Читать книгу Vollmondnacht - Nina Johanna - Страница 9
ОглавлениеPünktlich um sieben Uhr wurden die Tür zum Schlafraum schwungvoll von Mrs Morman aufgerissen und das grelle Licht aufgedreht. „Aufstehen, Mädchen! Wir haben einen langen Tag vor uns!“, rief sie lauter, als eigentlich nötig gewesen wäre, und verschwand wieder durch die offene Tür. Luna beobachtete die anderen Mädchen, die sich langsam aus ihren Decken befreiten und mit zerzausten Haaren und kleinen Augen aus den Betten kletterten, um sich zu waschen und anzuziehen. Daisy lag immer noch schnaufend neben ihr, den Mund weit geöffnet und die wilden Haare in alle Richtungen vom Kopf abstehend. Luna grinste beim Anblick ihrer besten Freundin. Vorsichtig rollte sie sich über Daisys Körper und machte sich auf den Weg in den Waschraum. Einige andere Mädchen standen müde vor den Spiegeln, kämmten ihre Haare und putzten die Zähne. Roberta Eggmore verwandelte ihre langen schwarzen Haare gekonnt in einen geflochtenen Zopf. Luna hatte es eilig, die Zähne zu putzen und wieder in den Schlafraum zurückzukehren. Schnell steckte sie ihre Zahnbürste zurück in den Zahnputzbecher und spritze sich ein wenig kaltes Wasser in ihr müdes Gesicht.
Beim Verlassen des Waschraums stieß sie mit der Schulter unabsichtlich gegen die noch sehr verschlafen aussehende Margret. „He, pass doch auf!“
„Entschuldigung“, murmelte Luna und ging schnurstracks auf ihr Bett zu.
Daisy lag nun mit dem Kopf ins Kissen gedrückt in der oberen Etage in ihrem eigenen Bett. „Guten Morgen, Sonnenschein!“, rief Luna und zog sanft an dem Fuß, der über die Bettkante hing. „Mag nicht“, war die kurze Antwort ihrer Freundin. Luna kniete sich auf den Boden und fing an, alle möglichen Dinge, Kisten und Bücher unter ihrem Bett hervor zu ziehen. Nach und nach verließen die Mädchen den Schlafraum, um in der kleinen Halle im unteren Stock das kleine, aber ausreichende Frühstück, das meistens aus Broten mit Marmelade bestand, einzunehmen. Nun stolperte auch Daisy schläfrig an Luna vorbei in den Waschraum. „Konntest du noch ein bisschen schlafen?“, fragte sie, ohne ihre kleinen, müden Augen zu Luna zu drehen. „Ja, ja, ich habe noch sehr gut geschlafen!“, antwortete Luna übertrieben enthusiastisch. Natürlich war das eine Lüge. Keine Sekunde hatte sie ihre Augen geschlossen, um zu schlafen. Luna hatte die ganze Nacht wachgelegen, um einen Plan zu schmieden, wie sie zum Wasserfall kommen könnte. Heute Morgen würde sie nicht zum Frühstück gehen, sondern stattdessen ihren Rucksack für die bevorstehende Reise packen. Den restlichen Tag würde sie ganz normal am Unterricht und an den Aktivitäten teilnehmen, damit niemand Verdacht schöpfte, und am Abend, nachdem Mrs Morman das Licht abgedreht hatte, würde sie sich über die Feuertreppe aus dem Haus schleichen und auf den Weg zum Wasserfall machen. Bis am nächsten Morgen jemand bemerkt hätte, dass sie fehlte, wäre sie schon über alle Berge und nicht mehr einzuholen. Zufrieden über ihren Plan, nickte Luna. Ihr war klar, dass niemand etwas merken durfte, da man sie ansonsten davon abhalten oder es sogar Mrs Morman sagen würde. Luna verzog ihr Gesicht bei dem Gedanken, dass Joseph und Daisy am nächsten Morgen aufwachen und sich große Sorgen machen würden, weil Luna verschwunden war. Mit schnellen Kopfbewegungen schüttelte sie ihre Zweifel beiseite, sodass die langen braunen Locken wild durch die Luft tanzten. Der Plan stand fest! Sie musste es tun. Heute Nacht würde sie der Stimme folgen und den Wasserfall finden.
Motiviert nahm Luna den Rucksack, den sie unter ihrem Bett lagerte, zur Hand und suchte alle Dinge, die sie mitnehmen wollte, aus ihrer Lade im Kasten und der Truhe vor dem Bett zusammen. Hastig stopfte sie die Taschenlampe, eine Landkarte vom letzten Ausflug mit Mr Malvis, einen warmen blauen Pullover und ihre Zeichensachen in den alten braunen Rucksack, als sie hinter sich das Öffnen einer Tür hörte. Ertappt drehte sie sich um und beobachtete Daisy, die gerade aus dem Waschraum kam und versuchte, ihre Haare zu bändigen. „Ich sag’s dir, eines Tages schneide ich sie ab! Ich sehe aus wie ein Wischmopp!“, sagte sie verärgert und ging an Luna vorbei, die immer noch am Boden vor ihrem Rucksack kniete. „Ich wünschte, ich hätte deine Haare! Egal, was du machst, sie fallen immer so, als würde... Gehst du irgendwo hin?“ Ihr Blick ruhte nun auf Lunas Rucksack. „W-was?“, stotterte Luna. „Ach so, der Rucksack. Ja, ich habe mir gedacht, ich besuche wieder einmal die alte Bäuerin vom Bauernhof am Waldesrand. Ich wollte fragen, du weißt schon, ob sie in nächster Zeit meine Hilfe braucht – oder so.“ Luna versuchte, überzeugend zu wirken und Daisys zweifelndem Blick standzuhalten. „Na klar, und um den Weg zum Bauernhof zu finden, brauchst du eine Landkarte!“ Daisy zog nun die alte Karte aus Lunas Rucksack und wedelte damit vor ihrer Nase herum. Eine ihrer Augenbrauen war so weit hochgezogen, dass sie schon fast den roten Haaransatz berührte. In Lunas Kopf ratterte es. Wie konnte sie das erklären? „Da ist ja meine Landkarte!“, rief Luna nach einigen Sekunden etwas zu laut. „Die habe ich schon ewig gesucht! Ich muss sie nach dem letzten Ausflug mit Malvis im Rucksack vergessen haben. Gut, dass du sie gefunden hast!“ Luna sprang auf, riss Daisy die Karte aus der Hand und stopfte sie in die Truhe vor ihrem Bett. Daisy beobachtete sie irritiert. „Wie auch immer. Komm, lass uns frühstücken gehen!“, sagte Daisy und machte sich auf den Weg zur Tür. „Ach, geh du nur. Ich habe keinen Hunger. Eigentlich habe ich sogar leichte Bauchschmerzen. Ich glaube, ich lasse das Frühstück aus und gehe dann erst zum Mittagessen.“ Luna versuchte, gelassen zu lächeln, und legte eine Hand auf den angeblich schmerzenden Bauch. Ihre Freundin drehte sich langsam um. „Ernsthaft?“, fragte sie und wirkte so, als wollte sie lachen. Luna nickte nur und setzte einen leidenden Blick auf. „Ich hoffe, dein seltsames Verhalten hat nichts mit deinem Traum zu tun!“, sagte Daisy herausfordernd und verschränkte die Arme vor der Brust. „Aber nein! Überhaupt nicht! Ich habe die restliche Nacht geschlafen wie ein Baby!“, log Luna. Eine kurze Zeit lang herrschte Stille zwischen den Freundinnen. „Na gut, dann sehe ich dich nach dem Frühstück!“, sagte Daisy schließlich und verließ langsam den Raum. Luna atmete tief durch. Hoffentlich erzählte Daisy niemandem von ihrem seltsamen Verhalten! Wieder schüttelte sie ihre Locken. Daisy würde keinem davon erzählen, und schon gar nicht der alten Mrs Morman. Schnell ging Luna zur Truhe, nahm die zerknüllte Karte heraus und steckte sie wieder in den Rucksack. „Taschenlampe, Pullover, Landkarte…“ Nachdenklich flüsterte Luna ihre Liste vor sich hin. „Das Buch!“, fiel ihr noch ein. Als sie für ihre letzte Biologieprüfung gelernt hatte, entdeckte sie im Lernraum ein ausgeblichenes Buch, das den Titel 'Hilf dir selbst – 50 Tipps, um in der Wildnis zu überleben' trug. Es war ihr in der letzten schlaflosen Nacht, in der sie ihren Plan immer und immer wieder durchging, wieder eingefallen. Kann bestimmt nicht schaden, dachte sie, schob den Rucksack unter ihr Bett und machte sich auf den Weg zum Lernraum.
Aus dem unteren Stockwerk drangen Stimmen und Geklapper von Geschirr nach oben. Luna fragte sich, ob ihre Abwesenheit schon jemandem aufgefallen war. Schnell schlich sie über den Flur und drückte leise die Klinke der Tür zum Lernraum hinunter, um sich sogleich durch den dünnen Spalt zu schieben. Durch das Fenster des Raumes schien die warme Morgensonne, sodass man den Staub der alten Bücher durch die abgestandene Luft tänzeln sehen konnte. Beim Blick auf das Fenster verspürte Luna Aufregung. Durch dieses Fenster würde sie heute Nacht auf die Feuertreppe klettern und das Waisenhaus verlassen, um den Wasserfall zu finden. Das Fenster. Die Feuertreppe. Das Dach. Luna seufzte. Sie dachte an Joseph. Sofort breitete sich das schlechte Gewissen in ihr aus. Joseph würde sich große Sorgen machen, wenn sie plötzlich verschwand! Ein Geräusch vom Flur riss sie aus ihren Gedanken. Die anderen würden bald mit dem Frühstück fertig sein. Sie musste sich beeilen, um nicht gesehen zu werden. Luna schnappte sich einen alten Holzstuhl von einem der Tische und schob ihn vor das Regal, in dem sie das gesuchte Buch vermutete. Schwungvoll stieg sie auf ihn und fuhr mit ihrem Finger die Buchrücken im obersten Regal ab. „Gefahren der Umweltverschmutzung, Geologie für Anfänger“, murmelte Luna vor sich hin. „Giftige Früchte im Wald…, Hilf dir selbst – 50 Tipps, um in der Wildnis zu überleben. Da ist es ja!“ Fröhlich zog sie das Buch mit dem dunkelgrünen Einband und der schwarzen Schrift aus dem Regal. Auf der Vorderseite waren eine Feuerstelle und zwei überkreuzte Messer zu sehen. Mit einem Finger strich Luna über das Bild, sodass er eine tiefe Linie in der dicken Staubschicht hinterließ. Neugierig schlug sie das Buch auf und begann mittendrin zu lesen: Eine der obersten Regeln, an die man sich halten sollte, wenn man überleben möchte, lautet: Iss nichts, was du nicht… KRACH. Mit einem lauten Knall flog die Tür des Lernzimmers auf. Vor Schreck ließ Luna das Buch fallen und krallte sich am Bücherregal fest, um nicht vom wackelnden Stuhl zu fallen. Mit aufgerissenen Augen drehte sie sich Richtung Tür. „So früh schon so sportlich?“, lachte Joseph und spazierte mit einer Hand in der Hosentasche ins Zimmer. „Hallo! Du hast mich vielleicht erschreckt! Solltest du nicht beim Frühstück sein?“, fragte Luna mit vor Schreck rasendem Herzen. „Solltest du nicht beim Frühstück sein?“ Joseph legte seinen Kopf schief. „Oh, nein. Ich hatte heute Morgen leider schreckliche Bauchschmerzen.“
„Zum Bergsteigen waren sie aber nicht zu schlimm“, sagte er, legte eine Hand auf Lunas Stuhl und bückte sich nach dem Buch. Schnell sprang Luna auf den Boden und versuchte, es ihm aus der Hand zu nehmen. Mit einer entspannten Handbewegung wehrte er ihren Versuch problemlos ab. Den Blick auf das Buch gerichtet, schlenderte er zu einem der Tische und lehnte sich dagegen. „Hilf dir selbst – 50 Tipps, um in der Wildnis zu überleben. Interessante Lektüre!“ Er schaute ihr direkt in die Augen. „Versteh mich nicht falsch, sie ist bestimmt sehr lehrreich! Dennoch verstehe ich nicht ganz, wofür du dich auf die Wildnis vorbereiten willst!“ Das Wort „Wildnis“ betonte er mit ironischem Unterton.
„Sei nicht blöd! Ich habe nach einem anderen Buch gesucht, und als du hereingeplatzt bist, habe ich mich so erschrocken, dass zufällig dieses aus dem Regal gefallen ist!“, sagte sie unsicher und starrte auf den Boden. Luna wollte ihrem besten Freund nicht in die Augen blicken. Sie wusste, er würde sie durchschauen. Schnell ging sie auf ihn zu und versuchte erfolglos, das Buch aus seiner Hand zu nehmen. So standen sie kurze Zeit, beide mit einer Hand auf dem Buch, da. „Luna“, sagte er ruhig. Sie hob ihren Blick und schaute ihm direkt in die warmen braunen Augen, die ihr besorgt entgegen funkelten. Sie hatte das Gefühl, dass er Bescheid wusste. „Hat das Ganze vielleicht etwas mit deinem morgendlichen Rucksackpacken zu tun, von dem mir Daisy heute beim Frühstück erzählt hat? Ist dein Traum letzte Nacht der Grund dafür, dass du eine Landkarte brauchst und in der Wildnis überleben willst?“ Er hielt ihr das Buch vor die Nase, legte es anschließend auf den Tisch hinter sich und verschränkte die Arme vor der Brust. Luna wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie wusste, es ergab keinen Sinn, ihn anzulügen. Dafür kannte Joseph sie viel zu gut. Kurze Zeit standen sich die beiden schweigend gegenüber. Aus dem Wald vor dem Fenster klang das Zwitschern von Vögeln in den von der Sonne hell ausgeleuchteten Lernraum. Schließlich fasste sich Luna ein Herz, und ihre Gedanken platzten aus ihr heraus. „Letzte Nacht hatte ich schon wieder diesen Traum vom Wasserfall. Die Stimme hat mich hingeführt! Sie weiß etwas über meine Vergangenheit, Joseph! Ich muss diesen Ort einfach finden! Ich muss herausfinden, woher diese Stimme kommt!“ Luna erzählte ihm alles. Von der Sehnsucht, den Wasserfall zu finden, der Reise dorthin und dem Weg, den sie schon so gut kannte. Von ihrem Plan, heute Nacht aufzubrechen, und von ihren Vorbereitungen. Joseph schaute sie ruhig an. Sein entspannter Gesichtsausdruck war schwer zu deuten. Luna redete mit Händen und Füßen, bis sie schließlich zum Ende kam. „Und deswegen muss ich heute Nacht gehen! Ich muss einfach!“ Sie atmete tief aus und starrte ihn an. Sie wusste nicht, was sie erwartete. Würde er sie auslachen oder anschreien? Vermutlich würde er böse werden und sie für verrückt halten. Doch Josephs Gesicht blieb freundlich, und seine Stimme war ruhig, als er schließlich sagte: „Verstehe ich dich richtig? Eine Stimme in deinem Kopf sagt dir, du sollst zu einem Wasserfall gehen, von dem du weder weißt, ob er wirklich existiert, noch wo genau er sich befindet? Die Stimme im Kopf sagt dir, du sollst kommen, deswegen verschwindest du heute Nacht ganz allein in den Wald?“ Luna zog die Schultern hoch. Sie wusste, er würde das nicht verstehen. Sie wusste, er würde es ihr ausreden wollen. „Aber…“, versuchte Luna einzuwerfen, doch Joseph sprach ruhig weiter. „Ich hoffe, du weißt, was für eine bescheuerte Idee das ist, und dass du dich anhörst wie eine Verrückte?“ Luna funkelte ihn zornig an. „Aber…“, versuchte sie es wieder, dieses Mal etwas lauter. Joseph sprach weiter: „Dir ist doch wohl klar, dass ich nicht zulassen kann, dass du dich aus dem Waisenhaus schleichst und allein durch den Wald irrst, auf der Suche nach einem vielleicht, vielleicht aber auch nicht vorhandenen Wasserfall, von dem dir irgendeine komische, eingebildete Stimme im Kopf erzählt?“ Lunas Kopf wurde nun rot vor Wut. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten. „Wie kannst du nur…“
„Du musst dir doch selbst eingestehen, wie gefährlich und sinnlos diese ganze Geschichte ist! Du kannst doch nicht einfach in den Wald gehen und darauf vertrauen, dass ein seltsamer Traum dir den richtigen Weg zu einem Wasserfall beschrieben hat. Hast du schon einmal von einem Wasserfall in unserer Nähe gehört? Also, ich nicht! Und außerdem, was hat es mit dieser beängstigenden Stimme auf sich? Die einzige Reise, die ich auf mich nehmen würde, würde ich so eine Stimme hören, wäre die zum Psychologen!“
„Ich wusste, du würdest das nicht verstehen! Ich hätte es dir gar nicht erst sagen, sondern einfach verschwinden sollen! Mir ist ganz egal, was du sagst! Ich weiß, dass ich das tun muss, und du wirst mich bestimmt nicht davon abhalten! Du nicht, und auch sonst keiner!“, schrie Luna ihren Freund an.
„Aber du musst doch verstehen, dass ich dich nicht einfach allein irgendwohin reisen lassen kann! Das geht nicht! Das ist viel zu gefährlich!“ Joseph kam einen kleinen Schritt auf sie zu, sodass sie sich sehr nah gegenüberstanden. „Aber…“, begann Luna wieder, doch Joseph unterbrach sie sogleich. „Allein“, sagte er, und sein Mund verzog sich zu einem schiefen Lächeln. „Allein kann ich dich das alles nicht machen lassen! Du findest allein nicht einmal zum nächsten Geschäft im Ort! Wie willst du einen Wasserfall finden, der irgendwo weit entfernt mitten im düsteren Wald liegt? Weißt du, was da für Gefahren lauern? Du könntest dich verletzen oder verhungern oder was weiß ich was! Spring doch lieber gleich vom Dach, da musst du weniger leiden!“ Mit offenem Mund starrte Luna Joseph an. „Also, ich werde mitkommen, ob du willst oder nicht! Glaube mir, ich könnte mir eine schönere Beschäftigung vorstellen, als mit dir durch den Wald zu irren! Aber nachdem du sturer Esel deine Meinung bestimmt nicht ändern wirst, muss ich dich ja wohl begleiten. Ich kenne dich! Würde ich es dir jetzt versuchen auszureden, würdest du einfach an einem anderen Tag verschwinden, ohne dass du mir davon erzählst. Also, du willst heute um 22:30 Uhr gehen? Ich würde sagen, wir warten bis 23 Uhr, damit auch wirklich jeder schläft. Wir treffen uns um 23 Uhr hier! Und vergiss deinen Rucksack nicht“, sagte er mit einem Zwinkern und warf Luna das Buch vom Tisch zu, das sie gerade noch mit beiden Händen fangen konnte. Langsam bewegte er sich zur Tür. „Heute um 23 Uhr! Sei pünktlich! Wir wollen die Stimme in deinem Kopf doch nicht warten lassen!“ Joseph tippte sich belustigt mehrmals mit dem Finger gegen den Kopf, als würde er auf etwas zeigen, und verschwand anschließend durch die Tür. Luna stand wie angewurzelt da. Was war gerade passiert? Mit beiden Händen umklammerte sie das Buch, für das sie vor mehreren Minuten den Lernraum betreten hatte. Joseph würde sie begleiten? Für kurze Zeit breitete sich ein Gefühl von Freude in ihrem Körper aus. Sie musste nicht allein losziehen! Allein. Aber die Stimme im Traum hatte gesagt, sie solle allein kommen. Nachdenklich strich sie über ihr Muttermal. Sie musste allein gehen. Das war ihr Auftrag. Doch wie sollte sie Joseph nun wieder loswerden? Nachdenklich verließ sie den Lernraum, schlich ins leere Zimmer und steckte das Buch in den Rucksack unter dem Bett. Die Kameradinnen mussten schon zur Gartenarbeit aufgebrochen sein. Schnell schlüpfte Luna in ihre alte, schmutzige Jeans und machte sich auf den Weg in den Garten.
Die Sonne strahlte warm auf die Köpfe der Jugendlichen, die unterschiedliche Aufgaben zu erledigen hatten. Luna, Daisy und die kleine Sophie zupften vertrocknete Blätter von den Rosensträuchern. Einige der anderen Mädchen setzten Blumen in allen Farben in das Beet neben dem Eingangstor ein, während die Buben Ziegel und Erde zum Bauen eines Hochbeets hin und her transportierten. Luna beobachtete die anderen Jugendlichen genau, die schwitzend ihre Arbeiten verrichteten. Mit ihren elf Jahren war Sophie die Jüngste im Waisenhaus. Alle anderen waren zwischen zwölf und achtzehn Jahren alt. Luna erinnerte sich daran, was sie einmal unbeabsichtigt mitgehört hatte. Sie war erst acht Jahre alt gewesen, als sie an Mrs Mormans Zimmer vorbeigeschlichen war und ein Gespräch zwischen ihr und Mr Malvis belauscht hatte. „Äußerst beunruhigend, diese vielen Todesfälle in letzter Zeit! Autounfälle, Selbstmorde, Krankheiten! Wo führt das nur hin? Unser Waisenhaus wird in kürzester Zeit vollkommen überfüllt sein!“, hatte sie Mrs Morman sagen gehört. „Da haben Sie vollkommen recht. Die Zeitungen nennen die letzten vier Jahre die „dunklen Jahre“, weil so viele Menschen unerwartet starben!“, hatte der Hauslehrer erwidert. Auch Luna, die zu dem Zeitpunkt schon lange im Waisenhaus gewesen war, hatte beobachtet, dass jede Woche ein neues Kind hinzukam. Schon bald war das Waisenhaus überfüllt, und Mrs Morman konnte niemanden mehr aufnehmen. „Die dunklen Jahre“ wurden immer wieder in Zeitungen beschrieben und auch im Unterricht mit Mr Malvis thematisiert. Bis heute wusste niemand, warum in dieser Zeitspanne von zehn Jahren so viele Leute ums Leben gekommen waren.
„Autsch!“ Luna hatte sich schon wieder an einem Dorn gestochen. Genervt betrachtete sie ihren Finger, aus dem etwas Blut tropfte. Dann fiel ihr Blick auf Joseph, der gerade eine Schubkarre voll Erde an ihr vorbei schob. Als er Lunas Blick bemerkte, blieb er stehen und klopfte mit seinem Finger mehrmals leicht gegen seine Stirn, so, wie er es auch beim Verlassen des Lernraums gemacht hatte. Seine Lippen formten die Worte „die Stimme“, dann zog er mit einem breiten Grinsen weiter. Luna schaute ihm verärgert nach. Als sie sich sicher war, dass er ihren Blick nicht mehr sehen konnte, konnte sie allerdings nicht anders, als selbst zu lächeln. Joseph war immer noch überzeugt davon, Luna zu begleiten. Sie wollte ihn auch in dem Glauben lassen, obwohl sie ihre Pläne bereits geändert hatte. Die Idee kam ihr auf dem Weg zum Komposthaufen, auf dem sie den Kübel mit den Rosenblättern ausgeleert hatte. Hier konnte sie durch die Baumkronen einen kurzen Blick auf die Uhr am Kirchturm des Dorfes erhaschen. Sie würde bereits eine halbe Stunde früher verschwinden, sodass Joseph, wenn er zum ausgemachten Treffpunkt käme, eine Zeit lang auf sie warten würde und anschließend, nachdem sie nicht erschienen wäre, zurück auf sein Zimmer ginge, im Glauben, dass sie tief und fest in ihrem Bett schlafen würde. Die Idee war nicht die ausgeklügeltste, aber immerhin hatte sie einen Plan.
„Die Sonne ist ganz schön heiß!“, schnaufte Daisy und wischte sich mit dem Handrücken über ihre mit Schweißperlen bedeckte Stirn. „Ich glaube, schon bald ist Mittag!“
Zum Mittagessen gab es Sandwiches, die die Jugendlichen im Garten, im Schatten der Eichen, essen durften. Nach der kurzen Mittagspause sammelten sich alle in der kleinen Halle, die ebenfalls als Speisesaal diente, zum Unterricht von Herrn Malvis. Ihr Lehrer war ein kleiner, glatzköpfiger Mann mit einer runden Brille auf seiner Knollennase, und sein ebenfalls rundlicher Körper war immer in zu enge Anzüge gequetscht. Begeistert erzählte er heute von unterschiedlichen Froscharten und später von bekannten literarischen Werken deutscher Dichter. Luna konnte seinen Erzählungen kaum folgen. Als ihr Lehrer inbrünstig ein Gedicht über die Freundschaft zweier Männer zitierte, lauschte Daisy, die neben Luna saß, seinen Erzählungen gebannt und kritzelte immer wieder Notizen auf ihren Zettel. Doch Lunas Blick schweifte immer wieder Richtung Fenster, durch das sie den Wald sehen konnte, ab. Ihre Gedanken kreisten um das Abenteuer, das sie erwartete.
Zum Abendessen gab es Knödel mit Ei. Obwohl dies zu Lunas Leibgerichten gehörte, hatte sie heute wenig Appetit. Ungeduldig stocherte sie auf ihrem Teller herum und versuchte den Blick zu Joseph am Nebentisch zu vermeiden. Neben ihr schaufelte sich Daisy eine Gabel nach der anderen in den Mund. „Diese Arbeit hat mich ganz schön hungrig gemacht! Isst du das nicht mehr?“, fragte sie Luna. Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr ihre Gabel auf den Teller ihrer besten Freundin. Still schüttelte Luna den Kopf. Nach einiger Zeit war es endlich so weit. Mrs Morman las den morgigen Plan vor, gab einigen Jugendlichen Anweisungen, was sie nicht oder eben schon tun sollten, und wünschte allen Anwesenden eine gute Nacht. Sofort, nachdem der letzte Satz ausgesprochen war, sprang Luna auf und machte sich auf den Weg in den zweiten Stock. Beim Verlassen des Speisesaals hatte sie kurz Blickkontakt mit Joseph, der ihr entschlossen zunickte. Beschämt senkte Luna den Blick und eilte nervös in ihr Zimmer. Sie nahm eine kurze Dusche, putzte sich die Zähne und frisierte ihre braun gelockten Haare. Während die anderen Mädchen anfingen, sich langsam die Schlafanzüge anzuziehen, lag Luna bereits fertig im Bett. Die Kleidung, die sie auf der Reise anziehen wollte, lag vorbereitet neben dem Rucksack unter dem Bett. Noch einmal ging sie ihre Liste im Kopf durch: Landkarte, Taschenlampe, Buch, Zeichensachen... Als Daisy schließlich in den Waschraum verschwand, nutzte Luna die Zeit, um Papier und einen Stift aus ihrer Truhe vor dem Bett zu holen. Ich kann nicht verschwinden, ohne Daisy eine Nachricht zu hinterlassen!, dachte sie. Kurze Zeit starrte Luna das leere Blatt Papier an. Was sollte sie schreiben? Schließlich fing sie an, einige Worte auf den Zettel zu kritzeln.
Liebe Daisy,
es tut mir sehr leid, dass ich einfach verschwunden bin! Bitte verzeihe mir, dass ich dir nichts erzählt habe! Ich werde zum Wasserfall gehen und herausfinden, was meine Träume zu bedeuten haben. Mach dir keine Sorgen um mich! Ich weiß nicht, wie lange die Reise dauern wird, aber ich verspreche dir, dass ich eines Tages zu dir zurückkommen werde!
Deine Luna
Den ordentlich gefalteten Brief legte Luna auf ihren Rucksack unter das Bett. Als Daisy aus dem Waschraum kam, schlüpfte sie schnell zurück unter die Decke. „Soll ich heute wieder bei dir schlafen, Luna?“, fragte sie fröhlich. „Nein, danke! Ich glaube, heute werde ich etwas Schönes träumen“, antwortete Luna. Zweifelnd schaute Daisy sie an. „Und sollte ich doch nicht gut schlafen, wecke ich dich auf“, fügte Luna hinzu. Zufrieden strich sich Daisy eine rote Strähne aus dem Gesicht und kletterte das Stockbett hinauf. „Na dann, gute Nacht!“ Um sie herum tratschten und kicherten die Mädchen, doch Luna bekam es gar nicht wirklich mit. Sie war zu sehr damit beschäftigt, über ihr Abenteuer nachzudenken. Immer wieder sah sie die Liste vor ihrem inneren Auge: Rucksack, Kleidung, Brief… Sollte sie Joseph auch einen Brief schreiben und ihm erklären, warum sie ohne ihn gegangen war? Nachdenklich spielte Luna mit einer braunen Locke. Da öffnete Mrs Morman schwungvoll die Tür. „Zehn Uhr, Licht aus!“ Mit einem prüfenden Blick musterte sie das Zimmer der Mädchen. „Und morgen möchte ich, dass der Saustall hier beseitigt wird!“, rief sie mit zu Schlitzen verengten Augen. Die Tür wurde wieder geschlossen, und Mrs Morman stöckelte über den Flur in ihr Zimmer. Joseph würde also keinen Brief bekommen. Macht nichts, dachte Luna, irgendwann wird er es verstehen. Nun hieß es warten. In einer halben Stunde sollten alle Mädchen eingeschlafen sein. Gedanklich ging Luna immer wieder den in den Träumen bereits so oft gegangenen Weg zum Wasserfall durch.
Um sie herum war nun alles leise. Nur die friedlichen Atemgeräusche der Mädchen und das Knarren der alten Betten waren zu hören. „Hallo?“, flüsterte Luna in die Dunkelheit des Zimmers, doch sie bekam, wie erhofft, keine Antwort. Leise stellte sie einen Fuß nach dem anderen auf den mit Teppichen bedeckten Boden und verlagerte das Gewicht vorsichtig auf ihre Beine. Unter ihr ächzte eine Holzdiele. Ruckartig blieb Luna stehen und hielt die Luft an. Zum Glück waren keine weiteren Geräusche zu hören. Langsam schlich sie zum gegenüberliegenden Bett, in dem Roberta zusammenrollt lag und ruhig schlief. Luna schielte auf ihren Unterarm, um einen Blick auf die Armbanduhr werfen zu können. Roberta war sehr stolz auf ihre Uhr und legte sie niemals ab. Sie war das einzige Andenken an ihren Vater, den sie vor einigen Jahren bei einem tragischen Unfall verloren hatte. Luna musste noch etwas näherkommen. Wegen der Dunkelheit konnte sie kaum etwas erkennen. 22:25 las sie und huschte leise zurück zu ihrem Bett. Sie schlüpfte in die graue Hose, das weiße T-Shirt, den dünnen blauen Pullover und die abgetragenen Sportschuhe, die sie sich bereitgelegt hatte. Mit einem sicheren Griff zog sie den Rucksack unter dem Bett hervor und warf ihn über die Schulter. Dabei fiel der Brief, den sie erst vor kurzer Zeit geschrieben hatte, auf den Boden. Hastig hob sie ihn auf und blickte auf den Umschlag. 'Für Daisy' stand darauf. Luna warf ihren Blick auf das Bett über ihrem und beobachtete ihre schlafende Freundin, deren Brustkorb sich ruhig auf und ab bewegte, kurz. Auf Wiedersehen, Daisy, dachte Luna traurig. Dann ging sie hinüber zum Schrank, in dem jedes der Mädchen eine eigene, beschriftete Schublade hatte, und legte den Brief mit einer liebevollen Handbewegung in Daisys Fach. Nach einigen Sekunden, in denen Luna in das dunkle, stille Zimmer geschaut hatte, öffnete sie die quietschende Tür, so leise es nur ging, und machte einen großen Schritt hindurch. Zaghaft drückte sie die Klinke hinter sich hinunter. Nun gab es kein Zurück mehr. Auf Zehenspitzen trippelte Luna den Flur entlang, vorbei an dem Schlafraum der Buben, in dem Joseph vermutlich wachlag, um sich in einer halben Stunde mit Luna zu treffen, vorbei an Mrs Mormans Zimmer, aus dem leise Musik kam, bis hin zur Tür des Lernraums. Luna öffnete die Tür und machte einen mutigen Schritt in die Dunkelheit. Langsam ging sie auf das Fenster zu und streckte die Arme danach aus. Ihr Herzschlag wurde schneller. Gleich war es so weit. Entschlossen umfassten ihre Finger den Fenstergriff.
„Du wirst doch nicht ohne mich gehen wollen?“ Lunas Mund entwich ein kurzer Schrei. Sie blieb wie angewurzelt stehen und drehte sich dann langsam in die Richtung der Stimme. „Joseph!“ Ihr Mund stand offen, und die blauen Augen spiegelten die große Überraschung wider. „Ich habe mir schon gedacht, dass du dich heimlich hinausschleichen wirst! Deswegen warte ich schon seit zwanzig Minuten hier, damit ich dich ja nicht verpasse.“ Lässig saß er auf einem der Holzstühle in der Dunkelheit. Er trug seine alte schwarze Jeans und einen dünnen grauen Pullover. Sein Blick war ernst, er lächelte nicht. Luna brachte immer noch kein Wort heraus.
„Also gut“, er öffnete seinen alten Rucksack, „ich habe zwei Wasserflaschen, vier Brote, Nüsse und für jeden eine halbe Tafel Schokolade aus der Küche gestohlen. Außerdem habe ich ein Feuerzeug, zwei Decken und ein Messer!“ Mit seinem Finger zeigte Joseph auf die Dinge im prall gefüllten Rucksack. Luna folgte mit ihrem Blick. Nahrung! Getränke! Wie konnte sie nur so blöd sein, nicht an Essen zu denken? Joseph hatte recht, sie würde nicht einen einzigen Tag allein im Wald überleben. Genervt von sich selbst, verzog sie das Gesicht. „Wie konntest du das alles aus der Küche stehlen?“
„Ich bin einfach hineingeschlichen und habe es genommen!“, sagte Joseph stolz. „Ich bin mir zwar ziemlich sicher, dass Mrs Newton mich gesehen hat, aber sie hat nichts gesagt und ist gleich wieder verschwunden.“ Überwältigt stand Luna da und starrte immer noch auf den Rucksack ihres Freundes. „Wollen wir? Oder möchtest du dich noch persönlich bei der alten Mrs Morman verabschieden?“, flüsterte Joseph und öffnete das Fenster. Luna wusste, dass sie keine Zeit hatte, um mit Joseph zu diskutieren. Außerdem ergab das auch gar keinen Sinn. Er war fest entschlossen, sie zu begleiten. Mit einem schnellen Schritt kletterte Luna durch das geöffnete Fenster und stellte sich auf die Feuertreppe. Es war ein warmer Abend, die Luft knisterte, und es roch nach einer Mischung aus Rosen und Holz. Vorsichtig, um keinen unerwünschten Lärm zu erzeugen, schlichen die beiden die Leiter hinunter. Von der letzten Sprosse bis zum Boden war es ungefähr ein Meter. Luna ließ sich fallen und ging zur Seite, sodass Joseph neben ihr landen konnte. Er fuhr sich durch seine schwarzen Haare und schaute Luna tief in die Augen. „Bereit?“, fragte er. „Bereit, wenn du es bist!“, antwortete Luna und ging los. Sie passierten das noch nicht vollendete Hochbeet und die Rosenbüsche, bis sie schließlich bei dem Tor neben den frisch bepflanzten Blumenbeeten ankamen. Luna legte ihre Hand auf das niedrige Eisentor und warf noch einen letzten Blick zurück. Heruntergekommen, aber heimelig lag das Waisenhaus vor ihr. Es wirkte so friedlich, als würde es schlafen. Lunas Blick fiel auf die große schwere Eingangstür, durch die sie vor zwölf Jahren das erste Mal gegangen war, dann auf das rote Dach, auf dem sie so oft gesessen hatte, und schließlich auf das Fenster, durch das sie jede Nacht den Mond beobachtet hatte. War dort nicht…? Nein, das konnte nicht sein! Luna kniff die Augen zusammen. „Alles in Ordnung?“, fragte Joseph, der ihren angestrengten Blick bemerkt hatte. „Ich dachte nur… Ach, nichts! Lass uns gehen!“ Sie hatte sich eingebildet, einen roten, lockigen Kopf durch das Fenster gesehen zu haben. Hatte Daisy sie beobachtet? Nachdenklich drückte Luna das Eisentor, das schrill durch die Stille der Nacht quietschte, auf und marschierte, gefolgt von Joseph, mit entschlossenen Schritten hindurch. Ohne sich auch nur ein einziges Mal umzudrehen, gingen sie den schlecht beleuchteten Weg entlang, der sie schon bald zum gewünschten Waldweg bringen sollte. Nach kurzer Zeit lag nichts als Dunkelheit hinter ihr.