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Die Masken der Tiere

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Das Leiden eines Menschen ist für mich leichter zu ertragen als das Leiden eines Tieres. Der Mensch hat einen eigenen, ausgearbeiteten und allseits propagierten ontologischen Status, was ihn zu einer privilegierten Gattung macht. Er hat Kultur und Religion, die ihm im Leiden beistehen sollen. Er hat seine Rationalisierungen und Sublimierungen. Er hat seinen Gott, der ihn am Ende erlöst. Das menschliche Leiden hat einen Sinn. Für das Tier gibt es weder Trost noch Linderung, denn auf das Tier wartet keine Erlösung. Für das Tier gibt es auch keinen Sinn. Sein Körper gehört ihm nicht. Es hat keine Seele. Das Leiden des Tieres ist ein absolutes, totales.

Wenn wir versuchen, uns diese Tatsache mit unserer menschlichen Fähigkeit zu Reflexion und Mitgefühl zu vergegenwärtigen, dann offenbart sich uns das ganze Grauen des tierischen Leidens und mit ihm das entsetzliche, kaum erträgliche Grauen der Welt.

Im vorsokratischen antiken Griechenland galt ein Trilog. Er bestand aus drei einfachen Geboten, die Pythagoras und dessen Schüler formuliert hatten: Ehre die Eltern, bringe den Göttern Fruchtopfer dar, verschone die Tiere. Diese Gebote verweisen denkbar lakonisch auf die drei wichtigsten Sphären des menschlichen Lebens: erstens die grundlegenden sozialen Bindungen, zweitens den weitgefassten Bereich der Religion und drittens den würdigen Umgang mit Tieren. Sie geben kein konkretes Verhalten vor, doch sie weisen die Richtung. Sie sind mehr Ge- als Verbote und lassen Raum für Interpretationen. Ihre Nichterfüllung weckt Schuldgefühle, Scham, moralisches Unbehagen. Man muss sie nicht konkretisieren.

Während aber die beiden ersten Gebote uns auf umfassend kodifizierte Systeme verweisen – das soziale und das religiöse –, und sich auf klar ausformulierte, allgemein transparente Normen und Rituale stützen, ist das Verhältnis des Menschen zu den Tieren nicht auf vergleichbare Weise reguliert (abgesehen vielleicht von den im Alten Testament enthaltenen Speisevorschriften) und bleibt deshalb dem menschlichen Gewissen überlassen. Somit wird es zu einer ethischen Frage, das heißt, wir können abwägen, was zu tun und was zu unterlassen ist.

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