Читать книгу Übungen im Fremdsein - Olga Tokarczuk - Страница 13
Kilometer um Kilometer
ОглавлениеVor Kurzem erzählte mir ein Siebzigjähriger, wie Reisen in der Zeit der Blumenkinder ausgesehen hatten. Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts kaufte sich der rebellisch farbenfrohe Mensch des Westens einen billigen Gebrauchtwagen, am besten einen Bulli, und machte sich auf den Weg nach Indien. Dafür brauchte man damals entschieden mehr Zeit, als wir im 21. Jahrhundert bereit wären, für einen solchen Ortswechsel aufzubringen. Indem wir heute an Bord einer Boeing gehen, vollziehen wir eine Art Zaubertrick. Ein großes »Klick« – und in wenigen Stunden steigen wir in einer völlig anderen Wirklichkeit aus. Jene Reisenden damals haben die Welt Kilometer um Kilometer durchmessen, und Tag um Tag veränderten sich der Geschmack des Wassers, des Essens, die Temperatur, das Klima. Der Körper hatte die Möglichkeit, sich den Veränderungen anzupassen. Unterwegs erlebten die Menschen allerlei Abenteuer, zumal man gerade entlang dieser Route günstig gutes Gras und gutes Hasch kaufen konnte.
Eine Reise war damals (und sie wäre es wohl besser auch geblieben) eine Übung im Fremdsein. Marco Polo empfand es, als er an den Hof des Herrschers von China gelangte, und ebenso spürte es jener bunt gekleidete Hippie, der in der Dämmerung, sagen wir, durch das rajasthanische Jodhpur streifte und die Erfahrung machte, wie seine Existenz in einen ebenso seltsamen wie atemberaubenden Schwebezustand geriet. Nichts von alledem versteht er, hier gehört er nicht dazu, niemanden kümmert sein Dasein.
Käme uns heute die verrückte Idee in den Sinn, eine ähnliche Reise zu unternehmen – wie viele Krisenzonen, wie viele Kriegsgebiete müssten wir durchqueren? Ein Blick auf die Landkarte würde genügen – und sofort müsste uns die Frage bedrängen, ob das überhaupt möglich sei.