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Iuppiter und Io (I)

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In Haemonien liegt ein Hain, rings von bewaldeten Steilhängen umschlossen; er heißt Tempe. Durch dieses Tal wälzt der Penëus, [570] der tief im Pindus entspringt, seine schäumenden Wellen, und in wuchtigem Absturz ballt er Wolken zusammen, von denen zarte Nebelschleier flattern; den Gischt läßt er auf die Wipfel des Waldes regnen, und sein Getöse ermüdet nicht nur die Nachbarschaft.

Dies ist das Haus, dies der Wohnsitz, dies sind die Gemächer des großen Stromes; [575] hier thronte er in einer Felsengrotte und sprach Recht über Wellen und Nymphen, die sie bewohnten. Dort kommen zuerst die Flüsse der Gegend zusammen, ohne so recht zu wissen, ob sie den Vater beglückwünschen oder ihm Trostworte zusprechen sollen: Spercheus, von Pappeln umsäumt, der rastlose Enipeus, [580] der altersgraue Apidanus, der sanfte Amphrysus und Aeas; bald kamen noch andere Flüsse, die, vom Schwung fortgetragen, ihre Wogen, der Irrwege müde, ins Meer münden lassen.

Nur Inachus fehlt. Tief unten in seiner Höhle versteckt, vermehrt er sein Wasser durch Tränen und trauert – der Ärmste! – um seine Tochter Io, [585] als hätte er sie verloren. Er weiß nicht, ob sie noch am Leben ist oder schon unter den Toten weilt; doch, da er sie nirgendwo findet, glaubt er, sie sei nirgends, und befürchtet im Herzen das Schlimmste.

Iuppiter hatte sie vom väterlichen Strom heimkehren sehen und zu ihr gesagt: »Mädchen, du bist Iuppiters würdig, und doch wirst du [590] durch dein Ehelager nur irgendeinen gewöhnlichen Sterblichen glücklich machen. Geh in den Schatten der tiefen Wälder«, und er hatte auf die schattige Stelle hingewiesen, »während es heiß ist und die Sonne in der Mitte ihrer Bahn am höchsten steht. Wenn du dich aber fürchtest, allein deinen Fuß in die Schlupfwinkel der wilden Tiere zu setzen, so wisse: Du wirst die Abgeschiedenheit des Waldes unter dem Schutze eines Gottes betreten, [595] und zwar keines Plebejers unter den Göttern: Ich bin’s, der das Himmelsszepter in der gewaltigen Hand hält, der die zuckenden Blitze schleudert. Flieh nicht vor mir!« Sie floh nämlich. Schon hatte sie die Triften von Lerna und das mit Bäumen bepflanzte lyrceische Gefilde verlassen, als der Gott die Lande weit und breit in Nebel hüllte, [600] die Fliehende aufhielt und ihr die Ehre raubte.

Unterdessen schaute Iuno mitten auf die Felder hinab und wunderte sich, daß am hellichten Tage die flüchtigen Nebel den Eindruck erweckten, als wäre es Nacht, und bemerkte, daß sie weder vom Fluß kamen noch von der feuchten Erde aufstiegen. [605] Dann schaut sie sich um, wo ihr Mann wohl sei; kannte sie doch die Schliche ihres Gemahls, den sie schon so oft ertappt hatte. Nachdem sie ihn im Himmel nicht gefunden hatte, sprach sie: »Täuscht mich nicht alles, so werde ich hier getäuscht.« Sie ließ sich von der Höhe des Äthers herab, stellte sich auf den Erdboden und gebot den Nebeln zu weichen. [610] Iuppiter hatte das Kommen seiner Gattin vorausgeahnt und die Inachustochter in eine strahlend weiße Kuh verwandelt. Auch als Rind ist sie schön! Saturnia lobt, obwohl es ihr schwerfällt, das Aussehen der Kuh und fragt, wem sie gehöre, wo sie herkomme und aus welcher Herde sie sei – als wüßte sie die Wahrheit nicht. [615] Iuppiter lügt, sie sei aus der Erde entstanden, um die Fragen nach der Herkunft abzuschneiden. Da erbittet Saturnia die Kuh als Geschenk. Was tun? Grausam ist’s, die Geliebte zu verschenken; sie nicht herzugeben ist verdächtig; zu dem einen rät die Scham, von dem andern rät die Liebe ab. Über die Scham hätte die Liebe den Sieg davongetragen; [620] aber würde der Schwester und Gattin ein so kleines Geschenk wie eine Kuh abgeschlagen, dann könnte es so aussehen, als wäre es keine Kuh. Nachdem sie die Nebenfrau zum Geschenk erhalten hatte, legte die Göttin dennoch nicht sofort alle Furcht ab; sie hatte Angst vor Iuppiter und argwöhnte Untreue, bis sie Io dem Argus, dem Sohn Arestors, zur Bewachung übergab.

[625] Am Haupt des Argus waren ringsum hundert Augen; je zwei davon ruhten sich abwechselnd aus, die übrigen wachten und blieben auf ihrem Posten. Wie er sich auch immer hinstellen mochte, er blickte auf Io. Vor Augen hatte er Io, auch wenn er sich abwandte. [630] Bei Tageslicht läßt er sie weiden; ist die Sonne tief unter der Erde verschwunden, schließt er die Kuh ein und legt ihr eine Fessel um den Hals, der dies nicht verdient. Vom Laub der Bäume nährt sie sich und von bitteren Kräutern, und statt sich auf ein Polster zu legen, streckt sie sich auf dem Erdboden aus, der nicht einmal immer mit Gras bewachsen ist, die Unglückliche! Schlammiges Flußwasser trinkt sie. [635] Als sie noch flehend die Arme zu Argus ausstrecken wollte, hatte sie keine Arme, um sie zu Argus auszustrecken, und beim Versuch zu klagen, stieß sie ein Muhen aus, ängstigte sich vor dem Klang und erschrak über die eigene Stimme.

Sie kam auch an das Ufer, an dem sie oft zu spielen pflegte, [640] ans Ufer des Inachus. Und kaum hatte sie im Wasser ihre neuen Hörner erblickt, wurde sie von Furcht ergriffen und floh in hellem Entsetzen vor sich selbst zurück. Die Naiaden wissen nicht, wer sie ist; selbst Inachus weiß es nicht. Sie aber folgt dem Vater, folgt den Schwestern, läßt sich von ihnen berühren und bietet sich ihren staunenden Blicken dar. [645] Der bejahrte Inachus hatte Kräuter gepflückt und ihr gereicht; sie leckt ihm die Hände, bedeckt die Handflächen des Vaters mit Küssen und hält die Tränen nicht zurück. Gehorchten ihr nur die Worte, sie bäte gern um Hilfe, würde gern ihren Namen nennen und von ihrem Unglück sprechen. Anstelle der Worte leisteten Buchstaben, die ihr Huf im Staube zog, [650] den traurigen Dienst, ihre Verwandlung anzuzeigen. »Weh mir«, ruft der Vater Inachus und umklammert Hörner und Hals der stöhnenden schneeweißen Kuh. »Weh mir!« wiederholt er. »Bist du es, die Tochter, die ich in allen Ländern gesucht habe? Solang ich dich noch nicht entdeckt hatte, [655] war die Trauer um dich erträglicher als jetzt, da du gefunden bist. Du schweigst und antwortest nicht auf unsere Worte; nur Seufzer läßt du aus tiefster Brust aufsteigen und tust das Einzige, was du kannst: Du antwortest mir mit Muhen. Und ich bereitete nichts ahnend für dich ein Ehegemach und Hochzeitsfackeln vor und hoffte zuerst auf einen Schwiegersohn, dann auf Enkel. [660] Jetzt mußt du einen Gatten aus der Herde und einen Sohn aus der Herde haben! Und ich darf meinem grenzenlosen Schmerz nicht durch Selbstmord ein Ende setzen: Daß ich ein Gott bin, schadet mir jetzt, und weil mir das Tor des Todes verschlossen ist, verlängert sich meine Trauer in alle Ewigkeit.« Während er mit solchen Worten klagt, drängt ihn der sternübersäte Argus hinweg, [665] entreißt dem Vater die Tochter und zerrt sie auf einen entfernten Weideplatz. Er selbst bezieht in der Ferne Stellung auf einem hohen Berggipfel; dort sitzt er und hält nach allen Richtungen Ausschau.

Doch der Herrscher der Himmlischen kann die namenlosen Leiden der Phoronis nicht länger mitansehen. Er ruft seinen Sohn, den die strahlende [670] Pleiade geboren hat, und befiehlt ihm, Argus zu töten. Es dauert nicht lange, und Mercur hat die Flügelsohlen angelegt, die einschläfernde Gerte in die zaubergewaltige Hand genommen und sich den Hut aufs Haar gesetzt; so ausgerüstet, springt Iuppiters Sohn von der väterlichen Burg auf die Erde hinab. Dort nimmt er die Kopfbedeckung ab [675] und legt das Gefieder beiseite, nur die Gerte behält er. Mit ihr treibt er wie ein Hirte Ziegen, die er unterwegs aufgetrieben hat, quer durchs Gelände und bläst auf seiner selbstgebastelten Rohrflöte.

Der von Iuno bestellte Wächter war von dem neuen Ton und der Kunstfertigkeit wie gebannt. »Wer du auch sein magst, du könntest dich auf diesen Stein zu mir setzen«, [680] sprach Argus. »Wächst doch nirgends reichlicher Gras für das Vieh, und du siehst auch, daß es hier für uns Hirten behaglichen Schatten gibt.« Da setzte sich der Enkel des Atlas, redete viel und ließ den lieben langen Tag unter Gesprächen verstreichen. Dabei versucht er, die wachsamen Augen durch sein Flötenspiel zu bezwingen. [685] Argus freilich kämpft gegen den sanften Schlummer an, und obwohl sich ein Teil seiner Augen schon dem Schlaf ergeben hat, ist ein anderer Teil noch wach. Auch fragt er – die Hirtenflöte war nämlich erst vor kurzem erfunden worden –, wie es zu dieser Erfindung gekommen sei.

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