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Künstliche kulinarische Intelligenz

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Es ist eine riesige Zahl: 6,1 Millionen Tonnen Lebensmittel landen jedes Jahr aus deutschen Küchen im Mülleimer. Pro Kopf sind es rund 75 Kilogramm, fanden die Forscher am Thünen-Institut Ende 2019 im Auftrag des Bundesernährungsministeriums heraus.

Mit einer groß angelegten Kampagne »Zu gut für die Tonne« versucht Ernährungsministerin Julia Klöckner daher, die Bürger zu »leckeren Restegerichten« aus übrig gebliebenen Lebensmitteln zu inspirieren, unter anderem mit einer »Beste Reste-App« fürs Smart-phone, die mit Klassikern wie »Arme Ritter« und »neuen Kreationen und pfiffigen Beilagen aus wenigen Zutaten« aufwartet. 661 Rezepte finden sich in der App, unter anderem von prominenten Kochpaten wie Sarah Wiener, Johann Lafer oder dem Schauspieler Daniel Brühl.

Doch was tun mit einem halben Brokkoli und einer Pastinake, die noch im dunklen Kühlschrank vor sich hin dämmern? Die Reste-App der Ministerin bietet für dieses Problem genau 0 Rezeptvorschläge. Bei der Eingabe von übrig gebliebenen Bohnen gelangt man immerhin zu einem Rezept von Sternekoch Harald Wohlfahrt. Eine »Gemüseterrine mit Ziegenquark und Pesto« schlägt er vor. Dazu benötigt man neben den 150 g Bohnen 15 weitere Zutaten, darunter »5 EL Creme Double«, Mangoldblätter und »150 g Spargel«. Das ist keine Lösung der akuten Restelage in der Küche.

Für die lernenden Algorithmen, die ein junges Team rund um den dänischen Gründer Michael Haase in Kopenhagen entwickelt, wäre diese Situation dagegen ein gefundenes Fressen. Haase und sein Team haben mit ihrer App Plantjammer das Prinzip eines Kochbuchs quasi auf den Kopf gestellt. Nach der Eingabe übrig gebliebener Zutaten schlägt die App zunächst mehrere Basisrezepte vor. Die künstliche kulinarische Intelligenz aus Dänemark macht anschließend Vorschläge, wie man die vorhandene Gemüsekombination interessanter machen kann. Soll es knuspriger, würziger oder süßer werden? Erst nachdem die Vorlieben und Wünsche eingegeben sind, generiert der Algorithmus das passende Rezept aus der individuellen Kombination, inklusive aller nötigen Zutaten, der passenden Kochanleitung und einer Einkaufsliste. Alles jederzeit frei modulier- und anpassbar. Wer mit der finalen Einkaufsliste in den Supermarkt geht, um noch ergänzende Zutaten zu kaufen, bekommt von der App Sonderangebote von bald ablaufenden Lebensmitteln angezeigt. Um all das zu können, wurden die Algorithmen mit zahllosen Aromaprofilen von Zutaten, Rezepten und passenden Geschmackskombinationen trainiert. Das Ziel von Haase ist es, zu einem nachhaltigeren Lebensstil zu inspirieren. Dass dabei Ressourcen gespart und Lebensmittelabfälle reduziert werden, sind erfreuliche Mitnahmeeffekte. Seit 2018 ist der deutsche Küchenhersteller Miele an diesem Startup beteiligt.

Von künstlicher Intelligenz generierte Rezeptvorschläge aus bereits vorhandenen Zutaten macht auch die App Wellio. Als Basis dienen ihr dabei nicht nur Vorlieben und Gesundheitsziele der Nutzer, sondern gleich die gesamte Vorratskammer, die von der App digital mit Check-ins und Check-outs von gekauften oder gegessenen Lebensmitteln geführt wird. Wellio ist darüber hinaus direkt an einen Lieferservice angeschlossen, der – wenn etwas fehlen sollte – in zwei Stunden die entsprechenden Zutaten liefert. Wer danach Hilfe beim Zubereiten der Speisen braucht, findet in der App ein Assistenzsystem, das mit nützlichen Tipps und Videos weiterhilft. »Unsere Mission ist die Decodierung, wie Mahlzeiten zu Hause zubereitet und genossen werden«, heißt es auf der Webseite des Startups von Gründer Tjarko Leifer, der vor der Gründung von Wellio die globale Strategie der Monsanto-Tochter »The Climate Cooperation« verantwortete. 2018 schluckte der drittgrößte Lebensmittelhersteller der USA Kraft Heinz die Wellio-App und integrierte das Team anschließend in den eigenen Digital Hub in San Francisco.

Genau zu wissen, was in den Schränken der Kunden lagert – ob gekühlt oder nicht –, wird besonders für Küchengerätehersteller immer interessanter. Das gilt insbesondere, wenn sich diese private Lagerhaltung mit dem Online-Lebensmittelhandel und den Geräten zur Zubereitung verknüpfen lässt. Chefling ist ein weiterer digitaler Küchenassistent aus dem Silicon Valley, der Lebensmittelvorräte verwaltet und personalisierte Rezeptvorschläge liefert und seit 2019 zu einem Drittel der Bosch-Tochter BSH-Hausgeräte gehört.

Die Kühlschränke der Zukunft sind auf diese neue Welt und entsprechende Datenströme bereits bestens vorbereitet. Der Hersteller Whirlpool meldete schon 2018 ein Patent für ein »System zur Erkennung und Analyse von Interaktionen« in Kühlschränken an. Auf den zum Antrag gehörenden Skizzen sind Kameras zu sehen, die automatisch erkennen, welche Lebensmittel in den Kühlschrank gelegt oder entnommen werden. Auf der Elektronikmesse CES 2020 in Las Vegas präsentierte Samsung die neueste Generation ihres Family Hubs: einen Kühlschrank, ausgestattet mit großem Touchscreen und Kameras im Inneren, die mithilfe von KI Lebensmittel erkennen und »verbesserte, durchdachtere Essensplanung und Rezeptvorschläge« machen sollen, »die auf persönliche Vorlieben zugeschnitten sind«. Dabei soll die gesamte Planung der Mahlzeiten vom Supermarkt bis zur häuslichen Küche dank Samsung rationalisiert werden. Um die Lieferungen zu koordinieren und Mahlzeiten zu planen, bieten Samsung-Kühlschränke eine Anbindung an Googles Kalenderfunktion. 2015 gelang es den Cybersecurity-Experten Pen Test Partners, einen Vorgänger des Family Hubs, den RF28HMELBSR Smart Fridge, zu hacken und so an die Log-in-Daten der Google-Konten zu kommen. Samsung musste zähneknirschend bei der Datensicherheit nach bessern.

Um aus seinen Kühlschränken Einkaufszentren in der Küche zu machen, sucht Samsung den Austausch mit etablierten Firmen, aber auch mit Startups. 2016 verkündete der Konzern eine Partnerschaft mit Nestlé. 2019 kaufte man das Startup Whisk des 32-jährigen Gründers Nick Holzherr aus Birmingham. Seine App Whisk kann aus Rezepten praktisch jeder beliebigen Webseite automatisch Einkaufslisten generieren und diese inklusive der passenden Kochanleitungen speichern. Der Algorithmus von Whisk kennt Zutaten, ihre Verfalls daten und auch die Verbindung zum passenden Händler, der die Zutaten liefern könnte. Mit Kooperationspartnern wie Mondelez, Kellog’s, Uni lever, AmazonFresh, Tesco und Walmart sieht sich Whisk inzwischen als Knotenpunkt der größten Player im Lebensmittelökosystem. »Wir arbeiten mit den weltweit führenden Marken, Lebensmitteleinzelhändlern, Verlagen, Gesundheitsunternehmen und Geräteherstellern zusammen, um alle Berührungspunkte der Reise entlang der Leben smittelkette zu verbinden und so Erlebnisse zu schaffen, die für alle ansprechender, einfacher und besser sind«, verkündet man inter essierten Businesskunden. Partner der App profitieren von angeblich 500 Millionen »Food-Interactions« pro Monat, 16 Millionen am Tag.

Das kann die digitale Küche in Zukunft:

Smarte Küchengeräte verfügen über immer mehr Rechenpower, Speicher und Sensoren. Sie können so präziser, individueller und mit größerem Rezeptwissen als digitalisierte Helfer in der Küche agieren.

Produktionsmethoden, die vorher großen Industrieanlagen, dem Lebensmittelhandwerk oder professionellen Gärtnereien vorbehalten waren, ziehen durch digitale Präzisionssteuerung in die Haushaltsküche ein.

Küchengeräte werden zu neuen Datenzentren im Haushalt, die jede Zutat, jedes Rezept, jeden Zubereitungs- oder Kochvorgang registrieren, verarbeiten und abspeichern.

Zur Steuerung, Vernetzung und Kontrolle von Geräten und Speisekammer entstehen neue Betriebssysteme.

Küchengeräte werden durch die umfassende Vernetzung zu neuen Einflugschneisen des Lebensmittelhandels direkt in die Küche.

Wenn man den Referenten und Teilnehmern der Podiumsdiskussionen auf Konferenzen wie der Seed & Chips in Mailand lauscht, gehört die Zukunft der Küche eindeutig den digitalen Geräten, die sich mit einem Lieferdienst verbinden. Wer es schafft, die Unterstützung bei der Arbeit in der Küche mit der Unterstützung beim Einkaufen und der Lieferung zu verbinden, wird der Gewinner in diesem neuen digitalen Markt sein. Dies mag für Lebensmitteleinzelhändler und Marken verlockend klingen, da sie über Millionen neuer, vernetzter Geräte einen direkten Zugang in die Küchen ihrer Kunden bekommen.

Die Frage ist allerdings, ob die neuen Betriebssysteme für die Küche den Supermarkt von nebenan, den regionalen Joghurt-Hersteller oder bäuerlichen Direktvermarkter noch mitspielen lassen. Die Marktmacht, die bereits existierende Betriebssysteme wie Windows oder Apple mit seinem App-Store ausüben, wird von den Kartellbehörden immer wieder beklagt und auf eine Klage hin geprüft. Händlern wie Amazon wird inzwischen vorgeworfen, neben Produkten, die auf ihrer Plattform angeboten werden, in dem Moment, in dem eine erhöhte Nachfrage besteht, ein vergleichbares Produkt der Eigenmarke AmazonBasics anzubieten und so den ursprünglichen Anbieter zu verdrängen.

Die Küche der Zukunft könnte der nächste Ort sein, in der ungeahnte Oligopole oder gar Monopole entstehen. »Küchen werden in Zukunft mehr über uns wissen als unser Partner oder wir selbst«, ließ Zalmi Duchman, der Gründer des Sous-vide-Garers CookMellow, die Zuhörer auf der Seed & Chips wissen. Die Frage ist, ob wir das wollen und was diese Entwicklung für unsere Freiheit in der Küche bedeutet.

Wer meint, dass diese Zukunft noch in weiter Ferne liegt, sollte einen Blick auf die Gefriertüten von Toppits werfen. Seit 2018 finden sich dort kleine Smartphone-Piktogramme und daneben ein indivi dueller Code für jede Tüte. Noch werden diese nicht automatisch in die zugehörige Foodsaver-App des Folienherstellers eingepflegt, das muss jeder Kunde noch händisch tun. Mit dem Smartphone kann man so sein Gefrierfach verwalten und kontrollieren. Auf Wunsch erinnert einen die App daran, Eingefrorenes zu genießen, bevor es schlecht wird. Die Informationen über eingefrorene und registrierte Erbsen, Kuchenstücke oder Würste lagern höchstwahrscheinlich in Datenzentren in Frankfurt oder London. So genau weiß das keiner. Der verantwortliche Anbieter gilt als nicht besonders gesprächig, was diese Details angeht. Wer es dennoch genau wissen will, müsste in Mountain View in Kalifornien vorstellig werden. Die App der zur Melitta-Gruppe gehörenden Firma Toppits aus Minden basiert auf der Google-Technologieplattform Firebase.

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