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Verschiedene Welten
ОглавлениеEine Reise ist immer auch eine Eroberung. Wenn wir uns auf den Weg machen, begleitet uns unser Ozean an Bedeutungen, Begriffen, Klischees, mentalen Gepflogenheiten. Seine Wellen überspülen, was wir außerhalb unseres Selbst vorfinden. Was wir bereits wissen, bereits begriffen haben, ergießt sich auf diese andere Welt. Derlei Eroberungen werden möglich dank der Reiseführer, die immer besser wissen, welche Orte wir besuchen, was wir besichtigen sollten. Willkürlich stecken sie die Grenzen unserer Wahrnehmung ab, denn was im Reiseführer nicht vermerkt ist, existiert auch nicht. So absolvieren wir festgelegte Touren, auf denen wir fieberhaft suchen, was wir sehen müssen. Und sehen dann auch nichts anderes.
Reiseführer sind nach wie vor ein Thema für eine eigene Monographie. Ihnen ist zu entnehmen, wie wir uns das Fremde anzueignen versuchen, indem wir es in unseren Erkenntnisradius integrieren. Allem Anschein zum Trotz richten sie sich nicht an die Allgemeinheit, sondern immer an eine bestimmte Zielgruppe mit spezifischen Eigenschaften, und diesen Aspekt ebenso wie die politischen Implikationen sollten wir nie aus den Augen verlieren. Eben hier sollten wir ansetzen nachzudenken, was wir denn eigentlich betrachten.
Ich habe einmal zwei Reiseführer durch eine bestimmte Region Polens durchgesehen – einer verfasst von Katholiken, der andere von Juden. Sie waren völlig voneinander verschieden. Reisende der beiden Gruppen würden wahrscheinlich wie Schatten aneinander vorübergleiten, womöglich, ohne einander zu bemerken. Die Routen hätten keine Schnittpunkte, weil die Reiseführer so gänzlich verschiedene Erfahrungen, so gänzlich verschiedene Blicke auf die Vergangenheit vermitteln. Ja, wir dürfen sagen, dass die Reisetagebücher dieser beiden Gruppen – so sie denn welche führen würden – von zwei verschiedenen Welten sprechen müssten.
Existiert denn überhaupt die eine Welt, unus mundus, die die Philosophen sich zurechtgeträumt hatten? Ein großes, neutrales Universum, in dem wir die Möglichkeit haben, einander zu begegnen und im anderen den Nächsten zu erkennen. Oder leben wir, die wir uns in der einen räumlichen Sphäre befinden, in Wahrheit in den jeweils eigenen Phantasmen?