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Der Verstand steht kopf oder Die Umkehrung der Perspektive. Michel Faber, Die Weltenwanderin
ОглавлениеIn diesem Roman findet die Forderung nach dem Einsatz von Empathie als Mittel der Erkenntnis ihre volle literarische Umsetzung. Der Kunstgriff ist einfach. Die gewohnte und von uns fraglos hingenommene Struktur der Bedeutungen wird plötzlich auf den Kopf gestellt. Faber kehrt die Perspektive radikal um.
Die Ausgangssituation ist folgende: Wir werden Zeugen einer Jagd. Ein Exemplar einer Gattung jagt Exemplare einer anderen Gattung. Nach dem Fang werden sie einer speziellen Mast unterzogen, der gefangene Körper wird als Objekt behandelt, als potenziell wertvolle, gefragte Nahrung. Wenn die gewünschte Fleischqualität erreicht ist, wird das gemästete Exemplar getötet, sein Fleisch portioniert und verkauft.
Eine banale Geschichte. Was ist so schockierend daran? Das Mästen von Exemplaren anderer Gattungen ist eine Tatsache, niemand stört sich daran. Es handelt sich um eine vertraute Situation in der Natur – eine Gattung beutet die andere aus.
Doch Die Weltenwanderin füllt das Schema »A mästet und frisst B« mit anderen Daten. Ein scheinbar kleiner Kniff macht das Buch zu etwas Entsetzlichem, zu einem Albtraum: Das Mastvieh ist hier der Mensch, der Homo sapiens, und gemästet wird er von einer anderen, nichtmenschlichen (aber auch nicht tierischen) Gattung. Diese Wesen erinnern an Hunde oder Wölfe; ihr Verständnis vom Unterschied zwischen ihnen selbst und den Menschen (die sie »Wotzel« nennen) ist im Grunde oberflächlich – aber uns nur allzu gut bekannt. Weil sie selbst Vierbeiner sind, fühlen sie sich den Schafen näher als den zweibeinigen, felllosen Menschen. Sie würden niemals Schaffleisch verzehren; sie hätten dann das Gefühl, Schafe seien ihnen »zu nah«. Die äußeren Merkmale des Menschen machen ihn »essbar«.
Eigentlich kennen wir dieses Gefühl. Wir essen keine Affen – sie sind uns zu ähnlich.
Den Kern von Die Weltenwanderin bildet die Infragestellung der einfachsten, atavistischen Unterscheidung zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Der Autor lenkt die Erzählung so, dass wir uns unwillkürlich mit dem Fremden identifizieren. Er manipuliert unseren Verstand und unser Empfinden (einschließlich der Fähigkeit zur Empathie), damit wir der Logik des Fremden folgen. Er desorientiert und täuscht uns, sodass wir alle perzeptiven Gewohnheiten aufgeben und die eigene Gattung verraten. Faber relativiert damit unsere moralischen Gepflogenheiten und demonstriert, wie leicht es uns fiele, den größten Albtraum und das größte Verbrechen als Normalität zu akzeptieren. Dazu genügt ihm das typische menschliche Instrumentarium: Verstand, Gewohnheit, Identifikation und Rationalisierung.
Faber zeigt das größte Paradoxon der Empathie: Uns selbst aufzugeben, ist vielleicht unsere einzige Chance, etwas zu werden, was unser Gegenteil ist. Wenn die Fremdheit nicht, wie man erwartet hätte, radikal ist, verliert sie ihre magische, bedrohliche Macht. Das Fremde wird zu etwas, was sich begreifen und verstehen lässt. Eigentlich hört es auf, fremd zu sein. Es gibt kein Eigen und kein Fremd. Wir sind alle eigen, und alles Böse, das wir anderen zufügen, fügen wir deshalb uns selbst zu.