Читать книгу Die Musenfalle - Nora Miedler - Страница 13
Alexander, 20:20
ОглавлениеAlexander legte den Hörer auf. Dann starrte er auf seine Schreibtischplatte, ohne irgendeinen der Gegenstände wahrzunehmen, die darauf lagen. Er war neunundfünfzig Jahre alt und benahm sich wie ein Teenager. Auf den ersten Blick hatte sie ihm gar nicht gefallen, zu sehr Amazone. Doch für Green Poison mochte das passen. Mochte das passen, der Teufel sollte ihn holen und in der Hölle braten, mochte das passen, was für eine schwammige Formulierung für den Geschäftsführer eines Großunternehmens. Als hätte er keine eigene Meinung dazu, als wäre es gar nicht wichtig, was er von der Sache hielt. Du bist die Nummer eins, versuchte er sich einzutrichtern, um dich und dein Urteil geht es. Was du sagst, ist Gesetz.
Seit wann war ihm die Firma egal? Wann hatte er begonnen, gänzlich das Interesse zu verlieren? Verzweifelt hob er den Kopf. Seine Augen huschten im Raum umher. Das hier gehört dir. Alles. Das ganze Stockwerk und jedes der dreizehn Stockwerke darunter. Dein Imperium. Du bist der Imperator. Er legte die Stirn auf die Tischplatte. Plötzlich wünschte er, er wäre wieder zehn. Damals war er wirklich der Imperator gewesen. Und der achtjährige Ludwig sein Diener, der ihn mit Weintrauben und sauren Drops füttern musste. Es schien fast, als wären diese paar präpubertären Jahre die einzigen in seinem Leben gewesen, die stimmig waren. Was sonst geschehen war, das Studium, die Frauen, jeder Schritt seiner Karriere, all das war irgendwie zum falschen Zeitpunkt gekommen. Als wäre er immer sein eigener Zuschauer gewesen, der still danebensaß und beobachtete, während der Mann, dem all die Dinge passierten, lediglich eine Hülle blieb.
Nur dass es in letzter Zeit wesentlich schlimmer geworden war. Früher hatte Musik geholfen, wenn er nichts fühlen konnte. Ganz bestimmte Lieder, Klassiker aus seiner Jugend, die seine Haut, sein Blut, alle Zellen zum Mitschwingen brachten. Heute fiel ihm nur noch Schwachsinn ein, um zumindest ein bisschen innere Bewegung zu spüren, Schwachsinn wie der, diese Lilly um ein Treffen zu bitten.
Ludwigs Anruf heute Mittag hatte ihm gar nicht behagt. Oh, müsste er sich nicht eigentlich darüber freuen, dass er wenigstens noch Unbehagen empfinden konnte? Der Machtwechsel zwischen Ludwig und ihm hatte sich schleichend vollzogen. Alexander konnte nicht genau sagen, wann es begonnen hatte, vielleicht als Ludwig stolzer Vater geworden war, so glücklich über seine kleinen Schablonen, dass Alexander sich urplötzlich mit seiner eigenen Vaterrolle konfrontiert sah, in der er kläglichst versagt hatte. Doch sein Kind war eben, genau wie alles andere, zum völlig falschen Zeitpunkt gekommen.
Er stand auf und stellte sich ans Fenster. Vierzehn Stockwerke unter ihm krabbelten die Mitarbeiter von Mobitel aus dem Gebäude wie Ameisen, die ihren Bau verließen. Er dachte an seinen Geburtstag in vier Tagen. An sein vorgezogenes Geburtstagsgeschenk. Plötzlich war ihm speiübel.
»Ich will das nicht«, sagte er laut und wunderte sich über die Vehemenz in seiner Stimme. Den kleinen Energieschub musste er nutzen. Er marschierte zu seinem Schreibtisch, nahm den Telefonhörer und tippte die Nummer ein.
»Alex«, dröhnte ihm Ludwigs Stimme entgegen.
»Hallo«, grüßte er und versuchte vergeblich, locker zu klingen.
»Was ist los, alter Junge?«
Alexander schloss die Augen. »Ludwig, ich …« Wann hatte er die Kontrolle verloren? »Ludwig –«
»Sag bloß, Frieda hat dich doch noch angerufen.«
»Nein, nein.«
»Was dann? Spuck’s aus, Alex, willst du absagen?«
»Und du?«, fragte er und merkte, wie jämmerlich hoffnungsvoll die beiden Worte klangen.
»Um nichts in der Welt! Hältst du mich für verrückt?«
»Nein.« Er räusperte sich. »Also dann, wir sehen uns morgen um zwei.«
»Wunderbar. Freu dich!«
»Ja«, antwortete Alexander und legte den Hörer auf. Er wollte sich nicht freuen, er wollte nur wieder zehn Jahre alt sein.