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Kapitel 6

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Aydens Pullover, durch die hastige Verwandlung über den stacheligen Büschen komplett zerrissen, blieb mitsamt seiner Hose und Unterwäsche am Waldrand zurück, während er so schnell er nur konnte durch den Wald in Richtung seiner Höhle hechtete.

Er war lange nicht mehr so schnell gelaufen. Seine Atmung wurde immer hastiger, sein Körper hingegen kälter. Sein Brustkorb hob und senkte sich in Sekundenschnelle. Seine Pfoten waren schon wund von den immer wieder wechselnden Untergründen, weil er in dieser Geschwindigkeit nicht mehr genau darauf achten konnte, wo er landete. Bei jedem neuen Absprung versetzte ihm die Reibung auf seinen blutig gelaufenen Ballen einen Stich, aber er ignorierte die Signale seines Körpers restlos.

Er wusste, dass Nathan ihm nicht gefolgt war. Warum sollte er auch? So kurz er ihn bisher auch kannte, Ayden ging fest davon aus, dass Nathan nicht der Typ Mensch war, der kein „Nein“ verstand. Trotzdem konnte er nicht anders, als zu rennen. Jede Zelle in seinem Körper schrie Flucht. Obwohl er nicht wusste, wovor er flüchtete, konnte er seinen Körper nicht dazu bringen, sich herunter zu bremsen. Auch die Angst davor, bei Tageslicht im Wald entdeckt zu werden, wurde von seinem Fluchtinstinkt komplett unterdrückt. Er handelte wie auf Autopilot. Sein scheinbar integriertes Navigationssystem kannte zwar das Ziel, für den Weg gab es aber augenscheinlich keine andere Auswahlmöglichkeit als „Luftlinie“.

Er duckte sich gerade noch rechtzeitig unter umgefallen Baumstämmen hindurch und jagte über Baumstümpfe und kleine Felsen hinweg. Sein Körper hetzte im Slalom durch die im Weg stehenden Bäume, so schnell ihn seine Beine tragen konnten. Er tauchte mit der Schnauze voraus in Flüsse, zu breit um über sie hinweg zu springen, um auf der anderen Seite angekommen, nach Luft japsend wiederaufzutauchen. Ohne sich zu schütteln und vom Wasser zu befreien, rannte er vollkommen kopflos weiter, als wäre der Teufel hinter ihm her. Der Wind rauschte an seinen nach hinten angelegten Ohren vorbei und trieb ihm gleichzeitig Tränen in die Augen, die seine Sicht verschleierten.

Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte er schließlich seine Höhle. Die letzten Meter kosteten ihn seine verbleibende Kraft, sodass er am Eingang unkontrolliert zusammenbrach. Seine Lungen rangen nach Luft, sein trockener Mund- und Rachenbereich machte es ihm noch schwerer, überhaupt zu atmen. Mit zwischen die Beine gekniffenem Schwanz rollte er sich auf die Seite und versuchte mit dem Bisschen Willensstärke, das er noch aufbringen konnte, seine Atmung zu stabilisieren. Seine zur Seite geklappten Ohren dröhnten so laut und qualvoll, dass er selbst nicht hören konnte, wie er vor Schmerzen kreischte.

Sein Weinen ging allmählich in ein leises Wimmern über, als sich seine Atmung langsam aber sicher wieder normalisierte. Sein ausgetrocknetes Maul füllte sich endlich wieder mit Speichel, welchen er ohne Umschweife dazu nutzte, seine wunden Pfoten mit der Zunge abzulecken und zu benetzen. Seine Felldecke war durch den Zugwind getrocknet, doch darunter war seine Unterwolle bis auf die Haut klitschnass und kühlte ihn fast vollständig aus.

Völlig entkräftet hievte er seinen durch das aufgesaugte Wasser noch schwereren Körper ein letztes Mal in die Höhe und schleppte sich Schritt für Schritt zu seinem Rucksack ins Hintere der Höhle. Dort angekommen sackte er zu Boden und legte seine Schnauze auf den Taschen ab. Er lag nun, alle Viere von sich gestreckt und den Schwanz nach hinten ausgerollt, auf der Seite, atmete tief durch, schloss die Augen und versuchte nicht einmal, gegen die ihn überkommende Müdigkeit anzukämpfen, die ihn augenblicklich erfasste und keine Sekunde später einschlafen ließ.

Als er aufwachte, verriet ihm das schwache Licht, das ins Innere der Höhle schien, dass es bereits dämmerte.

Verdammt, die Bar!

Ayden sprang in die Höhe und jaulte im selben Moment, von höllischen Schmerzen geplagt, auf. Da er wusste, dass er sich längst auf den Weg in die Bar hätte machen müssen, ignorierte er vorerst den Ursprung seines Leidens und verwandelte sich zurück in seine menschliche Gestalt, was ihm längst nicht so leicht von der Hand ging wie sonst.

Erst jetzt sah er an seinem nackten Körper hinab, während er auf dem kalten Höhlenboden saß. Seine Handflächen und Fußsohlen aufgeschürft, sein Körper von tiefen, durch Blut verkrustete Schnitte übersät. Diese hatte er sich wohl an den stacheligen Büschen und knorrigen Ästen am Boden des Waldes zugezogen. An seiner rechten Schulter und seinem Becken befanden sich mehr oder weniger große Blutergüsse, die wohl dem Aufprall auf dem harten Felsboden bei seiner Ankunft zuzuschreiben waren. Abgesehen von den stechenden Schmerzen in seinem ganzen Körper durch die exzessive Beanspruchung aller existierenden Muskeln war alles an Ort und Stelle, was Ayden beruhigt aufatmen ließ. Er fuhr sich mit einer Hand durch das schweißverklebte Haar und legte dann das Gesicht auf seinen Knien ab, die er von beiden Armen umfasst fest an seine Brust heranzog. Mit einem tiefen Seufzen sammelte er die nötige Kraft, um sich schlussendlich aufzurichten.

Er kramte in seinem Rucksack nach seinen Hygieneartikeln und zog sich zügig seine inzwischen an der Luft getrockneten Arbeitsklamotten an, nachdem er sich mit einem Feuchttuch das Blut und den Schweiß vom Körper gewischt hatte. Für ein richtiges Bad in der nahegelegenen Quelle fehlte ihm nun leider die Zeit, weshalb er sich kurzerhand mit den Tüchern, großzügiger Deo- und Parfumverwendung und etwas Trockenshampoo für die Haare behalf. Zufrieden war er mit dieser Lösung absolut nicht, nur blieb ihm leider auf die Schnelle nichts anderes übrig.

Nach einem Blick auf seine soeben angelegte Armbanduhr und einem zweiten, prüfenden in den kleinen Handspiegel, machte er sich auf den Weg zur Bar. Seine Arbeit hätte schon vor einer Stunde begonnen, den ersten Gästen würde allerdings erst in einer weiteren Stunde Einlass gewährt werden. Der kleine Nachtclub wurde von Shadow alleine geführt. Ayden wurde beim Gedanken an seine Chefin flau im Magen, so hatte Nathan ihr doch geschrieben, dass er sich womöglich verspäten würde.

Was würde Shadow nun nur von ihm denken? Was hatte Nathan ihr überhaupt genau geschrieben? Würde sie ihn einfach kurzerhand feuern?

Im Grunde genommen hätte Ayden auch einfach weiterziehen können, er war schließlich niemandem Rechenschaft schuldig. Allerdings brauchte er das Geld diesmal dringend. In der Gegend, in der er sich zuvor aufgehalten hatte, hatte er vergeblich nach einem Job gesucht und so seine Reise zügig fortgesetzt, was ihn letztendlich zu Shadows Bar geführt hatte. Er hoffte inständig, dass sie ihm eine zweite Chance geben würde.

Als er nach einem kurzen Fußmarsch an der Bar ankam, drückte er mit zittrigen Händen die Klinke der Eingangstür hinunter und öffnete sie zaghaft. Er blickte durch den schmalen Spalt ins Innere und konnte Shadow sofort an ihren umherschwingenden Haaren erkennen. Sie hatte langes, dichtes, pechschwarzes Haar, das ihr in einem Pferdeschwanz zusammengebunden bis zur Taille hing. Durch die lilafarbenen Strähnen stach sie mit Sicherheit auch in einer großen Menschenmenge in Rekordzeit hervor.

»Ayden?«, weckte eine helle, fröhliche Stimme ihn aus seinen Gedanken. Quietschvergnügt hüpfte Shadow hinter dem Tresen hervor und lief auf ihn zu. Ayden stand mittlerweile wie bestellt und nicht abgeholt in der offenen Tür. »Du bist also doch gekommen? Nate meinte, dir würde es nicht allzu gut gehen.«

„Nicht allzu gut“ war eine massive Untertreibung, allerdings konnte Nathan den Ausgang ihrer Unterhaltung und deren Folgen zu dem Zeitpunkt ja nicht absehen. Und um ehrlich zu sein ging es Ayden immer noch gegen den Strich, dass Nathan sich in seine beruflichen Angelegenheiten eingemischt hatte.

»Keine Sorge, mir geht's gut und ich bin einsatzbereit«, beschwichtigte er. »Vorausgesetzt ich darf weiterhin für dich arbeiten«, fügte er schuldbewusst hinzu. Shadow hatte schon an seinem ersten Tag darauf bestanden, auf das „Sie“ zu verzichten.

»Natürlich darfst du das! Aber nur, wenn auch wirklich alles in Ordnung ist?« Ayden nickte eifrig. Gut ging es ihm zwar nicht, aber er konnte es nicht riskieren, seinen Job zu verlieren. Noch nicht jetzt. »Okay! Darf ich dich fragen, weshalb du bei Nate zu Hause warst?« Eine Augenbraue auffällig weit nach oben gezogen, durchbohrte Shadows Blick ihn regelrecht, begleitet von einem schelmischen Grinsen.

»Lieber nicht?« antwortete Ayden kleinlaut, bevor er sich beschämt auf die Unterlippe biss. In ihm blieb noch ein Rest an Angst, gefeuert zu werden, zurück, weshalb er ihr gegenüber nicht zu forsch auftreten wollte.

»Ich war nur wirklich verwundert, als Nate mir geschrieben hat. Er nimmt normalerweise niemanden mit nach Hause, gerade mal seine engsten Freunde. Und selbst die, und zu denen zähle ich mich mal ganz dreist, lädt er nur selten ein.« Mit einem gespielt schmollenden Gesichtsausdruck versuchte Shadow wohl, ihm ein Lachen zu entlocken. Ihre Schauspielkünste reichten leider nur für ein müdes Lächeln seinerseits, aber das genügte ihr wohl schon, um sich, immer noch sichtlich amüsiert über Aydens Verlegenheit, wieder an die Arbeit zu begeben.

»Ihr Zwei seid also nicht…?«, fragte Ayden, woraufhin Shadow sich blitzartig umdrehte, um ihn verdutzt anzusehen.

»Oh Himmel, Nate und ich?« Shadow brach in schallendes Gelächter aus, während Ayden sie nur mit großen Augen ansah. »Nein, absolut nicht! Er ist für mich eher wie ein … Bruder?«

»Autsch, hast du ihn gerade wirklich gefriendzoned?«, entgegnete Ayden, während er eine der vollen Bierkisten neben dem Eingang hochhievte. Ihn durchfuhr ein stechender Schmerz, der ihm kurz die Tränen in die Augen trieb. Um sich nichts anmerken zu lassen, biss er sich selbst auf die Lippe. Schmerz bekämpfte bekanntlich Schmerz.

»Wenn überhaupt war's wohl eher andersrum«, verkündete Shadow unbekümmert. »Also, versteh mich nicht falsch, ich hab ihn nie angebaggert oder sowas!« Sie fuchtelte mit ihren Händen beschwichtigend in der Luft umher. »Ich hab nur mal darüber nachgedacht, ob daraus vielleicht etwas werden könnte, aber von seiner Seite aus kam nichts. Außerdem hatte ich eigentlich auch kein großes Verlangen, an unserer Freundschaft etwas zu ändern. Aber ich sag mal so… ein Blickfang ist er allemal.« Nach diesem Satz konnte Shadow sich wohl ein Augenzwinkern nicht verkneifen, welches von ihrer herausgestreckten Zunge begleitet wurde und Ayden ein leises Kichern entlockte.

»Scheint wohl so«, antwortete er mit einem Schulterzucken.

»Wie dem auch sei, da du ja nun da bist, lass uns einfach direkt die Bar aufmachen, ja? Ich find's hier entschieden zu ruhig!« Getreu ihrer quirligen Art, hüpfte Shadow wieder hinter den Tresen und betätigte einen Schalter, der das „Geöffnet“-Schild an der Außenseite des Gebäudes in Neonfarben aufleuchten ließ.

Der Abend verlief bis zu dem Moment an ruhig, an dem eine Gruppe Männer, alle schätzungsweise Anfang bis Mitte Zwanzig, den Club betrat und zielstrebig den Bartresen ansteuerte. Ayden rutschte das Herz in die Hose, als er den kurz geschorenen, braunhaarigen Kopf von einem der Männer sofort wiedererkannte.

»Dich kenn ich doch!«, rief besagter Mann, umgeben von seinen Kameraden, Ayden über den Tresen hinweg zu.

Ayden senkte seinen Blick und schüttelte den Kopf. »Da muss eine Verwechslung vorliegen.«

»Ganz sicher nicht, du bist doch der Kleine von heute Morgen.« Ayden versuchte ihn weitestgehend zu ignorieren, nicht gewillt, die Auseinandersetzung vom Vormittag vor dem Supermarkt fortzusetzen. Bedauerlicherweise war er allerdings der Barkeeper und Shadow gerade auf dem Weg zu einer Sitzgruppe, um den Leuten dort ihre Getränke zu bringen.

»Wird man hier auch mal bedient?«, raunte ihn sein Gegenüber schließlich an. Der Mann, der Ayden auf dem Parkplatz seinen Ellenbogen in die Rippen gerammt hatte, wurde langsam ungeduldig.

»Natürlich. Was darf es sein?«, antwortete Ayden und sah dabei zu, wie sich der Braunhaarige über den Tresen zu ihm vorbeugte, die verschränkten Unterarme dabei auf der Oberfläche abgestützt.

»Sieht so aus, als hättest du deinen kleinen Schoßhund jetzt nicht dabei, der dich in den Arm nimmt, wenn du Angst kriegst, hm?«

Ayden musste den Würgereiz, der in ihm aufkam, unterdrücken, um seinem Gegenüber nicht quer über den Tresen ins Gesicht zu kotzen. Kleiner Schoßhund? Abgesehen davon, dass Nathan diesem Ekel, würde dieser vor ihm stehen, größentechnisch bestimmt problemlos auf den Kopf spucken konnte, war von Angst nie die Rede. Ayden wollte diesen Morgen lediglich einen Konflikt vermeiden, weshalb er, anstatt selbst auf den anderen loszugehen, lieber versucht hatte, Nathan von selbigem Vorhaben abzuhalten. Ihm war allerdings bewusst, wie die Szene für Außenstehende ausgesehen haben musste.

»Ein „sex on the beach” also? Dass du auch endlich mal die Zuneigung bekommst, die du dir so sehr wünschst?«, entgegnete Ayden trocken und schob provokativ die Unterlippe hervor. Obwohl er wusste, dass dieser Spruch sehr wahrscheinlich nach hinten losgehen und ihn erneut seinen Job kosten könnte, musste er ihm einfach das elende Grinsen aus dem Gesicht vertreiben.

Ehe Ayden sich versah, packte ihn der Kurzhaarige schon am Kragen seines Hemds und zog ihn gewaltsam zu sich, sodass Ayden sich, mit den Händen an der Kante der Marmorplatte festhaltend, mit dem Oberkörper über dem Tresen befand. Aydens Füße berührten schon nicht mehr den Boden. Sein Gegenüber hatte ihn soweit in dessen Richtung auf den Tresen gezogen, dass sie sich auf Augenhöhe befanden. Kurz darauf konnte er den feuchten Atem des anderen an seinem linken Ohr spüren, der ihn erschaudern ließ, als er ihm ins Ohr flüsterte.

»Noch so ein Spruch und ich zeig dir meine Art der Zuneigung, bis du nicht mehr weißt, wie man das Wort überhaupt buchstabiert, du vorlauter Zwerg.« Mit einem beherzten Stoß von sich weg, beförderte der Mann ihn katapultartig an die Rückwand der Bar, wodurch die Gläser und Flaschen auf den Glasregalen über Ayden gefährlich stark wackelten.

Nathan betrat die Bar und das Erste, was er sah, war Ayden in einem Scherbenmeer, von oben bis unten getränkt in Alkohol. Die Flaschen mussten vom Regal darüber auf ihn heruntergefallen und auf seinem Kopf und der Arbeitsplatte, an der er lehnte, zerschellt sein. Augenblicklich verstummte die Musik und die Lampen erhellten den Raum in grellem Licht, woraufhin ein empörtes Raunen durch die gerade noch ausgelassen feiernde Menge ging.

Alle ihm im Weg stehenden Leute mehr oder weniger sanft bei Seite schiebend, erkämpfte Nathan sich in Sekundenschnelle seinen Weg zur Bar. Dort angekommen traute er seinen Augen kaum, stand da niemand geringerer als der Mann, der ihn noch heute Morgen fast seine Beherrschung hatte verlieren lassen. Diesmal war er allerdings nicht alleine. Ihn umringten drei andere Männer, alle um die 180cm groß. Die Gruppe fixierte Ayden mit ihren Augen, der wie ein begossener Pudel hinter der Theke verharrte und seine herunterhängenden Hände zu Fäusten ballte.

Ohne auch nur nachzufragen, wie es zu dieser Situation überhaupt gekommen war, trat Nathan hinter die vier Personen und packte zwischen den drei Männern hindurch nach der einzigen Person, die dafür verantwortlich sein konnte. Nathan zog den Mann an seinem Kragen energisch nach hinten und ergriff ihn daraufhin an der Schulter, um ihn zu sich umzudrehen.

Der Störenfried begegnete ihm allerdings mit einem siegessicheren Grinsen. »Och, hat der Kleine wieder nach seinem Hündchen verlangt? Und so gut erzogen, wie er ist, kommt er natürlich sofort, wenn das Herrchen ruft!« Er sah über seine Schulter zu seinen Begleitern, die in sein grölendes Lachen miteinstimmten.

Nathan verstand nur Bahnhof. Hündchen? Herrchen? Verwirrt sah er zu Ayden, der immer noch mit gesenktem Kopf in den Glasscherben stand und sich nicht rührte. Bevor Nathan jedoch etwas erwidern konnte, hechtete jemand zwischen ihn und seinen Gegenüber.

»WER ZUR HÖLLE WAGT ES, SICH IN MEINER BAR AUFZUFÜHREN WIE EINE HORDE IRRER?«, schrie Shadow, mit dem Rücken zu Nathan gewandt, der Gruppe Männer entgegen, deren Gelächter prompt verstummte. »WAS GEHT HIER VOR SICH?« Shadow blickte zwischen Ayden und der vierköpfigen Gruppe hin und her.

»Mein Fehler.« Alle Köpfe drehten sich zu Ayden, der zwar leise sprach, aber aufgrund der Totenstille, die sich in der Bar ausgebreitet hatte, für jeden einwandfrei zu hören war. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich in dem kleinen Club bestimmt um die 70 Personen, aber keiner der Gäste sprach ein Wort, so waren sie doch alle zu sehr gefesselt von den Bildern, die sich vor ihren Augen abspielten. Das Dorfgespräch für die kommende Woche war gesichert, jeder von ihnen wollte mitverfolgen, wie sich die Lage weiterentwickeln würde.

»WIE BITTE?«, quietschte Shadow fassungslos.

»Ich bin gestolpert. Hab nicht aufgepasst. War allein mein Fehler. Tut mir leid.« Die Selbstbeherrschung, die Ayden in diesem Moment aufbrachte, überraschte ihn selbst. Welche Möglichkeiten hatte er denn schon? Die Wahrheit?

Die vierköpfige Gruppe war ihm gegenüber, sollte es auf Zeugenaussagen hinauslaufen, schon zahlenmäßig überlegen, ganz zu schweigen davon, dass Ayden gerade mal den dritten Tag in der Bar arbeitete und er das in ihn gesetzte Vertrauen schon einmal missbraucht hatte. Wer würde ihm schon glauben? Gesehen hatte das Spektakel ja auch niemand. Er biss die Zähne zusammen und ballte seine Fäuste so stark, dass seine Knöchel unter dem Druck weiß wurden.

Er traute sich nicht, aufzusehen. Mit Sicherheit waren alle Augen gerade nur auf ihn gerichtet. Das Verlangen, urplötzlich im Erdboden zu versinken, war so groß, dass er kurz überlegte, ob er seine Kräfte wirklich nutzen sollte, um zu flüchten. Doch dann erhob Shadow erneut das Wort.

»BULLSHIT! Du hast noch einen Versuch, Ayden. Rück jetzt mit der Wahrheit raus!« Schon nach dem ersten Wort konnte Ayden nicht anders, als seinen Kopf zu heben und ihr geschockt in die Augen zu blicken. Sie konnte das von der anderen Seite des Clubs doch gar nicht mitbekommen haben? Wie konnte sie so felsenfest davon ausgehen, dass er log? Ayden versuchte mit aller Kraft, die ihn fixierenden Augenpaare der Menge im Hintergrund zu ignorieren. Er fühlte sich wie auf dem Präsentierteller, ihren starrenden Blicken schutzlos ausgeliefert.

Aydens Blick wechselte von Shadow zu demjenigen, der ihn gerade eben noch an die Rückwand der Bar geworfen hatte. Dieser hob kaum merklich seine flache Hand und ließ sie mit der Kante ganz langsam von links nach rechts an seiner Kehle entlangfahren, um Ayden verständlich zu machen, dass er nicht im Entferntesten daran denken sollte, die Wahrheit zu sagen. Sehen konnte ihn dabei eigentlich keiner, allen anderen Gästen hatte dieser schließlich den Rücken zugewandt. Doch Nathan, groß genug um über Shadow hinweg und gleichzeitig über die Schulter des Braunhaarigen zu sehen, entging diese Geste nicht.

»Shadow, ich regel das«, verkündete Nathan daraufhin, alle Blicke nun ihm zugewandt.

»Was? Wieso? Was hast du auf einmal damit zu tun?«, erwiderte Shadow verdutzt, während sie sich zur Seite drehte und einen Schritt zurück trat, um nun alle vor sich im Blick zu haben.

»Erzähl ich dir später. Vertrau mir einfach. Erteil den vier Spinnern hier Hausverbot und ich warte währenddessen draußen auf sie.« Daraufhin sah Nathan sich suchend um und machte dann ein paar Schritte auf ein Mädchen zu, das zu seinem Freundeskreis gehörte.

»Du, Roxy, würdest du mir einen Gefallen tun und vielleicht den Barkeeper ablösen?« Mit großen, bittenden Augen sah er das Mädchen mit dem seitlich geflochtenen Zopf an. »Dann muss Shadow die Bar nicht schließen. Ich helf gleich beim Saubermachen, aber davor hab ich noch ein Wörtchen mit den Vieren da drüben zu wechseln.« Er zeigte mit dem Daumen über seine Schulter auf die mittlerweile etwas nervös wirkende Gruppe.

»Klar, kein Problem!«, antwortete Roxy und lief zwischen den leise tuschelnden Menschen hindurch in Aydens Richtung, der sie ziemlich perplex ansah, als sie sich bei ihm vorstellte.

Nathan nahm Kurs auf die noch immer an der Bar stehende Gruppe und gab ihnen mit einer deutenden Kopfbewegung in Richtung Tür zu verstehen, dass sie ihm folgen sollten. Offenbar hatte es allen Vieren die Sprache verschlagen, denn sie folgten Nathan nach draußen, ohne einen Ton von sich zu geben.

Nathan, der die Tür so lange für alle aufgehalten hatte, hörte beim Schließen, dass die Musik im Inneren wieder dumpf gegen die Wände wummerte und die Gäste anfingen, sich wieder angeregt miteinander zu unterhalten.

Auf der schmalen Terrasse befand sich eine kleine Lounge, auf der zwei knutschende Paare auf den Sofas verstreut lagen und sich eng umschlungen ungestört weiter einander hingaben, ohne von der Auseinandersetzung in der Bar überhaupt etwas mitbekommen zu haben. Nathan ignorierte die sich miteinander Vergnügenden und wandte sich stattdessen den vier Pappnasen vor sich zu.

»Hört mir mal zu. Ich hab euch hier noch nie gesehen und ich weiß auch nicht wer ihr seid oder was ihr wollt. Aber solltet ihr noch ein einziges Mal den Nerv besitzen, sowas abzuziehen wie gerade eben, wird mich niemand davon abhalten, euch ins Krankenhaus zu befördern. Mir absolut egal, ob nacheinander oder alle gleichzeitig, wie ihr wollt. Hab ich mich klar genug ausgedrückt?« Nathan war ein sehr harmoniebedürftiger Mensch, was ihn davon abhielt, den vier Halbstarken direkt an die Gurgel zu gehen. Trotzdem baute er sich vor ihnen auf und versuchte, so viel Dominanz auszustrahlen, wie es ihm möglich war.

»Hast du die eigentlich alle schon durch?«, antwortete der Kleinste der Gruppe, der bisher noch kein Wort von sich gegeben hatte, mit einer Gegenfrage.

»Worauf willst du hinaus?« Nathan hatte schon zum zweiten Mal an diesem Abend das Gefühl, einen wesentlichen Teil der vorherigen Unterhaltung verpasst zu haben.

»Na, den Kleinen an der Bar und die zwei Mädels. Hat da etwa Jemand ein Helden-Syndrom? Gib doch zu, du spielst hier nur den großen Beschützer, um sie alle der Reihe nach ins Bett zu kriegen«, setzte ein anderer fort, woraufhin sie alle in schallendes Gelächter ausbrachen. »Aber egal, die Spelunke war uns sowieso zu langweilig. Wir sind dann mal weg.«

Mit diesem Ausgang hatte Nathan im Leben nicht gerechnet. Er stand nun alleine und völlig entgeistert vor der Tür und sah dabei zu, wie sich die Vierergruppe, sich gegenseitig triumphierend auf die Schultern klopfend, langsam von der Bar entfernte und ins Dunkel der Nacht verschwand.

Helden-Syndrom? Beschützer? Ins Bett kriegen?

Nathan schüttelte hastig den Kopf und hoffte inständig, er könnte dadurch klarer denken. Der dumpfe Schlag der Eingangstür gegen seinen Rücken riss ihn allerdings aus seinen Gedanken. Zwei Mädchen traten aus der Tür, entschuldigten sich mehrmals bei ihm und zogen kichernd von Dannen. Nathan nutzte die Gelegenheit und betrat durch die gerade zufallende Tür wieder die Bar.

Ein paar Grüppchen steckten bei seinem Eintritt die Köpfe zusammen und tuschelten, was Nathan aber ignorierte. Es zog ihn instinktiv in Richtung der Bartheke, hinter welcher Shadow und Roxy gerade damit fertig wurden, die Scherben vom Boden und den Oberflächen aufzukehren. Von Ayden keine Spur.

»Shadow?«, rief Nathan ihr über die jetzt wieder laute Musik hinweg zu, um ihre Aufmerksamkeit zu erwecken.

»Ah, Nate! Falls du Ayden suchst, er ist hinten im Lager!« Sie deutete mit ihrem Zeigefinger auf die Tür neben der Bar, die zum Lager führte, in dem die Getränke und Snacks aufbewahrt wurden. Nathan bedankte sich mit einem nach oben zeigenden Daumen und stieß anschließend mit den flachen Händen leicht gegen die zwei Türen, die daraufhin nach links und rechts aufschwangen.

»Ayden?« Eine vertraute Stimme rief seinen Namen, als er sich gerade aus der aufgeknöpften, durch diversen Alkohol versifften Weste schälte. Keine Sekunde später stand Nathan schon vor ihm, nur um sich anschließend auf die Kühltruhe neben Ayden zu setzen. Mit den Ellbogen auf die Knie gestützt, ließ Nathan seine Handflächen nervös aneinander vor und zurück gleiten, während er diese dabei nahezu hypnotisiert ansah.

»Woher weißt du, wie ich heiße?«

»Oh, Shadow hat dich vorhin zweimal mit dem Namen angesprochen, deshalb hab ich einfach angenommen, es sei deiner«, erwiderte Nathan mit einem Schulterzucken. Ayden nickte daraufhin einsichtig. »Tut mir leid, dass ich mich eingemischt hab. Ich denke mal, du hast die Schuld extra auf dich genommen, weil du keine Szene machen wolltest. Ähnlich wie heute Morgen«, entschuldigte Nathan sich reumütig, obwohl ihn eigentlich keine Schuld traf. »Verzeih mir, dass ich mich in deine Angelegenheiten eingemischt hab. Das wird nicht mehr vorkommen.« Nathan wendete den Blick von seinen Händen ab und sah Ayden nun direkt in die Augen.

Die Neonröhre über ihnen flackerte knisternd, wodurch Ayden Nathans Gesichtsausdruck nur schwer deuten konnte. Trotz seiner guten Nachtsicht verwirrte ihn der Wechsel zwischen hell und dunkel. Als der Leuchtkörper endlich wieder konstantes, aber zugegebenermaßen trotzdem schwaches Licht verbreitete, sah er geradewegs in Nathans bedrücktes Gesicht. Es war nicht geschmückt von seinem sonst so breiten Grinsen und seine Augen wirkten matt, anstatt wie sonst zu strahlen. Dieser ungewohnte Anblick versetzte Ayden einen leichten Stich, hatte er Nathan doch noch nie so niedergeschlagen gesehen.

»Ich halt mich in Zukunft von dir fern, wie du es mir eigentlich auch schon deutlich zu verstehen gegeben hast. Glaub mir, ich wollte dir wirklich keine Probleme bereiten.« Nathan erhob sich mit ein bisschen Schwung von der Kühltruhe, die Hände wie so oft in die Hosentaschen seiner diesmal schwarzen, an den Knien zerschlissenen Jeans gesteckt. Nathan sah auf seinen Sneaker hinab, mit dessen Spitze er ein paar Mal leicht auf den Boden kickte. »Es tut mir auch leid, falls du dich in meiner Gegenwart irgendwie unwohl gefühlt haben solltest. Das war niemals meine Absicht.« Bevor Nathan das Lager verließ, schälte er sich allerdings noch aus seinem weißen Hoodie. »Tu mir bitte den Gefallen und zieh den beim Nachhauseweg über, deine Sachen sind schließlich völlig durchnässt«, sagte Nathan mit sanfter Stimme. »Kannst ihn auch behalten, ich brauch ihn nicht zurück.«

Mit einem schwachen Lächeln in Aydens Richtung, aber immer noch Trauer in den Augen, platzierte Nathan den Pullover auf der Kühltruhe neben sich, als wäre es schon zu viel Annäherung, ihn in Aydens Hände zu legen. Bevor Ayden überhaupt irgendetwas erwidern konnte, verschwand Nathan schon durch die Schwingtüren aus dem Lager.

Hidden Spirits

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