Читать книгу Food Code - Olaf Deininger - Страница 10

Wenn die DNA-App den Speiseplan bestimmt

Оглавление

Die Analyse der Daten aus Tracking-Apps und aus Selbstversuchen mit unterschiedlichen Rezepturen sind dabei nur zwei Verfahren, um eine rationale und mathematisch quantifizierbare Rohstoff-Zusammenstellung für eine optimale, aber unkomplizierte Vollwerternährung zu erreichen. Eine Analyse der Darmflora und ihrer Mikroben bieten Startups wie etwa Viome, UBiome, Day Two und MyMicrobes an. Zu Beginn des Abonnements dieser digitalen Dienste schickt man eine Stuhlprobe ein, die analysiert wird. Auf Basis dieser Daten erstellen die Algorithmen der Startups dann einen individuellen, an die Verdauung angepassten Ernährungsplan und senden diesen persön lichen Food Code dann an die zugehörige App.

Andere Startups, wie etwa Atmo Biosciences im australischen Melbourne, nehmen mit einer »Atmo Capsule« Messungen im Körperinneren vor: »Unsere schluckbare smarte Pille ist die weltweit erste patentierte Lösung zur genauen Profilierung der Gase im Darm«, sagt Geschäftsführer Malcolm Hebblewhite. Die Kapsel erkennt und meldet unterschiedliche Gaskonzentrationen in Echtzeit, die als Indikator für bestimmte Krankheiten dienen, in der Welt der Experten »Biomarker« genannt. Das autonome Diagnosewerkzeug soll etwa Reiz darmsyndrome, chronisch-entzündliche Darm erkran kun gen, krankhafte Kohlenhydratabsorption und Kohlenhydratunverträglichkeiten erkennen können.

Auch die eigene DNA kann als Grundlage dienen, um eine optimale Ernährung zu definieren. Anbieter wie zum Beispiel 23andme, DNAfit oder Habit bieten »Lifestyle-DNA-Analysen« von eingesandten Speichelproben an. Wie tief die Analyse gehen soll, ob nur die Anfälligkeit für Übergewicht oder die Vitaminverträglichkeit getestet werden soll, hängt davon ab, wie viel der Kunde zu zahlen bereit ist. Die Ergebnisse kommen als digitale Daten direkt per App aufs Smartphone. Oder man bekommt von der Firma DNA Nudge gleich einen kompletten Einkaufsplan auf Genom-Basis: »Shop with your DNA«, lautet der Slogan. Ende 2019 konnten interessierte Londoner im Pop-up-Store des Startups DNA Nudge gleich vor Ort einen DNA-Schnelltest machen lassen, mit dessen Daten ein digitales Armband gefüttert wurde. Scannt man mit dem Gerät am Arm den Barcode von Lebensmittelprodukten ein, leuchtet eine kleine personalisierte Lebensmittelampel am Handgelenk rot oder grün auf – je nachdem, ob es laut Software zur DNA des Trägers passt oder nicht.

Wer dagegen der Ansicht ist, dass für die optimale Gesundheit eher Wirkstoffe von Pflanzen förderlich sind, der ist bei Brightseed an der richtigen Adresse. Das selbst ernannte »Google für Pflanzeneigenschaften« analysiert sogenannte Phytonährstoffe. Diese sekundären Pflanzenstoffe sind chemische Verbindungen, welche die Pflanze für sich selbst nicht braucht, die aber eine große Bedeutung für die menschliche Ernährung haben könnten – wissenschaftlich ist das noch nicht genau nachgewiesen: »Brightseed entstand aus der Überzeugung heraus, dass wir einen natürlichen und proaktiven Ansatz für Gesundheit brauchen und dass die verborgenen Nährstoffe der Pflanzen, die wir in unsere Ernährung aufnehmen können, der erste Ort sind, an dem wir suchen sollten«, sagen die Gründer. Mithilfe von künstlicher Intelligenz und der Analyse von sehr großen Mengen von Gesundheitsdaten sucht Brightseed nach bislang unentdeckten Phytonährstoffen, die unsere Ernährung verbessern könnten.

Im Jahr 2007 gründeten die beiden amerikanischen Wired-Journalisten Gary Wolf und Kevin Kelly die Website quantifiedself.com. Zunächst fanden sich dort einige Gleichgesinnte aus der Region um San Francisco zusammen, um ihre Self-Tracking-Erfahrungen online auszutauschen. In den folgenden Jahren entstanden auf der ganzen Welt weitere Quantified-Self-Gruppen. Seit 2011 finden internationale Konferenzen mit Anwendern, Entwicklern, Journalisten und Unternehmensvertretern aus der Gesundheitsbranche statt. In Deutschland existieren mittlerweile Gruppen in Aachen, Berlin, Hamburg, Köln, München und Stuttgart. Heute beschreibt sich The Quantified Self als ein Netzwerk aus Anwendern und Anbietern von Methoden und von Hard- und Softwarelösungen, mit deren Hilfe umwelt- und personenbezogene Daten aufgezeichnet, analysiert und ausgewertet werden können: »Wir haben ein gemeinsames Interesse an der Selbsterkenntnis durch Zahlen«, lautet das Credo dieser Bewegung. Ihre Vorstellung ist, dass der Mensch eine Art Maschine sei. Ganz so, wie es et liche Illustrationen aus dem 19. Jahrhundert nahelegen. Darauf ist der Verdauungstrakt etwa als Fließband dargestellt, an dem Maschinen die Nahrung zerkleinern, andere Maschinen Nährstoffe aus dem Nahrungsbrei saugen, in Energie umwandeln und diese über ein Rohrsystem in den Kreislauf bringen, zu den Kraftzentren, den Muskeln.

Diese Vorstellung erlebte mit der Digitalisierung in technikaffinen Szenen und Communities ein Comeback – wenn auch in anderer Form: Der Körper ist zwar immer noch eine Maschine, aber eine intelligente, eine programmierbare und eine sensible, die optimiert werden müsse und durch das Betanken mit dem besten Treibstoff die effektivsten Ergebnisse liefert. Lebensmittel geben mehr oder weniger guten Brennstoff ab. Der Körper ist ein Überwachungs- und Optimierungsraum, den wir möglichst gut beobachten und einstellen müssen.

So versprechen viele neue digitale Produkte und auch etliche Web-Influencer Heilung oder zumindest einen »gesünderen Lebensstil«, einen Schutz vor Krankheit und eine Verlängerung des Lebens.

Nicht selten beinhaltet das Narrativ der neuen Digital-Unternehmer in diesem Bereich auch Heilungserlebnisse von mehr oder weniger schweren Krankheiten.

Der israelische Historiker Yuval Noah Harari spricht in seinem Buch Eine kurze Geschichte der Menschheit von einer »Silicon Valley Religion« und »Silicon Valley Gurus«, für die der »Tod nur ein technisches Problem ist«, das gelöst werden kann: »Auf kommerzieller Ebene ist die Gesundheit der ultimative Markt. Andere Märkte sind endlich, sie sind erschöpfbar. Es gibt beliebig viele Autos, Schuhe oder Lebensmittel, die man besitzen kann. Aber Gesundheit ist ein unendlicher Markt – man kann nie genug davon haben.«

So entsteht ein neues Körperbild, und die Zahl der Menschen wächst, die sich und ihre Körper mithilfe von Daten aus DNA- oder Darmflora-Analysen, vernetzten Armbändern, Smartphones und an deren Gadgets selbst überwachen. Und ganz gleich, ob Fitness-, Diät- und Gesundheits-Apps die Menschen tatsächlich gesünder oder zufriedener machen, sie wachsen bei vielen regelrecht »am Körper oder am Leben fest«.

Studien der englischen Wissenschaftlerin Rachael Kent zeigen, dass die ständige Selbstüberwachung durch Gesundheits-Software und Fitness-Gadgets Angst und Suchtverhalten, Scham- und Schuldgefühle auslösen kann: »Der eigene Selbstwert hängt an Leistungsdaten, welche die App permanent ermittelt.«

Die Soziologin Deborah Lupton vermutet, dass Gesundheits-Food-Apps eine »Mensch-App-Assemblage« schaffen. Apps und Wearables werden damit »aktive Teilnehmer an der Ausprägung des Körpergefühls und Selbst-Bewusstseins«. Die Handlungskompetenz, also die Fähigkeit, sich in der heutigen Lebensmittelwelt zurechtzufinden, werde dabei auf zwei Akteure verteilt: den Menschen und seine App. Das Körperbild verändere sich, der Mensch vertraue den eigenen Sinnen, dem eigenen Bauchgefühl immer weniger, denn das erledige die Technik für ihn. Er entfremde sich von sich selbst.

Zudem zeigen die Untersuchungen von Lupton, dass die Regelwerke, Normvorgaben und Zielwerte vieler Fitness-Apps auf den »Werten« der wohlhabenden weißen Ober- und Mittelschicht der west lichen Welt basieren. Diese Gruppe wolle abnehmen oder zumindest ihr Gewicht halten und körperlich fitter werden. Nur diese Menschen haben überhaupt Zeit, die existierenden Apps mit den nötigen Informationen zu füllen. Wer diesem Körperideal nicht entspricht, wie etwa andere Ethnien, Vorerkrankte, Menschen mit einem anderen Körperbau oder mit anderen Werten, ist als Nutzer schnell frustriert. Und fühlt sich ausgegrenzt, im schlimmsten Fall diskriminiert.

Food Code

Подняться наверх