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Vorwort: Orientierung in unübersichtlichen Zeiten

Wir leben in unübersichtlichen Zeiten. Wirtschafts- und Klimakrise, Flüchtlingsbewegung, Brexit, wachsende rechtsextreme Kräfte, seit knapp eineinhalb Jahren nun die Corona-Krise und vieles mehr. Wo und vor allem wie soll eigentlich politisch angesetzt werden?

Deutlich wurde in den letzten Jahren aber auch: Debatten um Commons, Klimagerechtigkeit und Degrowth werden nicht nur in den materiell reichen Ländern geführt, sondern weltweit. Weithin dominiert das Wachstums- und Modernisierungsparadigma, wie sich etwa in den Strategien für ein »grünes Wachstum« zeigt. Die Europäische Union möchte mit ihrem »Grünen Deal« und viel Geld für klimapolitische Maßnahmen im Rahmen des Aufbau-Fonds nach der Coronakrise den Herausforderungen gerecht werden. Doch viele Studien zeigen, dass grünes Wachstum vielleicht das Ziel erreicht, Europa zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen, aber nicht zur Vorreiterin beim Kampf gegen die Klimakrise.

Und doch zeigen sich insbesondere seit der Krise 2008 Brüche. Über Pfingsten 2020 etwa veranstalteten wir in Wien die 7. Internationale Degrowth-Konferenz unter dem Titel »Strategien für sozial-ökologische Transformation«. Hier wurde auf hoher analytischer Ebene und politisch engagiert eine Perspektive diskutiert, welche die kapitalistischen Wachstumszwänge zurückdrängen und tendenziell überwinden möchte. Das Thema der »Wachstumsrücknahme« drängt immer stärker auf die Agenda progressiver gesellschaftspolitischer Akteure.

»Adieu, Wachstum!« ist also ein sehr angemessener Titel für das Buch von Norbert Nicoll. Es zeigt, wie zum einen die herrschenden Wachstumsorientierungen immer problematischer werden, Unmut und Krisen erzeugen. Zum anderen ist es eine Forderung. Es gilt, viele Debatten voranzubringen, Initiativen zu stärken und Auseinandersetzungen zu führen. Dafür bedarf es guter Analysen – und diese liegen mit dem Buch vor. Norbert Nicoll ist in der Lage, viele Zusammenhänge herzustellen. Er spannt einen weiten Bogen von der Geschichte des kapitalistischen Wachstums, seiner sozialen und biophysikalischen Basis über die aktuelle Vielfachkrise und unzureichende Politiken bis hin zu den problematischen Formen der Subjektivierung. In seinem Buch »Gut leben ohne Wachstum« geht er auf die Frage des »Was tun?« und auf vielfältige Alternativen ein.

Die Lektüre des hier vorliegenden Buches, das für die zweite Auflage deutlich erweitert und aktualisiert wurde, lässt mich nicht nur vorzüglich informiert und voller Ideen zurück, sondern auch mit einigen Fragen. Auch das zeichnet ein derart gutes Buch aus. Trotz der präzise beschriebenen multiplen oder Bio-Krise, ihre kapitalistisch-neoliberalen Ursachen und insbesondere ihre ökologischen Dimensionen bleibt aus meiner Sicht ein analytisch wie politisch wichtiger Aspekt offen – nicht, dass er im Buch fehlte, sondern als historisch offene Frage, die ich mit dem Verweis auf die aktuellen EU-Politiken oben andeutete: Kann der Kapitalismus, in seiner neoliberalen und autoritären Version oder gegebenenfalls auch in einer mehr staatsinterventionistischen Variante, sich nicht doch teilweise auf die ökologische Krise einstellen und neue Akkumulationspotentiale erschließen? Nicht in dem Sinne, dass die ökologische Krise gelöst werden würde, aber dahingehend bearbeitet, dass viele der Nutznießer von heute eben doch eher unter einigermaßen erträglichen Verhältnissen leben – und weiterhin auf Kosten anderer. Damit verbunden ist ein zweiter Aspekt. Die kapitalistisch getriebene Wachstumsfixierung führt immer mehr zur Destabilisierung unserer Gesellschaften – die Finanzmärkte leben geradezu von instabilen Gesellschaften. Ressourcenkonflikte werden zunehmen, aber auch die Konflikte um die Externalisierung der ökologischen Kosten. Wo finden die negativen Auswirkungen des Klimawandels statt? Wohin werden der Müll und Elektroschrott exportiert und dann gelagert?

Doch wir können eine Erfahrung nicht einfach übergehen – und diese stellt die Suche nach Alternativen vor ernsthafte Herausforderungen: Eben jene Erfahrung, dass in bestimmten Phasen das kapitalistische Wachstum durchaus zur Verbesserung der Lebenssituation mehr oder weniger breiter Bevölkerungsschichten führt.

Gerade in den sogenannten Schwellenländern, aber auch in anderen Ländern, die Rohstoffe exportieren, hat sich zwischen der Jahrhundertwende und etwa 2012/2014 eine Konstellation gebildet, in der die Wirtschaften stark wuchsen, Arbeitsplätze geschaffen wurden, die Staaten mehr Einnahmen hatten und sich eine mehr oder weniger große Mittelschicht herausgebildet hatte. Diese in Ländern des globalen Südens frische Erfahrung wurde in Westeuropa, den USA und Japan nach dem Zweiten Weltkrieg von großen Teilen der Bevölkerung gemacht. Das Buch von Norbert Nicoll zeichnet sich dadurch aus, dass es diese Erfahrungen nicht mit einer überheblichen Geste beiseite wischt à la »Das ist ja eh alles Kapitalismus!«. Doch auch unter kapitalistischen Bedingungen stellen sich höchst unterschiedliche Lebenschancen ein.

Eine letzte Anmerkung noch zum Entstehungsprozess des überaus lesenswerten Buches: Der aktuelle Wissenschaftsbetrieb, der immer spezialisierter wird und kaum noch einen Blick fürs Ganze entwickelt, ist vielleicht systematisch nicht in der Lage, in größeren Zusammenhängen zu denken. Der Sozialwissenschaftler und politisch engagierte Norbert Nicoll arbeitet als Gymnasiallehrer und ist wohl gerade aus solch einer Position in der Lage, eine breite und wissenschaftlich überaus fundierte Perspektive einzunehmen – die in diesen unübersichtlichen Zeiten so wichtig ist, aber eben von der etablierten Wissenschaft kaum eingenommen wird.

Prof. Dr. Ulrich Brand, Universität Wien

Adieu, Wachstum!

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