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Deucalion und Pyrrha
ОглавлениеPhocis trennt die Aonier von den oetaeischen Gefilden, ein fruchtbares Land, solange es Land war, damals aber war es [315] ein Teil des Meeres und eine neu entstandene große Wasserfläche. Dort strebt ein Berg mit zwei Gipfeln steil zu den Sternen empor, er heißt der Parnaß, und seine Spitzen überragen die Wolken. Sobald Deucalion hier – alles übrige hatte nämlich das weite Meer bedeckt – mit seiner Ehefrau auf einem kleinen Floß gestrandet ist, [320] beten sie zu den corycischen Nymphen, zu den Berggottheiten und zur schicksalverkündenden Themis, die damals das Orakel innehatte. Es gab zu jener Zeit keinen Mann, der besser gewesen wäre, keinen, der Recht und Billigkeit mehr geliebt hätte, und keine gottesfürchtigere Frau.
Als Iuppiter sah, daß der Erdkreis ein Sumpf von stehenden Gewässern war [325] und daß von so vielen Tausenden, die soeben noch lebten, nur ein Mann und von so vielen Tausenden nur eine Frau übrig war, beide schuldlos, beide Verehrer der Gottheit, zerstreute er die Wolken, vertrieb die Regengüsse durch den Nordwind und zeigte dem Himmel die Erde und der Erde den Himmel. [330] Auch die Wut der See dauert nicht an; der Meeresbeherrscher legt den Dreizack beiseite, glättet die Wogen und ruft den wasserblauen Triton, der über die Meerestiefe hinausragt – auf seinen Schultern wachsen Purpurschnecken –, und befiehlt ihm, in die tönende Muschel zu blasen und durch ein Zeichen die Fluten und Flüsse zurückzurufen. [335] Er nimmt das hohle Horn, das schneckenförmig von der untersten Windung in die Weite wächst; sobald dieses Horn mitten auf dem Meer Luft aufgenommen hat, füllt seine Stimme die Küsten, die gen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang liegen. So geschah es auch jetzt: Kaum hatte es den Mund des Gottes berührt, dessen nasser Bart von Wasser troff, [340] und, wie befohlen, zum Rückzug geblasen, hörten es alle Wasser, die des Festlandes und die des Meeres, und alle, die es hörten, wies es in die Schranken. Schon hat das Meer eine Küste, jedes Flußbett nimmt seinen Strom voll auf, die Fluten fallen, und man sieht die Hügel auftauchen. [345] Es hebt sich der Erdboden: Das Land wächst, indem das Wasser abnimmt. Und nach langer Zeit zeigen die Wälder ihre bloßgelegten Wipfel und tragen noch Reste von Schlamm auf dem Laub.
Neu geschenkt war die Erde. Kaum hat Deucalion gesehen, daß sie leer ist und daß in den trostlosen Landen tiefe Stille herrscht, [350] treten ihm Tränen in die Augen, und er spricht folgendermaßen zu Pyrrha: »Schwester, Gattin, einzig überlebende Frau, dich verband mit mir zuerst unsere gemeinsame Herkunft – denn unsere Väter sind Brüder –, dann das Ehebett und jetzt verbindet uns auch noch die Gefahr. Von allen Ländern, welche die aufgehende und die untergehende Sonne sieht, [355] sind wir beide die gesamte Bevölkerung; alles übrige hat das Meer in Besitz genommen. Auch jetzt sind wir unseres Lebens noch nicht ganz sicher. Die Wolken machen mir immer noch angst. Wie wäre dir jetzt zumute, wenn du ohne mich dem Tode entrissen worden wärest, du Ärmste? Wie könntest du, ganz allein, [360] die Furcht ertragen? Wer würde dich in deinem Schmerz trösten? Denn hätte das Meer auch dich verschlungen, würde ich dir folgen, Gattin, glaub mir! Dann hätte das Meer auch mich verschlungen. O könnte ich doch durch meines Vaters Künste die Völker neu erschaffen und dem geformten Lehm Leben einhauchen! [365] Nun ist das Geschlecht der Sterblichen nur noch in uns beiden vorhanden – so hat es den Göttern gefallen –, und wir bleiben als einzige Vertreter der Menschheit übrig.«
Er hatte geendet, und sie weinten. Da beschlossen sie, zur himmlischen Gottheit zu beten und bei dem heiligen Orakel Hilfe zu suchen. Unverzüglich gehen sie zusammen zu den Wellen des Cephisus, [370] die zwar noch nicht klar waren, sich aber wieder das gewohnte Flußbett bahnten. Dort schöpfen sie Wasser, besprengen Gewänder und Haupt und lenken ihre Schritte zum Tempel der heiligen Göttin; dessen Giebel war grau von häßlichem Moos, und der Altar stand ohne Feuer. [375] An den Tempelstufen angelangt, werfen sich beide vornüber zu Boden. In heiliger Scheu küßten sie den eiskalten Stein und sprachen: »Wenn Gottheiten sich durch berechtigte Bitten erweichen lassen, wenn sich der Zorn der Götter besänftigen läßt, dann sag uns, Themis, auf welche Weise der Verlust wieder ausgeglichen werden kann, den unser Geschlecht erlitten hat, [380] und komm, du Gnadenreiche, der untergegangenen Welt zu Hilfe!« Die Göttin ließ sich rühren und gab ein Orakel: »Geht hinweg vom Tempel, verhüllt euer Haupt, entgürtet eure Gewänder und werft hinter euren Rücken die Gebeine der großen Mutter!«
Lange standen sie starr. Als erste bricht Pyrrha das Schweigen, [385] weigert sich, dem Befehl der Göttin zu gehorchen, und bittet mit angstvoller Stimme um Vergebung; fürchtet sie doch durch das Werfen der Gebeine den Schatten der Mutter zu kränken. Inzwischen wiederholen sie still für sich die dunklen, geheimnisvollen Worte des Orakels und wenden sie im Gespräch hin und her. [390] Da beruhigt der Sohn des Prometheus die Tochter des Epimetheus mit sanften Worten: »Entweder täuscht mich mein Scharfsinn, oder der Orakelspruch ist fromm und rät zu keinem Frevel: Die große Mutter ist die Erde. Ich vermute, daß die Steine im Leib der Erde als Gebeine bezeichnet werden; diese sollen wir hinter unseren Rücken werfen.«
[395] Obwohl die Titanentochter von der Deutung, die ihr Mann dem Spruche gab, beeindruckt war, ist dennoch die Hoffnung ungewiß; so sehr mißtrauen die beiden dem himmlischen Gebot. Aber was kann ein Versuch schaden? Sie entfernen sich, verhüllen ihr Haupt, entgürten ihre Kleider und werfen, wie befohlen, die Steine hinter ihre Fußspuren. [400] Wer möchte dies glauben, wenn nicht das Alter der Sage einen Zeugen ersetzen würde? Die Steine begannen ihre Härte und ihre Starre abzulegen, allmählich weich zu werden und, einmal weich geworden, Gestalt anzunehmen. Sobald sie dann gewachsen sind und ihnen eine sanftere Natur zuteil geworden ist, [405] läßt sich die Andeutung einer Menschengestalt erkennen – freilich noch nicht offenkundig, sondern wie ein eben in Arbeit genommener Marmorblock, nicht ganz ausgeführt, unfertigen Bildwerken sehr ähnlich. Was an jedem Stein feucht und erdig war, kam den Muskeln zugute; was fest ist und sich nicht biegen läßt, verwandelt sich in Knochen; [410] das Geäder aber blieb Geäder. Und in kurzer Zeit bekamen durch die Macht der Götter die von Männerhand geworfenen Steine das Aussehen von Männern; und aus den Steinen, welche die Frau warf, erstand das weibliche Geschlecht aufs neue. Daher sind wir ein harter, ausdauernder Menschenschlag [415] und legen Zeugnis davon ab, woraus wir entstanden sind.