Читать книгу Die Musenfalle - Nora Miedler - Страница 15
Alexander, 10:45
ОглавлениеKurz bevor Alexander in die Haydngasse einbog, bremste er seinen Wagen herunter. Sollte Polizei vor Ort sein, würde es keinen guten Eindruck machen, wenn er mit quietschenden Reifen vor dem Haus eines Mordopfers hielt. Selbst wenn das Opfer sein bester Freund gewesen war. War … was für ein unglaubliches Wort im Zusammenhang mit Ludwig.
Lediglich eine Streife parkte auf dem Gehsteig vor dem Grundstück – für einen ordentlichen Parkplatz war die Straße zu schmal –, doch das genügte, um ihm einen Schlag in den Magen zu verpassen.
Er fuhr die Gasse weiter hinauf und stellte seinen BMW auf einem Rasenstück ab. Dann stieg er aus. Das Wissen, dass er diese Chance unbedingt nutzen musste, dass er es einzig hier und jetzt in der Hand hatte, sein Leben zu retten, verlieh ihm immerhin Willenskraft genug, um die zittrigen Beine unter Kontrolle zu bekommen.
Die wirren Gedankenfetzen, die seit dem Anruf heute Morgen sein Hirn malträtiert und ihm höllische Kopfschmerzen beschert hatten, waren wie weggeblasen. Sein Schädel pochte zwar, doch ansonsten fühlte er nur eine große Menge Nichts. Sein Kopf war so leer wie eine Western-Einöde, durch die Tumbleweeds wehen. Am liebsten wäre er nach Hause gefahren und hätte sich im Bett verkrochen. Bis zum Frühjahr.
Das Tor zum Grundstück stand offen. Er hielt nach dem obligatorischen gestreiften Polizeiband Ausschau, das er aus dem Fernsehen kannte, fand aber nichts dergleichen. Natürlich nicht, der Tatort lag neun Kilometer entfernt in der Innenstadt. In Ludwigs Büro.
Er duckte sich hinter einen Busch und hoffte inständig, dass ihn niemand entdeckte. Ein sechzigjähriger Anzugträger im Kaschmirmantel, der sich wie ein kleiner Junge im Gebüsch verschanzte, musste unweigerlich auffallen. In diesem Moment sah er etwas, das seinen Atem stocken ließ.
Frieda stürmte aus dem Tor.
Seine Hände fühlten sich augenblicklich glitschig an, als er sich bewusst machte, was es bedeuten würde, wenn sie einen Blick die Gasse hoch werfen würde, wo sein Auto stand. Halb schloss er die Augen, als könnte er sie auf diese Weise dazu bewegen, ebenfalls weniger zu sehen. Sie marschierte, ohne sich umzudrehen, die Haydngasse abwärts. Vor Erleichterung schloss er die Augen ganz. Er würde das Glück nur noch ein einziges Mal strapazieren müssen, nur für die nächsten zehn Minuten. Bitte. Danach würde er ein anständiger Mensch sein. Für immer.
Aus seinem Versteck beobachtete er den Eingang und versuchte zwischen zwei Möglichkeiten abzuwägen. Wobei er schnell merkte, dass er gar keine Wahl hatte. Es würde nichts bringen, förmlich an die geöffnete Tür zu klopfen und höflich zu fragen, ob man vielleicht eintreten und ein paar Dinge mitnehmen dürfe. Genauso zwecklos wäre es, der Polizei seine Hilfe anzubieten oder sich – offiziell – um die verwitwete, verwaiste Familie kümmern zu wollen. Nein, er musste es unbedingt vermeiden, sich der Polizei überhaupt zu zeigen. Seine einzige Chance bestand darin, ungesehen ins Haus zu kommen. Wilde Inkognito-Ideen stritten in seinem Hirn. Natürlich alles Unsinn.
Er musste unsichtbar werden. Und das ging nur auf eine einzige Weise. Er musste es irgendwie in den hinteren Garten schaffen, dort unbemerkt die schwere Falltür öffnen, die unter der Wiese begraben lag, und dann die etwa sechzig Meter durch den unterirdischen Gang bis direkt in Ludwigs Arbeitszimmer schleichen. Wo natürlich das nächste Problem auf ihn wartete: Ebendort würden sie am genauesten suchen.
Egal, es war der einzige Plan, den er hatte.
Der Drahtzaun, der den Garten begrenzte, war auf der linken Seite an einer Stelle undicht. Alexander wusste das, denn Ludwig hatte sich des Öfteren darüber beschwert, dass der Nachbarshund in seinen Garten gekrochen kam. Er konnte nur hoffen, dass eine Lücke, die groß genug für einen Ungarischen Hirtenhund war, auch ihn durchließ. In den Nachbarsgarten zu kommen stellte kein Problem dar, er war lediglich von Hecken umsäumt.
Er hatte so viel Glück, dass ihm für einen Moment ganz schwach wurde. Kein Hundegekläff war zu hören, als er sich durch die Zweige zwängte.
Geduckt schlich er an Ludwigs Zaun entlang. Es dauerte nicht lange, bis er die Stelle gefunden hatte. Sie war so groß, dass er zweimal durchgepasst hätte.
Er war drüben. Gebannt blieb er an den Zaun gedrückt hocken. Doch keiner der Kripobeamten hatte sich in den Garten verirrt.
In Hockstellung bewegte er sich ein paar Meter vorwärts. Mit klammen Fingern tastete er den feuchten Rasen ab. Hier irgendwo musste der schwere Eisenring sein. Er zwang sich ruhig zu bleiben, sein Blick unverwandt auf die Fenster gerichtet, während seine Hände ihre Arbeit taten.
Da, jetzt hatte er ihn. Mit beiden Händen befreite er die schwere Tür, auf der der Eisenring saß, von Erde. Im selben Moment wurde ihm bewusst, dass der Geheimgang nun sofort entdeckt werden musste, sobald man in die Nähe kam. Aber er hatte keine Zeit für Überlegungen. Sollte die Polizei das, wonach er suchte, vor ihm gefunden haben, dann brauchte er sich die nächsten Jahrzehnte um gar nichts mehr zu sorgen. Das würde dann der Staat für ihn erledigen.
Er zog an dem Ring, zerrte die Falltür in die Höhe, musste sie mit beiden Händen nach oben drücken, um hineinschlüpfen zu können. Seine Füße fanden keinen Halt auf der glatten Stiege. Ächzend prallte er mit dem Rücken auf die Steinstufen. Die Falltür schlug mit einem lauten Knall über ihm zu. Er starrte in die Dunkelheit. Wartete darauf, dass sie kamen.
Niemand kam.
Die Wände waren kalt und feucht, der Gang stockfinster, und er verfluchte sich dafür, dass er kein Feuerzeug dabeihatte. Dann fiel ihm ein, dass er sein Handy benutzen konnte. Mit Hilfe des Displays leuchtete er sich seinen Weg. Schritt für Schritt. Meter für Meter. Als er das Gefühl hatte, dass es sich höchstens noch um zehn, fünfzehn Fußlängen handeln konnte, die ihn von Ludwigs Arbeitszimmer trennten, lauschte er bei jedem Schritt, den er tat.
Die Bodenklappe, die aus dem Gang ins Arbeitszimmer führte, war aus dünnem Holz, wie er wusste. Ludwig hatte seit einem Jahr vorgehabt, beide Eingänge zum Geheimgang, sowohl den im Arbeitszimmer als auch den im Garten, mit einem Schloss zu verriegeln. Seine beiden Jungs waren in ein Alter gekommen, in dem sie sich auf eine aufregende Entdeckungsreise nur allzu gern eingelassen hätten. Und abgesehen davon, dass in der höhlenartigen Finsternis die Verletzungsgefahr viel zu groß war, vertrugen die Gespräche im Arbeitszimmer sicher keine Lauscher.
Alexander hangelte sich am Ende des Gangs mit den Händen die Treppe hinauf und drückte das Ohr gegen die Holztür.
Er vernahm entfernte Stimmen. Hauptsächlich tiefe Männerstimmen. Er konnte es nicht mit Sicherheit sagen, doch es klang, als hielte sich augenblicklich niemand im Zimmer auf. Jedenfalls waren weder Schritte zu hören noch das Aufziehen von Laden oder das Durchwühlen von Schränken. Und die Stimmen kamen aus anderen Räumen. Er wog das Risiko ab. Die Bodentür lag, unter einem Perserteppich verborgen, hinter einer kleinen, geschlossenen Bar. Sofern also niemand zufällig hinter die Theke schaute, konnte er unbemerkt aus dem Loch steigen, selbst wenn sich jemand in der Nähe aufhielt. Vorausgesetzt natürlich, er verursachte keinen Lärm.
Ein letztes Mal lauschte er angespannt, dann schloss er die Augen und drückte mit dem Kopf gegen die Bodentür. Sie gab ein knarrendes Geräusch von sich, das sein Trommelfell zum Schwingen und sein Herz zum Hämmern brachte. Panisch hielt er inne. Zwei Sekunden, drei Sekunden … dann gab er sich einen Ruck und stemmte mit aller Kraft seinen Hinterkopf dagegen.
Er musste die Schultern dazunehmen. Der Teppich, der auf der Falltür lag, war dick und schwer. Hektisch arbeiteten seine Hände daran, ihn wegzuschieben, so dass er sich aus dem Loch hieven konnte.
Ohne zu atmen lauschte er.
Die Stimmen waren nicht allzu weit entfernt. Er schätzte, dass sie aus der Halle kamen. Er zog sich an der Theke hoch, sein Blick schoss durchs Zimmer.
Leer.
Die schweren Flügeltüren jedoch waren geöffnet. Er zwängte sich unter den Schwingtürchen der Bar durch und kroch hinter den Schreibtisch. Er musste den Vorrat finden, die Liste finden, alle Hinweise auf seine Person finden und vernichten. An das Geburtstagsgeschenk mochte er gar nicht denken. Nein, das hatte nichts mit ihm zu tun. Er wollte es nicht. Er war nicht schuld. Der Reihe nach öffnete er die drei obersten Laden, tastete sich vorsichtig durch Schreibutensilien, Briefbögen und Büroklammern. Nichts. Die nächste Ladenreihe. Wieder nichts. Panisch riss er die beiden Kästchen auf, die sich links und rechts darunter befanden, steckte den Kopf hinein, stocherte verzweifelt nach hinten, fühlte, fasste, packte, doch nichts, das er in die Hände bekam, war von irgendeinem Nutzen für ihn.
Stimmen. Er stockte. Stimmen – und Schritte! Panisch kroch er unten den Schreibtisch, rollte sich zusammen wie ein Stein. Schritte von schweren Schuhen, ganz nah … er kniff die Augen zu – die Schuhe änderten ihren Kurs, nahmen die Treppe nach oben.
Er keuchte. Raus hier, raus! Gebückt floh er zur Bar, unter den Schwingtürchen durch, ins Loch hinein. Er packte den Griff der Falltür, wollte sie schließen, da fiel ihm der Teppich ein. Gott im Himmel! Verzweifelt versuchte er den Teppich über die Bodenklappe zu ziehen, so dass er, wenn sie geschlossen war, glatt darüber liegen würde.
Und wenn nicht, auch egal! Er musste weg.
Er kroch, krabbelte und robbte durch die Finsternis. Sein Atem schien ihm viel zu laut, als wäre das Geräusch auf Tonband aufgenommen und würde extra eingespielt.
Mit jedem Meter, den Alexander vorwärtskam, schlüpfte er weiter aus seinem Körper. Schließlich war er nur noch ein Beobachter, der diesem ungelenken Anzugträger dabei zusah, wie er sich über Stein und Schmutz quälte. Die Distanz zu dem hechelnden Mann wurde immer größer.
Bis seine rechte Hand sich in einem Haarbüschel verfing. Da kehrten die Gefühle in Alexander Strehls Körper zurück.