Schau sie dir genau an! Auf den ersten Blick wirken sie wie Himbeeren, doch wenn man sie genau anschaut, sieht man, dass es keine sind! Schau mal!“ Er zeigte auf kleine gelbe Kügelchen, die sich zwischen den roten Kernen der Beere versteckten. Luna hob sie nahe an ihr Gesicht, um sie genau betrachten zu können. „Ich weiß nicht, was das für eine Beere ist! Aber ich würde nicht riskieren, sie zu essen!“, warnte Joseph und warf seine Beeren in hohem Bogen in den Fluss. Luna kramte im Rucksack nach dem Buch, das ihr auch den Tipp mit der Butterschlinge gegeben hatte, und fand sogleich ein ausführliches Kapitel über Früchte im Wald. Sie blätterte die Seiten durch und sah viele Bilder von Pilzen, Kräutern und schließlich Beeren. „Das ist sie!“ Joseph zeigte auf das Bild einer Beere mit gelben Kügelchen darauf. „Die Wildbeere ähnelt bis auf einige gelbe Flecken äußerlich der allseits bekannten Himbeere. Der Verzehr der Frucht ist für Tiere ungefährlich, für Menschen allerdings nicht. Die Beere löst starkes Fieber und Übelkeit aus und kann bei ausgiebigem Verzehr, sollte man nicht rechtzeitig professionelle Hilfe bekommen, zum Tod führen. Lassen Sie sich nicht vom süßen Duft verleiten!“, las Luna laut vor. Joseph schüttelte den Kopf. „Das hätte uns noch gefehlt!“

Luna steckte das schnell getrocknete Stück Stoff vorsichtig in den Rucksack, und sie gingen noch einige Zeit weiter, bis sie sich schließlich kurz vor Einbruch der Dunkelheit ein Plätzchen für die Nacht suchten. Luna wechselte nochmals die Blätter der Butterschlinge auf Josephs Bein und wickelte das schwarze Stoffstück fest herum. „Woher hast du das denn?“, fragte Joseph überrascht und beobachtete Luna, die gekonnt den Verband zuknotete. „Das habe ich vorher in der Nähe von den Himbeeren im Wald gefunden!“

„Sieht aus, als wäre es von einem Schal oder einem Umhang.“ Joseph grübelte und schaute in die Ferne. „Wie auch immer, wir können es auf jeden Fall gut gebrauchen! So, fertig!“ Joseph nahm das frisch verbundene Bein vom Rucksack und legte sich erschöpft hin. „Wie lange werden wir noch unterwegs sein, was glaubst du?“, fragte er müde. „Nicht mehr lange. Ich glaube, wir sind schon sehr bald da. Die Stimme sagt mir, wir müssen nicht mehr weit gehen“, log Luna, die die Stimme aufgrund ihrer schlaflosen Nächte schon lange nicht mehr gehört hatte. „Hoffentlich hat die Stimme recht“, murmelte Joseph, dessen Haare wild durcheinander lagen, und schlief kurz darauf ein. Die Sonne verschwand langsam hinter den Bäumen, und Luna ging ein Stückchen weiter flussabwärts, entledigte sich ihres Gewandes und setzte sich in den Bach, der vom langen Sonnentag noch angenehm aufgewärmt war. Wohlig wusch sie Gesicht, Körper und Haare, so gut es ging, und drückte das Blut aus dem Pullover, der bis vor Kurzem als Verband gedient hatte. Eine Zeit lang saß Luna nackt im Fluss und beobachtete, wie die Sonne dem Mond Platz machte. Das Licht des Mondes ließ ihre angestrengten Muskeln entspannen, sodass ihr Körper kribbelte und bald mit Gänsehaut bedeckt war. Um Luna herum war es still, nur das ruhige Fließen des Baches und das Quaken von Kröten durchbrach die Stille. Gedankenverloren hielt Luna ihren linken Arm neben den Mond und verglich diesen mit ihrem Muttermal. Der Mond ihres Muttermals wirkte ein kleines bisschen schmaler als der am Himmelszelt, ansonsten war allerdings kein Unterschied zu erkennen. Mehrmals strich Luna mit ihren sauber gewaschenen Händen darüber und betrachtete es genau. Nachdem sie einige Zeit ruhig dagesessen hatte, verließ Luna den Bach, schlüpfte in ihre von der Reise schmutzige Kleidung und setzte sich auf die Decke. Leichter Wind, der ihre Haare langsam trocknete, wehte um sie. Der neben ihr liegende Körper ihres besten Freundes zitterte und drückte sich noch weiter in die Decke. Dem braunhaarigen Mädchen mit den tiefblauen Augen war allerdings nicht kalt. Es atmete die frische Nachtluft mit tiefen Atemzügen ein. Es fühlte sich so lebendig wie schon lange nicht mehr.

Vollmondnacht

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