Читать книгу Hidden Spirits - Nina Linz - Страница 7
Kapitel 5
ОглавлениеAyden?« sprach Nathan ihn besorgt an, als er sich neben dem Tisch hinkniete und erst jetzt sah, dass Ayden friedlich schlief, die linke Wange auf den Unterarm gebettet. Seine gesträhnten Haare fielen ihm ins Gesicht und drohten, mit jedem Atemzug durch seinen geöffneten Mund in seinen Rachen eingesaugt zu werden. Im selben Moment schlug Nathan sich mit der flachen Hand auf den Mund, die Augen entsetzt aufgerissen.
Ayden. Nathan hatte unabsichtlich Aydens Namen benutzt, obwohl er sich bei Nathan noch gar nicht vorgestellt hatte. Ayden schien jedoch wie ein Stein zu schlafen. Nathan vergewisserte sich sicherheitshalber darüber, indem er Ayden mit dem Zeigefinger leicht am Oberarm anstupste, woraufhin Ayden genervt grunzend mit dem Arm wackelte, um den Störenfried abzuschütteln, nur um sofort wieder still zu liegen und in gleichmäßigen Zügen weiter ein- und auszuatmen.
Nathan schnaufte daraufhin erleichtert aus. Noch mal durfte ihm so etwas nicht passieren. Beim Anblick des halb auf dem Tisch Liegenden, fragte er sich, wie jemand in dieser Position überhaupt so tief schlafen konnte.
Wie erschöpft musste er gewesen sein? Wie lange befand Ayden sich schon in diesem Zustand?
Nathan ging in die Hocke und fasste mit seinem rechten Arm unter Aydens Knien hindurch. Mit der anderen Hand drückte er Aydens Oberkörper, der noch immer auf der Tischplatte lag, sanft zurück gegen die Stuhllehne, um Ayden dann hinter den Rücken greifend mit beiden Armen vom Stuhl hochzuheben. Ayden musste inzwischen durchaus tief schlafen, da dieser nicht annähernd wahrnahm, wie Nathan ihn vorsichtig auf der Couch ablegte und ihm behutsam eine Decke überwarf, die zuvor hinter der Sofalehne verstaut gewesen war.
Ayden drehte sich, im Schlaf leise etwas Unverständliches brabbelnd, auf die Schulter und war Nathan nun direkt zugewandt, der neben der Couch kniete. Der Schlafende machte allerdings keine Anstalten aufzuwachen, weshalb Nathan Ayden die über dessen Augen gefallenen Haare zärtlich aus dem Gesicht strich, um sie daraufhin hinter seinem Ohr einzuklemmen. Als er jedoch gerade mit seinen Fingern über Aydens Ohr strich, fuhr ihm beim Anblick einer vernarbten Verletzung daran ein Schrecken bis ins Mark.
Aydens Ohr durchzog ein langer Riss, von der Oberseite bis kurz über die Ohrmuschel. Es handelte sich dabei aber um keinen glatten Schnitt, viel mehr war sein Ohr gebrandmarkt. Diese Verletzung musste brutal und in Zusammenhang mit Feuer oder Glut entstanden sein. Beim Gedanken daran, wie der zierlichen Person auf seiner Couch gewaltsam versucht wurde, das Ohr abzureißen oder abzubrennen, wurde Nathan schlagartig übel. Sein Gesicht verzog sich, als könnte er den Schmerz selbst spüren.
»Es tut mir so leid«, flüsterte Nathan so leise, dass es wirklich nur er selbst hören konnte, während er Ayden mit den Fingerkuppen seiner einen Hand sanft über das verwundete Ohr strich und seine andere auf Aydens leicht eingerollter Hand verweilen ließ. Als würde er Ayden beruhigen wollen, strich er mit seinem Daumen sachte auf Aydens Handrücken hin und her. Viel mehr versuchte er damit aber wohl, sich selbst zu beruhigen. Er hatte Ayden diese Qualen zwar nicht angetan, aber er hätte es womöglich verhindern können. Wäre er nur einfach früher dran gewesen. Wäre er nur einfach stärker gewesen. Wäre er damals bloß an seiner Seite gewesen.
Das Vibrieren seines Handys in der Hosentasche seiner Shorts riss Nathan aus seinen Gedanken. Mit flinken Fingern zog er es heraus und verspürte beim Blick auf das Display prompt das Verlangen, es in hohem Bogen aus dem Fenster zu werfen.
Hastig öffnete Nathan die verglaste Schiebetür neben sich, sprang auf die Veranda und umklammerte das Geländer mit der einen Hand, bevor er mit dem Daumen der anderen den Anruf widerwillig annahm.
»Ja?«, brummte Nathan ins Telefon.
»Nathan? Wo bist du?«, fragte die Person am anderen Ende der Leitung.
»Zu Hause«, antwortete er knapp.
»Das dachte ich mir, denn hier bist du schon mal nicht! Ich habe dir extra mehrmals gesagt, du sollst diesmal pünktlich hier sein. Was machst du überhaupt den ganzen Tag?«
»Und ich hab dir schon mehrmals gesagt, dass ich für die Uni lerne. Ansonsten arbeite ich übrigens noch. Heute ist mein einziger freier Tag, ich wollte einfach mal ein bisschen-« Nathan kam gar nicht erst dazu, seinen Satz zu vollenden.
»Lernen? Wofür lernst du bitteschön? Für die Uni? Du wirst als lächerlicher Maschinenbauer keine Frau finden, die sich mit sowas zufriedengibt und mit dir eine Familie gründen will!« Der Ton der anrufenden Person wurde nun zorniger, über den Punkt der Empörung schon lange hinaus.
»Vielleicht will ich das aber ja auch gar nicht? Daran schon mal einen Gedanken verschwendet?«, raunte er nun zurück.
»Wieso kannst du nicht einfach sein wie dein großer Bruder? Er hat immer-« Diesmal war es Nathan, der seine Mutter nicht ausreden ließ. Aufgrund ihrer Worte brannten ihm schlussendlich alle Sicherungen durch.
»Uuund da wären wir wieder«, murmelte er. »Hör zu, Mom. Es tut mir wirklich wahnsinnig leid, dass ich nicht wie dein geliebter Vincent bin. Es tut mir unglaublich leid, dass ich so eine große Enttäuschung für unsere verflucht aristokratische Familie bin. Es tut mir verschissen noch mal leid, dass ich nicht der Sohn bin, den du gerne hättest. Bitte, ich will so nicht mit dir reden, aber ich halt's einfach langsam nicht mehr aus. Ich werd euch diesmal nicht auf eure heuchlerische Wohltätigkeitsveranstaltung begleiten.«
Ohne seine Mutter noch mal zu Wort kommen zu lassen, legte er auf, warf seinen Kopf in den Nacken und stöhnte genervt gen Himmel. Nachdem er sein Handy wieder in seinen Shorts verstaut hatte, umfasste er mit beiden Händen das Geländer, lehnte sich mit dem Körper etwas nach hinten und schloss die Augen, um sich mit regelmäßigen Atemzügen wieder zu sammeln.
Nathan wollte seinen Zorn nicht an anderen auslassen, auch wenn sie es vielleicht verdient hätten. Seit er denken konnte, spielte er die zweite Geige. Es hätte ihm auch nichts ausgemacht, wenn sie ihn nur endlich in Ruhe gelassen hätten.
Seine Familie war in der Stadt - wenn nicht sogar im ganzen Land - hoch angesehen.
Sein Vater saß an der Spitze eines großen Pharmakonzerns, den er über Jahrzehnte selbst aufgebaut hatte. Zu ihm hatte Nathan keine besonders intime Bindung, was nicht zuletzt daran lag, dass er ihn, den zahlreichen Stunden in der Firma oder im Ausland geschuldet, eigentlich nie sah.
Das Verhältnis zu seiner Mutter war etwas enger, von einer liebevollen Mutter-Sohn-Beziehung war aber auch das meilenweit entfernt. Obwohl er sie über die Jahre zwar öfter gesehen hatte als seinen Vater, kam sie ihm trotzdem vor wie eine Fremde.
Am wenigsten verstand er sich allerdings mit seinem fünf Jahre älteren Bruder Vincent. Vince war schon immer genau das, was man auch von ihm erwartet hatte. Er schlüpfte mit Vergnügen in die Fußstapfen ihres Vaters. Er arbeitete diesem, an der Seite ihrer Mutter, unermüdlich zu. Egal was oder wie viel von ihm verlangt wurde, er übertraf auch diese Erwartungen spielerisch, immer ein triumphierendes Lächeln auf den Lippen. Mit seinen mittlerweile 27 Jahren hatte Vincent schon mehr erreicht, als es andere sich in ihrem ganzen Leben je hätten erträumen können.
Die Illusion der Familie war perfekt. Nur Einer fiel komplett aus dem Raster. Nathan. Seine Eltern taten alles in ihrer Macht Stehende, um das schwarze Schaf der Familie in ihrem Sinne zu formen. Als würden sie versuchen wollen, ihm das Schwarz aus der Wolle zu waschen, steckten sie ihn in Designer-Anzüge, die er nicht wollte, schickten ihn auf Galas und Benefizveranstaltungen, auf denen er sich nicht wohlfühlte, um ihm jedes Mal irgendwelche Töchter anderer hoher Tiere vorzustellen, die Nathan nicht ansatzweise interessierten. Sie versuchten ihn schon in jungen Jahren mit allem zu überzeugen, was sie hatten. Die beste Bildung, die teuersten Wohnungen, die schönsten Frauen, das meiste Geld. Nichts davon nahm er jedoch jemals an.
Nathan wollte nie undankbar wirken. Ihm war bewusst, dass er froh darüber sein sollte, seine ganze Kindheit lang ein Dach über dem Kopf, fließend frisches Wasser und jeden Tag mehrere warme Mahlzeiten gehabt zu haben. Aber obwohl er wusste, dass er schon weitaus bessergestellt war als die Mehrheit der Weltbevölkerung, kam er sich arm vor. Nicht im materiellen Sinne, sondern im emotionalen. Er bekam tagtäglich zu spüren, dass er nicht genug war. Dass es nicht in Ordnung oder gern gesehen war, so zu sein wie er.
Sein Kleidungsstil zu sportlich, die Haare nicht gebändigt, am besten sollte er sie noch gefärbt und zurückgegelt tragen wie sein Bruder. Die Piercings an seinem Ohr, die Tattoos an seinen Armen und der Cut in seiner Augenbraue. Alles an ihm schrie regelrecht Rebellion, zumindest in den Augen seiner Familie. Nichts davon tat er allerdings, um sie zu provozieren. Viel mehr gefiel es ihm und er kümmerte sich nicht darum, was die Gesellschaft von ihm erwartete.
Im Kindesalter, als er noch dachte, dass das Verhalten seiner Familie nur eine andere Art der Zuneigung war, hatte er noch versucht, die an ihn gerichteten Erwartungen zu erfüllen oder gar zu übertreffen. Er hechtete seinem Bruder unermüdlich hinterher, aber es fühlte sich immer an, als würde dieser gemächlich vor ihm her spazieren, während Nathan sich auf einem Laufband hinter seinem Bruder das Leben aus dem Körper strampelte, ohne sich je von der Stelle zu bewegen.
Ein einschneidendes Ereignis aus seiner Vergangenheit ließ allerdings das Bisschen Verbundenheit, das zu diesem Zeitpunkt noch zwischen ihm, seinen Eltern und seinem Bruder bestanden hatte, in sich zusammenfallen. Er sah sie ab diesem Moment nicht mehr mit denselben Augen, was ihn sogar dazu veranlasst hatte, auszuziehen. Im Alter von fünfzehn Jahren fing er an mit seinen Freunden aus einem alten, verlassenen Frachtcontainer seine jetzige Bleibe zu bauen. Die Materialien konnte er sich nur leisten, weil er neben der Schule mehreren Nebenjobs nachgegangen war. Ob legal oder nicht, war den Menschen, für die er arbeitete, egal, solange er seine Aufgaben ordentlich erledigte und genau das tat er. Um ihm noch etwas entgegenzukommen, halfen seine damaligen Chefs ihm beim Transport des Containers und der Befestigung der Stahlträger. Niemand fragte, was er in seinem Alter damit vorhatte, denn in die Angelegenheiten seiner Familie wollte sich keiner von ihnen einmischen. Jeder wusste, welche Macht sie innehielten. In den seitdem vergangenen 7 Jahren verbesserte Nathan das Containerhaus immer weiter und jobbte auch jetzt noch neben seinem Studium, um sich über Wasser zu halten.
Niemals in seinem Leben wollte er von seinen Eltern finanziell abhängig und ihnen im Gegenzug womöglich noch etwas schuldig sein müssen. Seit er sein Elternhaus, natürlich unter vehementem Protest, verlassen hatte, konnte er zumindest zwischen den Besuchen und Anrufen seiner Familie durchatmen. Freiwillig ließen sie ihn damals nicht gehen, schließlich war er zu diesem Zeitpunkt noch minderjährig gewesen. Zu groß war ihnen die Gefahr, dass es ein schlechtes Licht auf den unbestritten guten Ruf der Familie werfen würde. Er willigte daher ein, sich jedes Jahr auf einer Hand voll Galas mit ihnen blicken zu lassen, um allen anderen geladenen Gästen der Oberschicht eine heile Welt vorzuspielen. Im Grunde war er zwar seitdem doch verpflichtet, ihnen diesen Wunsch zu erfüllen, um die restliche Zeit seinen Frieden zu haben, aber es war immer noch besser, als das Gefühl, dass er ohne ihr Geld und ihren Einfluss nicht leben könnte.
Man sollte meinen, sie wären nach seinem Auszug auch um sein Wohlbefinden besorgt gewesen, schließlich war er zu der Zeit gerade mal sechzehn Jahre alt, aber niemand hatte sich je darüber versichert, ob er genug zu essen oder zu trinken hatte. Solange er seine Pflichten ihnen gegenüber erfüllte, wussten sie schließlich, dass er lebte. Seine Mutter besuchte ihn alle paar Wochen, aber im Wesentlichen diente auch das nur ihrem Vorteil.
Die Stunden ihres Aufenthalts bei ihm bestanden aus Belehrungen, ausschweifenden Erzählungen über die ach so tolle Tochter von irgendeinem aufstrebenden Firmenchef, mit dem man ja fusionieren könnte, und nicht zuletzt lobenden Worten für seinen unübertrefflichen Bruder und dessen eindrucksvollen Frauenverschleiß. Nicht, dass sich ihre Mutter je über Vincents nächtliche Aktivitäten beschwert hätte. Im Gegenteil, für sie war es viel mehr ein hervorragender Weg, die Konkurrenz, über ihren Sohn als Mittelsmann, auszukundschaften. Und Vince sah das nicht anders, am Ende des Tages hatte ja besonders er seinen Spaß daran.
Vor jeder Verabschiedung nahm seine Mutter noch mal alle Maße von Nathan, um ihm für die nächste Gala einen neuen, maßgeschneiderten Anzug anfertigen zu lassen. Zugegebenermaßen fand Nathan zwar, dass ihm die Anzüge nicht schlecht standen, allerdings war ihm einfach unbegreiflich, wie man dafür so viel Geld ausgeben konnte. Deshalb fühlte er sich, abgesehen von den sowieso unerwünschten Anlässen, an denen er sie tragen musste, jedes Mal erneut unwohl darin.
Seiner Meinung nach konnte er die Gala, über die er beim Telefonat mit seiner Mutter gesprochen hatte, dieses Mal ausfallen lassen. Er war alt genug, um nicht mehr komplett unter dem Einfluss seiner Familie zu stehen, ihren Ärger wollte er sich aber trotzdem nicht einhandeln. Das nächste Mal wieder, dachte er, drehte sich vom Geländer vor sich weg und stieg über die Türschwelle wieder ins Innere des Containers.
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Das dumpfe Geräusch eines aufkommenden Fußes auf dem Parkett riss Ayden aus seinem Tiefschlaf. Verdattert öffnete er die Augen und rieb sich die selbigen daraufhin mit seinen geballten Fäusten, während er sich auf der beigefarbenen Stoffcouch langsam aufsetzte, die Beine im Schneidersitz überkreuzt.
War er gerade nicht noch essend am Tisch gesessen? Wieso lag er plötzlich mit einer Decke über seinem Körper auf einer fremden Couch?
»Na, Schlafmütze?« Der Rotschopf, der gerade von der Veranda ins Gebäude trat, warf ihm ein sanftes Lächeln zu. »Geht's dir besser?«, fragte er munter.
»Besser?«, entgegnete Ayden, noch etwas verwirrt von der ganzen Situation.
»Hast mich ganz schön erschrocken, als du da auf einmal mit dem Kopf voraus regungslos auf der Tischplatte gelegen hast«, lachte Nathan. »Du musst wirklich innerhalb von Sekunden eingeschlafen sein. Sah ganz schön unbequem aus, deshalb hab ich mir erlaubt, dich auf die Couch zu verfrachten.«
»Verfrachten? Bin ich ein Paket oder was?«, erwiderte Ayden mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Na ja, ich dachte mir das würdest du wahrscheinlich besser aufnehmen als die Tatsache, dass ich dich wie einen kleinen Welpen hochgehoben, in meinen Armen vorsichtig zum Sofa getragen und dort abgelegt und zugedeckt habe«, antwortete Nathan vollkommen ungeniert mit einem Achselzucken.
Aydens Gesicht glühte nach dieser Beschreibung förmlich auf und er musste seinen Kopf schlagartig senken, um Nathan keine Chance zu geben, einen Blick auf seine geröteten Wangen zu erhaschen.
»Darum hat dich niemand gebeten«, zischte er Nathan an. Der einzige Weg, der ihm einfiel, um sich aus dieser peinlichen Lage zu befreien, war seinen Ärger auf Nathan zu projizieren.
»Und trotzdem hab ich's gemacht. Ich weiß, ich bin einfach toll!« Als hätte Nathan Aydens Protest gar nicht wahrgenommen, mimte Nathan mit einem Augenzwinkern weiterhin den strahlenden Sonnenschein. »Ich hab Shadow übrigens schon getextet, dass du etwas später kommen könntest«, setzte Nathan fort, während er mit einem Handy in seiner Hand wackelte.
»Du hast WAS? Wie viel Uhr ist es?! Und woher kennst du überhaupt meine Chefin?« Die Fragen sprudelten nur so aus Ayden heraus.
Nathan gestikulierte mit seinen flachen Händen, das Handy wieder in den Shorts verstaut, zum Boden, um Ayden zu verstehen zu geben, dass er sich beruhigen konnte. »Sie ist 'ne langjährige Freundin von mir. Du hast noch ein paar Stunden. Ich wollte nur vorsorglich, solltest du nicht rechtzeitig aufwach-«
»Seh ich aus wie ein Pflegefall oder was?«, schimpfte Ayden aufgebracht. Mit fuchtelnden Händen erhob er sich von der Couch. »Egal, vergiss es. Sag mir einfach in welche Richtung ich muss, dann mach ich mich auf den Weg.«
»Bist du sicher? Soll ich dich nicht lieber-« Nathan kam erneut nicht dazu, seinen Satz zu vollenden.
»Ok, hör zu. Ich danke dir wirklich für deine Gastfreundschaft und dafür, dass du für mich gekocht hast, was übrigens, nur um es noch mal zu erwähnen, nicht nötig gewesen wäre. Aber ich meine es ernst, wenn ich sage, egal was das hier ist, es endet genau jetzt. Ab sofort sind wir wieder Barkeeper und Gast, nicht mehr und nicht weniger. Aber trotzdem noch mal danke. Ich find den Weg auch allein.« Natürlich tat er das, seine Nase hatte schon bei der Ankunft die Witterung aufgenommen, um im Notfall schnell in Richtung seiner Höhle fliehen zu können. Er hatte Nathan nur nach der Richtung gefragt, um seine Deckung aufrecht zu erhalten.
•
Mit diesen Worten drückte Ayden sich an Nathan, der perplex vor der Glastür zur Veranda stand, vorbei und huschte auf die hölzerne Terrasse, nur um kurz darauf um die Ecke zu verschwinden.
Jetzt hab ich's endgültig vermasselt, dachte Nathan sich, der auf die nun leere Veranda starrte, über die Ayden gerade eben abgehauen war. Verübeln konnte er es Ayden nicht wirklich. Alles, was bis hierhin vorgefallen war, konnte ihn nur misstrauisch gemacht haben. Ayden musste nach all der Spannung zwischen ihnen so durcheinander sein, dass es eine natürliche und absolut nachvollziehbare Reaktion war, sich so schnell es geht aus dem Staub zu machen. Würde Nathan sich nicht selbst am besten kennen, würde es ihm auch mehr als schwerfallen, sich zu vertrauen. Vielleicht machte aber genau die Tatsache, dass er sich so genau kannte, es noch schwerer, seinen eigenen Handlungen Vertrauen zu schenken.
Nachdem er sich sein Glas Wasser vom Esstisch geschnappt hatte, trat er noch mal auf die Veranda und sah ins Tal hinab. Dort erblickte er niemand geringeren als Ayden, der über eine Lichtung zum gegenüberliegenden Waldrand lief. Nathan traute seinen Augen kaum, als er, seine Unterarme auf dem Geländer abgestützt, dabei zusah, wie der Waldrand unter ihm in grellem Blau aufleuchtete.
Obwohl er es wusste, vom ersten Augenblick an, als er Ayden in der Bar erblickt hatte, brachte ihn das Ereignis, das sich in diesem Moment vor seinen Augen abspielte, vollends aus der Fassung. Ayden sprang schwungvoll mit beiden Beinen vom Boden ab, nur um sich in der Luft, als er gerade in den Wald eintauchte, geschmeidig, nahezu mühelos, in einen eisblauen Fuchs zu verwandeln und aus Nathans Sichtfeld zu verschwinden.
Normalerweise hätte ihn dabei niemand sehen können. Erstens war Nathans Haus das Einzige in der Umgebung und Zweitens, was wohl der Punkt war, auf den sich Ayden zu sehr verlassen hatte: Nathans Haus war, obwohl man vom Berg aus gut auf die Lichtung hinabblicken konnte, viel zu weit von selbiger entfernt, um unter normalen Umständen überhaupt mehr als einen unscharfen Punkt auf ihr ausmachen zu können.
Aber Ayden konnte zu diesem Zeitpunkt nicht wissen, dass Nathan die Sicht eines Greifvogels hatte. Und das nicht nur metaphorisch gesehen.