Читать книгу Vollmondnacht - Nina Johanna - Страница 5
ОглавлениеSeit Anbeginn der Zeit interessierte sich die Menschheit für die hellleuchtende, mystische Scheibe oder Sichel am Himmelszelt, den Mond, und setzte ihn mit mächtigen Gottheiten gleich. Die alten Ägypter beteten zu Isis, der Mondgöttin, die Griechen zu Selene und die Römer zu Luna und Diana. Sie alle stellten die unfassbare Macht des Mondes über das Leben auf der Erde dar. Astronomen und Entdecker erforschten in jedem Jahrhundert mit Hilfe aller möglichen Methoden die unterschiedlichen Phasen, den Zyklus des Mondes, erstellten auf dieser Basis Kalender und entdeckten die verschiedenen Wirkungen auf Mensch, Tier und Natur. Schnell merkten sie, dass das Leben auf unserer Erde mit der Kraft des Mondes eng verbunden ist, dass sich das Verhalten der Menschen an die Phasen des Mondes anpasste und dass die helle, das Sonnenlicht reflektierende Seite des Mondes stets ein dunkles Gegenstück mit sich bringt.
Vor vielen hunderten Jahren schoss ein mächtiges, kosmisches Gesteinsstück durch das Weltall, direkt auf jene Seite des Mondes zu, die sich der Erde nie zeigte. Mit starker Wucht und einem lautlosen Aufprall streifte der Meteorit die dunkle Seite und sprengte zwei massive, schwarze Stücke des Mondes weg. Diese bewegten sich nun direkt und mit hoher Geschwindigkeit auf den Blauen Planeten zu. Zuerst schossen die Mondstücke durch das endlose Weltall, doch schon bald passierten sie die Atmosphäre, die wie eine schützende Hand über der Erde lag. Etwas kleiner als zuvor und mit deutlich geringerer Geschwindigkeit landete ein Mondgesteinsstück im südlichen Teil des Planeten, das andere eher im Norden. Ein wenig kleiner als die Handfläche eines erwachsenen Menschen, schwarz und voll von kleinen Kratern lagen die Mondsteine nun auf der Erde. Der eine im kalten, weißen Schnee, der andere am Rande eines warmen, plätschernden Flusses. Unscheinbar und eher hässlich sahen sie aus für jedes Auge, das den Wert des Gesteins nicht erkannte. So geschah es auch, dass jahrhundertelang Menschen und Tiere daran vorbeizogen, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. Die Teile des Mondes, nun schon vom Wetter gegerbt und von der Zeit des Herumliegens sichtlich mitgenommen, versanken immer tiefer im Erdboden, bis eines Nachts, als der Vollmond die Dunkelheit erhellte, ein Mädchen einen schmalen Fluss entlang spazierte und der Mondstein seine Kräfte wiederfand.
Fluchend stolperte Tusana das schmale Flussbett entlang, das sich nicht weit von dem Haus ihrer Familie durch die schlafende Landschaft in der Nähe des Dorfes Garciasantos schlängelte. Wieder stieß sie sich ihre nackten Füße an einem harten Stein und stieß einen lauten Fluch aus. Es kümmerte sie nicht, ob sie jemand hörte. Wer sollte sich schon dafür interessieren, was ein junges, 16-jähriges Mädchen wie sie allein in einer Nacht, die nur durch den großen, runden Vollmond erhellt wurde, am Rande des Flusses verloren hatte? Mit einem leisen Geräusch, das sich wie plopp anhörte, rutschte sie mit einem Fuß ins Wasser ab. Sofort spürte sie, wie die kühle Flüssigkeit ihren Fuß umhüllte und der Saum ihres weißen Nachthemds triefend nass wurde. Genervt von ihrer eigenen Tollpatschigkeit nahm sie ihr Nachthemd in die Hand und zog es bis zu ihren Knien hinauf. Ihre dünnen, braunen Waden kamen zum Vorschein, und sie spritze mit dem bereits nassen Fuß im Wasser herum. „Wie siehst du denn schon wieder aus, Tusana? Ganz nass und schmutzig! Wieso kannst du dich nicht wie ein normaler Mensch benehmen? Kein Wunder, dass dich in der Schule niemand leiden kann!“, flüsterte sie mit übertrieben melodischer Stimme vor sich hin und hatte das Bild ihrer Stiefmutter Alba im Kopf. Sie konnte sich bildlich vorstellen, wie sich Albas viel zu schmale Lippen kräuselten, wie sie ihre spitze Nase angeekelt in die Luft hielt und sie mit ihren eisblauen Augen angewidert musterte. Wie sollte sie sich normal verhalten? Nichts an ihr war normal! Ihre Hautfarbe war braun, viel dunkler als die von allen anderen Jugendlichen in der Schule, ihre Augen waren schwarz wie die Nächte, in denen kein Vollmond schien, und ihre Haare waren lang und so blond, dass sie fast schon weiß aussahen. Mit ihren langen, knochigen Fingern strich sie sich eine blonde, wellige Strähne aus dem Gesicht und warf sie mit mehr Schwung als nötig in den Nacken. In Gedanken versunken stieg Tusana nun auch mit dem zweiten Fuß in den Fluss und watete gegen den Strom, immer weiter weg von dem kleinen, von Lichtern erleuchteten Dorf. Ihre Gedanken kreisten um das kleine Haus am anderen Ende des Dorfes, in dem sie mit ihrem Vater, ihrer Stiefmutter und ihren kleinen Halbbrüdern wohnte. Das Haus war aus braunen Ziegeln gebaut und befand sich am Ende eines steinigen Felsweges. Tusanas Vater kaufte es vor sechs Jahren, kurz nach dem Tod seiner Frau, Tusanas Mutter, für sich und seine Tochter. Doch inzwischen, dank ihrer Stiefmutter und den grässlichen Zwillingen, war es für die Anzahl an Personen um einiges zu klein.
Ihren Vater hatte Tusana schon lange nicht mehr zu Gesicht bekommen, da er in einer entfernten Stadt in einer Bank arbeitete. Nur an wenigen Wochenenden und an bestimmten Feiertagen kam er nach Hause. Jedes Mal, wenn er das Haus betrat, knallte er seinen schweren ledernen Aktenkoffer neben die Haustür, fuhr sich durch seine schwarzen Haare, die immer wild von seinem Kopf abstanden, und verzog sich sogleich in das kleine Arbeitszimmer am Ende des Flurs. Tusana wagte es nur selten, ihren Vater in seinem Arbeitszimmer zu besuchen, weil sie wusste, dass er stets sehr beschäftigt war und sich für nichts und niemanden so sehr begeisterte wie für seine Bankgeschäfte. „Meine Arbeit ist unheimlich wichtig! Ich muss Statistiken berechnen, Verträge aufsetzen und Zukunftspläne schmieden! Glaubst du, ich komme nach Hause, um mir deine Geschichten anzuhören? Kümmere dich selbst um deine Probleme! Und jetzt geh, spiel mit deinen Brüdern! Ich muss noch einen Bericht fertig schreiben. Schließ die Tür hinter dir!“
Bei dem Gedanken an ihre beiden Halbbrüder verzog Tusana das Gesicht. Gabriel und Rafael, zweieiige Zwillinge. Das Herzstück ihrer Mutter. Garstige kleine Quälgeister mit schwarzen Locken, teuflischen blauen Augen und viel zu viel Fleisch auf den Knochen. Egal, welche Dummheiten ihnen einfielen, Tusana zu ärgern, ihre Stiefmutter kümmerte es nicht! „Meine süßen Engelchen würden so etwas nie tun! Geh und schließ die Tür! Ich will mir deinen Unsinn nicht mehr länger anhören!“ Diese Worte hatte Tusana auch jetzt noch im Kopf. In ihrem bisherigen, von Schreck und Grausamkeiten geprägten Leben, war ihre Stiefmutter Alba eindeutig das Sahnehäubchen auf dem Kuchen. Tusana wusste, dass Alba sie nicht leiden konnte und sie in „ihrem Haus“, wie sie es nur zu gern betitelte, sehr ungern erduldete. Wie sollte sie es auch nicht wissen? Alba ließ sie es bei jeder Gelegenheit spüren. „Du hattest auch Hunger? Das wusste ich nicht! Gabriel und Rafael haben leider schon alles aufgegessen! Köstlich war‘s, nicht wahr, meine Engelchen? Du kannst dir ja ein Butterbrot nehmen!“, sagte Alba nicht nur einmal, während sie die dicken Bäuche ihrer Söhne mit Eis, Kuchen und allem Möglichen, was sie begehrten, vollstopfte.
Tusana hatte es satt! Voller Wut trat sie einen kleinen Stein durchs Wasser. Er flog nicht weit und landete mit einem leisen Geräusch wieder im Fluss. Tusanas Hände, die immer noch das nasse Nachthemd hielten, verkrampften sich bei dem Gedanken an den heutigen Abend. Ihre Stiefmutter saß wie immer mit ihren beiden Lieblingen am Esstisch und servierte alle möglichen Köstlichkeiten. Das ganze Haus roch himmlisch nach Cordero en chilindrón, einem Gericht aus Lammfleisch und einer Zwiebelsauce mit Paprika und Tomaten. Als Tusana aus ihrem Zimmer kam, die kurze Treppe hinunterschlich und das Esszimmer betrat, knurrte ihr Magen vor Hunger. Alba würdigte sie keines Blickes, verzog nur einen Mundwinkel und sagte: „Du bist auch hier? Hast du nichts zu lernen?“
„O ja, sehr viel sogar. Aber ich brauche deine Hilfe mit diesem Buch, ich verstehe den Zyklus des…“, sagte sie kleinlaut, doch weiter kam sie nicht, da wurde sie schon von ihrer Stiefmutter unterbrochen. „Bin ich deine Lehrerin, dass ich dir bei deinen Aufgaben helfen soll? Bestimmt nicht! Ja, Schätzchen, hier ist noch etwas Fleisch für dich“, sagte sie liebevoll zu Gabriel, der mit seiner Gabel auf den leer gegessenen Teller schlug. Nachdem Alba ihrem Sohn eine riesige Portion auf den Teller gelegt hatte, fuhr sie fort: „Frag doch deine Freundinnen, ob sie dir bei der Hausübung helfen können! Oh, das habe ich vergessen, du hast ja gar keine Freundinnen!“, sagte sie mit einem süffisanten Lächeln. Tusana hörte ihr gar nicht zu. Sie kannte diesen Vortrag bereits. Stattdessen beobachtete sie, wie die Zwillinge ihre Münder mit Fleisch, Gemüse, Reis und zwischendurch sogar mit der süßen Crema Catalana, die eigentlich als Nachspeise gegessen werden sollte, vollstopften und die abstoßende Mischung aus Lebensmitteln anschließend mit ihren Zähnen in weit geöffneten Mündern zermalmten. Aus Rafaels Mund flogen einige Teile des Speisebreis bis ans andere Ende des Tisches. „Wie können so kleine Kinder nur so viel essen?“, fragte sich Tusana und betrachtete die fleischigen Oberarme der Zwillinge, die gerade mal vier Jahre alt waren. Mit diesen fleischigen Armen schaufelten sie sich immer mehr Essen in den Mund. „Wenn man immer allein herumgeistert und sich wie du für die skurrilsten Dinge interessiert, ist es keine große Überraschung, dass man keine Freunde hat.“ Tusana widmete ihre Aufmerksamkeit nun wieder ihrer Stiefmutter. Alba war ganz in ihrem Element und unterstützte ihren Vortrag durch ausladende Gesten. „Also, ich würde nicht wollen, dass meine Tochter eine wie dich als Freundin hätte!“, rief sie und stieß einen herzhaften Lacher aus. Die Nasenlöcher ihrer kleinen spitzen Nase bebten, und eine Strähne ihrer kinnlangen braunen Haare fiel ihr ins Gesicht.
„Kein Wunder, dass deine Mutter gestorben ist!“, sagte sie schließlich leise und funkelte Tusana herausfordernd an. „Ich tippe auf Selbstmord! Hat es einfach nicht mehr ausgehalten mit ihrer seltsamen Tochter! Hat sich vermutlich Vorwürfe gemacht, dass sie schuld daran ist, dass du so missraten bist!“ Tusana konnte nicht fassen, was sie gerade gehört hatte. Sie stand mit aufgerissenen Augen und geöffnetem Mund da, ihre Hände waren zu Fäusten geformt, und ihre dunkle Haut pulsierte. Sie wollte sich wehren, doch kein Ton verließ ihren Mund. Alba war noch lange nicht fertig. „Ich verstehe, warum dein Vater ständig arbeitet. Er möchte dir bestimmt aus dem Weg gehen. Wahrscheinlich gibt auch er dir die Schuld am Tod seiner Frau! Ich glaube, er kann dir nicht einmal in die Augen sehen, ohne ein tiefes Gefühl von Hass zu empfinden. Was für ein Glück, dass er mich getroffen hat..“
„Stopp!“, schrie Tusana nun und knallte beide Fäuste auf den Esstisch. Die Zwillinge hoben erstaunt ihre Blicke, als hätten sie bis jetzt noch nichts von dem Streit mitbekommen. Gabriel ließ die vollbeladene Gabel fallen, Rafael fing an zu weinen. „Wie kannst du es nur wagen, so über meine Familie zu sprechen? Meine Mutter hast du nie gekannt, und mein Vater arbeitet nur so viel, um deinen gefräßigen kleinen Teufeln die Mäuler stopfen zu können!“, schrie sie und zeigte mit ihrer vor Wut zitternden Hand auf die immer noch erstaunten und weinenden Zwillinge.
An den Rest des Streits konnte sich Tusana gar nicht mehr erinnern. Sie wusste nur, dass sie einfach so wie sie war, im Nachthemd und ohne Schuhe, mit ihren unfrisierten weißblonden Haaren, aus der Tür gestürmt und mit Tränen in den Augen durch das ganze Dorf, über den steinigen Weg, vorbei an den kleinen braunen Steinhäusern und über den Marktplatz gelaufen war, bis sie schließlich am Fluss ankam. „Lauf nur schnell weg! Am besten ist es, du kommst nie wieder!“, hörte sie ihre Stiefmutter noch rufen, bevor sie außer Hörweite war.
Nun stand sie hier am Fluss, mit den Füßen im Wasser, mit ihren Haaren, die noch zerzauster als zuvor waren, und Wut in ihrem Herzen. Nie wiederkommen! Als würde sie jemals wieder einen Fuß in dieses Haus setzen. Niemanden wollte sie jemals wiedersehen! Sie hasste sie alle! Aus tiefstem Herzen hasste sie alle! Eine glitzernde Träne rannte über ihre Wange, ihr Kopf war kirschrot vor lauter Zorn. Hasserfüllt stampfte sie weiter durch den Fluss. In ihr kam ein tiefes Verlangen auf, etwas zu treten oder ganz laut zu schreien. Als sie gerade ihren Mund öffnete, um zornig einen bitterbösen Fluch auszustoßen, lief ihr plötzlich ein kalter Schauer über den Rücken. Die Haare an ihrem Körper stellten sich auf, und Gänsehaut bedeckte ihre braune Haut. Schnell schloss sie ihren Mund wieder und blickte irritiert in die Dunkelheit. Ihre geschwungenen, schwarzen Augenbrauen, die die dunklen Augen perfekt einrahmten, aber so gar nicht zu ihren weißblonden Haaren passten, verzogen sich und formten eine leichte Falte in der Mitte ihrer Stirn. Noch nie zuvor hatte sie ein so seltsames Gefühl gehabt. Sie fühlte sich, als würden sie aus der erdrückenden Dunkelheit bedrohliche Augen beobachten. Verwirrt schaute sie sich um, doch weit und breit war nichts zu sehen. Nur der Fluss, die Lichter des Dorfes in der Ferne und der Vollmond, der die umliegenden Bäume und die große Weide erhellte. Verunsichert wollte sie weitergehen, doch da lief ihr ein weiterer Schauer über den Rücken. Wie aus dem Nichts erreichte sie plötzlich ein seltsames Geräusch. Es klang wie ein leises, aber schrilles Summen, doch sie konnte nicht ausmachen, woher es kam. Schnell wurde es lauter, und in kurzer Zeit verwandelte sich Tusanas Zorn von vorher in Unwohlsein und Angst. Hastig stieg Tusana aus dem Wasser, doch gerade, als sie sich auf den Weg zum sicheren Dorf machen wollte, hörte sie eine sanfte Stimme.
„Wieso bist du so wütend, Tusana?“ Mit schreckgeweiteten Augen schaute sie sich um, doch sie konnte noch immer niemanden erkennen. „Wer bist du?“, schrie sie panisch in die Dunkelheit des umliegenden Waldes. „So ein besonderes Mädchen wie du darf sich doch nicht so aufregen“, sagte die Stimme sehr langsam. Da war er wieder, der Schauer auf Tusanas Haut. Dieses Mal kamen auch noch starke Kopfschmerzen dazu. Mit beiden Händen umfasste Tusana ihren schmerzenden Kopf. „Wer bist du? Zeig dich!“, rief sie wieder und begann zu zittern. „Ich bin niemand, und doch habe ich die Macht, alles zu verändern. Ich habe die Macht, in deine Gedanken einzudringen. Ich habe die Macht, deine Gedanken zu manipulieren“, flüsterte die Stimme geheimnisvoll. Ohne zu wissen, was sie tat, setzte Tusana einen Fuß vor den anderen und ging immer weiter den Fluss entlang. Sie hatte keine Kontrolle über ihre Beine. Angestrengt versuchte sie, stehen zu bleiben, ihre Beine zu stoppen, in eine andere Richtung zu gehen, doch egal, wie sehr sie sich bemühte, sie konnte sich nicht kontrollieren. „Was machst du mit mir?“, weinte Tusana laut und umklammerte mit beiden Händen ein Bein, ohne es vom nächsten Schritt abhalten zu können. „Ich habe alle Macht der Welt! Ich kann sie alle kontrollieren und manipulieren. Komm zu mir, und auch du wirst so mächtig sein. Du kannst deine Stiefmutter und deine beiden Halbbrüder steuern, wie du möchtest! Gemeinsam können wir sogar deine Mutter zurückholen.“ Abrupt hörten Tusanas Beine auf, sich zu bewegen, und sie kam zum Stillstand. Beinahe wäre sie umgefallen, konnte sich aber gerade noch fangen und das Gleichgewicht bewahren. „Wo bist du?“, hauchte Tusana stimmlos. „Schau auf den Boden.“ Langsam und in Erwartung einer bösen Überraschung senkte sich Tusanas Blick, bis sie mit ihren schwarzen Augen etwas sah, das sie noch nie gesehen hatte.
Vom Vollmond erleuchtet, lag dort ein unscheinbarer, beinahe schon hässlicher Stein, der irgendwie seltsam wirkte. Er sah so gar nicht aus wie ein normaler Stein. Das Gras um ihn herum war vertrocknet, und es ging eine seltsame Energie von ihm aus. Braun, schlammig und vollkommen löchrig lag er da. Verwirrt kniete sich Tusana hin, um den außergewöhnlichen Stein genauer betrachten zu können. „Ich v-verstehe nicht…“, stotterte sie. „Ich werde dich alles lehren, was ich weiß. Nie wieder wird dir jemand Unrecht antun. Keiner wird sich mehr trauen, dich falsch zu behandeln. Sie alle werden Angst vor dir haben. Sich vor dir verneigen. Dich um Verzeihung anflehen. Doch du wirst nicht verzeihen! Niemals!“ Die Stimme klang nun nicht mehr sanft und langsam. Der Zorn, der Hass, die Wut in der Stimme lähmten Tusana. Alles, was sie nun empfand, war Zorn, Hass und Wut. Sie wusste nicht, was sie machen sollte. Noch nie hatte sie sich so gefühlt! Ihr gesamter Körper, von ihren Füßen bis in die Spitzen ihrer Haare, war von negativen Emotionen, von Hass, von Lust auf Rache getrieben. „Berühre mich! Nur eine Berührung reicht, und wir sind eins! Wir werden es sie alle büßen lassen!“, sagte die Stimme, nun wieder etwas ruhiger. Tusana wusste nicht, wie ihr geschah. Sie fühlte sich leer und gleichzeitig sehr lebendig, als würden tausend kleine Feuerwerke in ihrem Körper explodieren. Wie ferngesteuert streckte sie ihre Hand nach dem Stein aus. Ihre Augen waren rot vor Anstrengung, und sie zitterte vor Wut. Mit festem Griff nahm sie den mächtigen Stein und beobachtete fasziniert, wie der alte, hässliche Brocken seine braune Schale sprengte, als würde sich eine Schlange aus ihrer Haut schälen. Zum Vorschein kam ein glatter, bläulich leuchtender Stein von solcher Schönheit, die Tusana sich in ihren kühnsten Träumen nicht hätte vorstellen können. Hastig schnappte sie nach Luft. Sie hatte das Gefühl, als würde sich ihre Kehle zuschnüren, und sie müsste ersticken. Alles um sie herum fing an, sich zu drehen. Der Fluss, die Lichter des Dorfes, der Wald. Sie verlor den Boden unter den Füßen und verspürte gleichzeitig ein mächtiges Gefühl von Freude und Zufriedenheit. An einer Wange lief eine Träne hinunter, doch dieses Mal war es keine Träne der Traurigkeit. Dieses Mal war es ein Gefühl von Sieg, von Überlegenheit und von Macht. Tusana glaubte, dass der Vollmond immer heller und heller wurde, genauso wie der wunderschön strahlende Stein in ihrer Hand. Sie streckte ihre leere Hand Richtung Mond, um ihre zusammengekniffenen Augen vor dem Licht zu schützen, doch es half nicht, es entstand kein Schatten. Um sie herum wurde alles strahlend erleuchtet, bis es plötzlich ganz weiß war. Durch ihren Kopf hallten Stimmen. Schreiende Stimmen, lachende Stimmen, weinende Stimmen. Das Blut schoss durch ihre Adern. Sie spürte sich selbst und ihre Umgebung in einer schmerzhaften Intensität. Überfordert und überwältigt stieß Tusana mit fest zusammengekniffenen Augen einen hellen Schrei aus.
Und plötzlich war wieder Dunkelheit und Stille. Nichts als Stille, Dunkelheit, ein ruhiger Fluss, ein düsterer Wald, warme Lichter eines Dorfes in der Ferne und ein Vollmond, der die Nacht erhellte. Nichts war da. Kein Mädchen im Nachthemd, kein leuchtender Stein. Nur Dunkelheit, Stille und ein heller Vollmond am schwarzen Nachthimmel.