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Der Kern der Krise.

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Wir haben viel mit unseren Mitarbeiter*innen in aller Welt gesprochen. Mit Stefan in Hongkong, wo man den Corona-Ausbruch mit drastischen Mitteln in der ersten Phase schnell in den Griff bekam und die Krise sofort und mit Kraft in eine Chance umdeutete: Hier schert man sich nicht um die Türen, die zugehen, sondern sucht die, die sich jetzt öffnen. Mit Ulrike in Dubai, die berichtete, wie professionell in dieser besonderen Metropole, die wie keine andere für Luxus und Konsum steht, mit der Situation umgegangen wird. Mit Katharina in Seattle, die sich von dort aus große Sorgen um Amerika machte. Ich selbst war im März noch in Kapstadt und machte mir ein Bild von der Stimmung in diesem europäisch-afrikanischen Schmelztiegel. Die Situation in den Townships war Mitte März noch entspannt, kaum jemand ahnte, was auf Südafrika noch zukommen sollte …

Ich bin heute der Meinung, dass der Kern der Krise mit einem einzigen Wort umfassend zu beschreiben ist:

Unsicherheit.

Der Kern der Krise ist ein Gefühl, es ist der Schock, der uns allen in den Knochen steckt:

Unsere Zukunft ist nicht mehr sicher.

Eine beispiellose Situation. Immer waren wir doch zumindest zu einem hohen Prozentsatz Herr oder Frau der Lage, zumindest gefühlt. Und dann das. Auf einmal sitzen wir nicht mehr auf dem Fahrersitz im Bus unseres Lebens, sondern rutschen einmal durch auf die hinteren Plätze. Und wir kennen weder Fahrer*in noch Ziel.

Rein sachlich betrachtet kann man die Krise bekämpfen. Medizinisch wird es sicher Lösungen geben. In der Prävention werden wir besser. Die Wirtschaft wird unterstützt, die Politik reagiert erstaunlich entschlossen, schnell und flexibel, wenngleich nicht sehr weitsichtig. Aber das Gefühl aus dem März 2020 wird uns noch lange in den Knochen stecken: Nichts ist mehr sicher!

Wir mussten es am eigenen Leib erfahren. Auf einmal, von jetzt auf gleich, kann sich alles verändern. Der feste Job wackelt, der Gang zum Lebensmittelladen wird zum Lauf über ein Minenfeld, der Aktienmarkt gerät ins Schwanken. Künstler*innen verlieren innerhalb von Tagen ihr Publikum. Ganze Flugzeugflotten bleiben am Boden, Reisen sind nicht mehr möglich und werden storniert. Aus Kreuzfahrtschiffen und Hotels werden Quarantänelager.

Auch ich bin persönlich betroffen. Ich halte normalerweise zu ganz unterschiedlichen Zukunfts-Themen an die 70 bis 80 Vorträge im Jahr. Auf einmal hatte ich keine Buchungen mehr, auch meine Zukunft schien plötzlich unsicher – und ich war doch eigentlich Experte!

Es gibt in dieser Lage auch tröstliche Perspektiven und einen neuen Aufbruch, und davon wird dieses Buch noch in aller Ausführlichkeit handeln. Das Wort Krise ist im Chinesischen übrigens aus zwei Zeichen zusammengesetzt: Gefahr und Chance. Es bleibt aber die harte Erkenntnis zurück: Wir können uns im Hier und Jetzt nicht mehr sicher fühlen.

Wir können nicht einmal richtig planen. Langfristige Prognosen, wie ich sie als Zukunftsforscher gerne anbieten würde, sind kaum möglich. Überraschende Ereignisse, disruptive Technologien, wer kann da noch allgemeingültige Aussagen treffen, die Planungssicherheit versprechen?

Es ist ein Paradox. Wir fühlten uns sicher – und waren es nicht. Man muss leider sagen: Unsicher ist das neue sicher.

Was ist zu tun? Wie können wir lernen, damit umzugehen? Wir müssen anfangen, uns der Unsicherheit zu öffnen. Zum einen, weil uns gar nichts anderes übrig bleibt, denn die Unsicherheit wird zur neuen Normalität.

Zum anderen, weil die vermeintliche Sicherheit der Vergangenheit direkt in noch mehr Unsicherheit führte. Viele Unternehmen hatten es sich zum Beispiel ganz gemütlich im ewigen Gestern gemacht. Das Credo dieser Unternehmen: Ja ja, wir wissen schon, wir müssten was tun. Digitalisierung, New Work, neue Geschäftsmodelle, Plattform-Ökonomie, Sharing und vieles mehr. Aber hey, die Kredite sind günstig und die Kund*innen kaufen doch noch das Zeug von gestern …

Und das ist das Dilemma. Wir sind in Deutschland einfach schlecht vorbereitet, um uns in einer Phase der Unsicherheit, wie sie uns die Pandemie beschert hat, einigermaßen zuversichtlich und selbstbewusst zu bewegen.

Unsicherheit ist immer eine Herausforderung. Das ist bei uns sogar genetisch bedingt. Denn schon die Evolution steht gar nicht auf Unsicherheit, weshalb wir Menschen über eingebaute Sicherungen verfügen, die uns schützen sollen.

Kinder essen gern immer das Gleiche. Warum? Weil die Evolution uns gelehrt hat, dass es besser ist, die vertrauten roten Beeren zu essen und wenige Experimente zu machen. Neulich hat ein anderes Kind die grünen Beeren ausprobiert und jetzt ist es nicht mehr da …

Auch bei meinem elfjährigen Sohn ist es einfach unmöglich, ihn an neue kulinarische Genüsse zu führen, selbst wenn wir als Eltern mit gutem Vorbild vorangehen. Was der Bauer nicht kennt, das frisst er nicht, heißt es nicht ohne Grund in dem Sprichwort.

Und auch wenn wir längst erwachsen sind, bleiben wir skeptisch. Neue Wege gehen? Lieber nicht. In der Frühzeit waren die neugierigen Draufgänger*innen, die auf dem Weg zum See mal die interessantere Route durch den Sumpf ausprobieren wollten, schnell verschwunden. Die Evolution lehrt uns: Immer auf erprobten Wegen bleiben. Dann geht es Dir gut, sonst gehst Du unter. Dabei ist es heute genau andersherum: Es gibt keine sicheren Wege mehr. Die sicheren Wege entpuppen sich als das gefährliche Sumpfland. Und auf der steilen Klippe, wo noch niemand war, gibt es diese leckeren Wildschweine im Überfluss. Aber man muss dann klettern lernen, neue Wege testen.

Die Welt ist eine andere, als sie in der Evolution vorgesehen war. Es gibt keine Säbelzahntiger mehr, sondern Superspreader*innen und unberechenbare Politiker*innen. Es gibt Künstliche Intelligenz und Roboter, die die kompliziertesten Bodenturnübungen elegant vorführen können. Die Welt ist nicht mehr planbar. Wir können aber dennoch mit dieser Situation umgehen und sie gestalten.

Wir sind in Deutschland ja ein Volk der Planer*innen. Fakten sammeln, sammeln, sammeln, sortieren, bewerten. Einen feinen Plan machen und den dann sorgfältigst umsetzen. Das Ergebnis ist dann als Flughafen Berlin Brandenburg (BER) zu besichtigen. Der sollte 2011 öffnen, aber man hatte sich verplant. Erst neun Jahre später nimmt er den Betrieb auf. Es geht auch anders – und es muss in der Zukunft auch ganz anders geplant werden. US-amerikanische Unternehmen arbeiten anders, agiler. Das heißt, sie arbeiten oft in Sprints, also in kurzen Prozess-Perioden. Dann ziehen sie ein schnelles Resümee: Wo stehen wir, was sind die aktuellen Bedingungen, wie machen wir jetzt weiter?

Man bewegt sich auf dünnem Eis und springt von Scholle zu Scholle. Auf jeder Scholle schaut man sich erneut um und bewertet das Ziel und den Weg immer wieder neu.


So hat Elon Musk zum Beispiel seine Tesla-Produktion angelegt. Die Autos bestehen aus wenig flexibler Hardware, aber einer Software, die sich stetig erneuert und damit immer wieder verbessert. So kann Tesla uns heute ein Auto verkaufen, das mit einem Elektromotor eine Wahnsinns-Beschleunigung hat (ich musste bei einer Probefahrt bei einem Kick-down tatsächlich spontan aufschreien, das war wie in der Achterbahn!). Aber das ist das Heute. Morgen setzen wir uns in dieses Auto und es kann dann ganz ohne unseren Einsatz autonom fahren, weil ihm eine neue Software aufgespielt wurde.

Der Startpunkt für die neue Zeit ist die Erkenntnis, dass nichts mehr sicher ist. Wir müssen uns der Unsicherheit öffnen, den unsicheren Weg erkunden, denn sonst tun es andere. Die einzige Chance ist, zu neuen Ozeanen aufzubrechen, sonst bleiben wir ewig im blutroten Ozean gefangen, der voller Haie ist. Dort, wo sich die Verlierer*innen aus aller Welt treffen und um das bisschen Rest-Zukunft kämpfen. Wir müssen jetzt mutige, ja riskante Entscheidungen treffen. Die können falsch sein, denn wir können nicht mehr auf Planung vertrauen, wir müssen auf Sicht fahren. Aber nur durch Entscheidungen tasten wir uns voran und erkennen im Nebel den richtigen persönlichen Weg. Nur wer entscheidet, kann Zukunft gestalten. Der Science-Fiction-Autor William Gibson hat einmal gesagt: »Die Zukunft ist schon da. Sie ist nur ungleich verteilt.« Nimm Dir Dein Stück jetzt. Denn morgen ist heute schon gestern.

So geht Zukunft

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