Читать книгу Vollmondnacht - Nina Johanna - Страница 17

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Kurz nach Sonnenaufgang setzte sich Joseph abrupt auf und schaute verwirrt um sich. „Wo bin ich? Was ist passiert?“, nuschelte er undeutlich und zog die Decke schwungvoll zu Seite, um sein offenbar immer noch schmerzendes Bein zu betrachten. Lunas weitschweifige Erklärung dauerte nicht lange, weil Joseph wieder einfiel, was passiert war, und er sich kopfschüttelnd durch die schwarzen Haare fuhr. „Eine große Hilfe bin ich dir! Da komm ich mit, um auf dich aufzupassen, und schaffe es nicht einmal, auf mich selbst zu achten!“, jammerte er und begann, die Blätter der Butterschlinge von seiner Verletzung zu entfernen. Eine teilweise stark nässende Wunde kam zum Vorschein, die von getrocknetem Blut umgeben war. Luna betrachtete sie genau und war entsetzt, dass man immer noch so tief ins Fleisch hineinsehen konnte. „Das muss genäht werden“, sagte Joseph trocken. „Wir müssen umkehren und dich verarzten lassen“, flüsterte Luna und versuchte, die Enttäuschung in ihrer Stimme zu verstecken. „Umkehren? Den ganzen Weg wieder zurück gehen? Das schaffe ich mit meinem Bein nicht“, antwortete Joseph nach wenigen Sekunden gedankenverloren. „Aber was sollen wir sonst tun? Hierbleiben und abwarten können wir nicht! Die Wunde muss versorgt werden!“ Luna zeigte auf das verletzte Bein. „Nein, das können wir wirklich nicht.“ Joseph grübelte angestrengt, sodass seine Stirn faltig wurde. „Wir müssen weitergehen. Wir müssen weitergehen und den Wasserfall finden!“ Luna schaute ihn an, als hätte er den Verstand verloren. Eine dicke Haarsträhne fiel ihr ins Gesicht. „Ist doch ganz klar! Wir sind schon so weit gekommen! Der Weg zum Wasserfall ist bestimmt kürzer als der zum Dorf. Wir werden den Grund unserer Reise erreichen und erst dort überlegen, wie es weitergeht.“

„Aber dein Bein“, stotterte Luna, immer noch verblüfft über seine Aussage. „Wir müssen zwar langsam gehen, und du musst mich stützen, aber wir suchen weiter nach dem Wasserfall und finden deine Antworten!“ Nachdem er Lunas verwirrten Gesichtsausdruck sah, fügte er hinzu: „Was soll schon passieren? Schlimmstenfalls verliere ich mein Bein! Was soll's!“ Beim Blick in Lunas aufgerissene Augen lachte er laut und klopfte ihr herzlich auf den Oberarm. „Das war nur ein Scherz! Das wird schon! Mach mir einfach noch so einen Verband mit deinen Butterblümchen oder wie die heißen, und dann gehen wir langsam los.“ Luna betrachtete ihren Freund einige Sekunden lang genau. Seine Augen wirkten klarer, er schwitzte nicht mehr, und außerdem hatte er seinen Humor wiedergefunden. Alles in allem sah er schon viel gesünder aus als gestern Abend. Wenn doch bloß das Bein nicht wäre! „Komm schon, vertrau mir“, flüsterte Joseph und nahm Lunas Hand in seine. „Mach dir keine Sorgen!“ Sie seufzte, reichte ihm die Wasserflasche, einen Apfel und ein ganzes Brot und machte sich auf die Suche nach weiteren Butterschlingen, um die Wunde zu verbinden. Ein Stückchen weiter den Bach hinunter fand sie gleich mehrere Pflanzen und pflückte so viele, wie sie in beiden Händen tragen konnte. Als sie zurück zum Lager kam, war Joseph gerade mit dem Frühstück fertig und dabei, sitzend die Decken zusammen zu legen. Luna legte eine dicke Schicht der gesammelten Blätter auf sein Bein und band den Pullover fest herum. „Au!“, rief Joseph und schaute sie mit gespielt bösem Blick an. „Heb die Blüten von dieser Wunderpflanze sicherheitshalber auf, die Wirkung gestern war mehr als überzeugend!“ Er zwinkerte, steckte beide Decken in seinen Rucksack und schulterte diesen. „Bereit?“, fragte Luna. „Bereit, wenn du es bist!“, antwortete Joseph. Auf drei stellte er sich auf sein gesundes Bein, legte den einen Arm um Lunas Schulter und stützte sich mit dem anderen auf den dicken Ast. Luna wusste, dass er versuchte, seinen Schmerz zu verstecken, um die Sorge seiner Freundin nicht noch größer werden zu lassen, was ihm allerdings nicht immer gelang. Ab und zu bissen seine Zähne fest aufeinander, und er atmete schwer, entspannte aber gleich darauf wieder sein Gesicht, als wäre nichts gewesen.

Sehr langsam und mit mühsam kleinen Schritten folgten sie der Strömung des Baches. Viele kleine und größere Steine erschwerten das Vorankommen, und sie mussten mehrere Verschnaufpausen einlegen. Luna war über die Tapferkeit ihres Freundes erstaunt, der unermüdlich ein Bein vor das andere setzte und sich seine starken Schmerzen kaum anmerken ließ. Josephs Gewicht ruhte auf Lunas sowieso schon mitgenommener Schulter, sodass sie immer wieder zur Lockerung ihren Arm kreisen lassen musste. Obwohl sie die ganze Nacht nicht geschlafen hatte, fühlte sie sich dennoch ausgeruht und voller Energie. Das Gefühl, dass sie ihrem Ziel immer näher kam, und die Vorfreude darauf kribbelten in ihren Körperzellen. Als sich der Tag dem Ende zu neigte, Josephs Stirn mit kleinen Schweißperlen bedeckt war und Lunas Füße schmerzten, beschlossen die beiden, es für heute genug sein zu lassen und ihr Lager für die Nacht aufzuschlagen. Sie suchten sich eine flache Stelle direkt neben einem schmaler werdenden Teil des freundlich rauschenden Baches und breiteten ihre Decke aus. Joseph setzte sich darauf und legte sein verletztes Bein auf den von Luna bereitgelegten Rucksack. Gemeinsam versorgten sie die Wunde mit neuen Blättern der Butterschlinge. „Ich bin wahnsinnig hungrig“, stöhnte Joseph schließlich und ließ seinen Oberkörper auf die Decke fallen. Mit schnellen Handgriffen öffnete Luna Josephs Rucksack und schaute beunruhigt hinein. Es waren nur noch ein Brot, ein Apfel und die Schokolade übrig, den restlichen Proviant hatten sie bereits in den letzten Tagen ihrer Reise aufgegessen. Wie lange werden wir noch unterwegs sein?, dachte Luna besorgt. Da sie ihren sowieso schon belasteten Freund nicht noch mehr beunruhigen wollte, versuchte sie ihre Sorgen zu verstecken und setzte ein freundliches Lächeln auf. „Hier hast du ein Brot!“, sagte sie und reichte Joseph die Hälfte des letzten Brotes. Gierig biss er hinein und gab ein genussvolles Stöhnen von sich. „Selten hat mir ein einfaches Käsebrot so gut geschmeckt wie heute!“, sagte er mit rot gefärbten Wangen. Luna befürchtete, dass er wieder Fieber bekommen hatte. „Was ist mit dir?“, fragte er nun seine Freundin, die mit leeren Händen neben ihm saß. „Ich bin irgendwie gar nicht hungrig“, erwiderte Luna schnell und versuchte, sogleich das Thema zu wechseln. „Ich werde wieder Äste für ein Feuer suchen, damit du in der Nacht nicht frierst!“ Gerade, als sie sich erheben wollte, hielt sie etwas an ihrem Shirt zurück. Schwungvoll drehte sie sich um und blickte in die funkelnden Augen ihres Freundes. „Ich finde, wir haben uns etwas verdient. Eine kleine Belohnung!“, verkündete er geheimnisvoll, zerrte den Rucksack näher zu sich und zog mit einer übertriebenen Handbewegung die Tafel Schokolade heraus. „Tadaaa!“, rief er dabei. Luna lachte. Auf diesen Augenblick hatte sie schon seit dem Beginn ihres Abenteuers gewartet. Beim Gedanken an die braune Köstlichkeit lief ihr das Wasser im Mund zusammen, und sie ließ sich neben Joseph auf die Decke fallen. „Was für eine ausgezeichnete Idee!“

„Habe ich mir doch gedacht, dass eine Naschkatze wie du mit meinem Vorschlag einverstanden sein wird!“, lachte Joseph mit einem charmanten Augenzwinkern. Als wäre es eine eingeübte Zeremonie, brach er die kleine Schokoladentafel in zwei Hälften und reichte eine an Luna weiter, die ihre Haare aus dem Gesicht strich und die süße Köstlichkeit begeistert entgegennahm. Schweigend saßen die beiden nebeneinander und genossen ihre wohlverdiente Belohnung, während es um sie herum immer finsterer und der Wald neben dem Bach immer ruhiger wurde. Luna bemerkte, dass Joseph sehr blass und müde aussah, und sie schlug ihm vor, sich auszuruhen. „Du musst dich aber auch ausruhen“, antwortete er mit kleinen Augen, unter denen sich dunkle Ringe befanden. „Ich mache noch ein Feuer und lege mich dann auch schlafen“, sagte Luna überzeugend und spielte mit einer Haarsträhne. Zufrieden über die Antwort, schloss Joseph seine Augen und schlief bald darauf ein.

Vollmondnacht

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