Читать книгу Dr. Norden Bestseller Paket 4 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 12
Оглавление»Wir gehen jetzt, Mami!« schallte es durch das Haus, und Georgia Schilling sprang von ihrem Schreibtisch auf. Sie stolperte fast, so hastig lief sie in die Diele.
»Wohin geht ihr?« fragte sie ihre Töchter Nadine und Jessica.
»Wir haben dir doch gestern schon gesagt, daß wir zu einer Party eingeladen sind«, erwiderte Nadine ziemlich schnippisch. »Dein Gedächtnis läßt auch schon nach.«
Ja, sie hatten es gesagt, Georgia erinnerte sich. Aber an diesem Tag war soviel auf sie eingestürmt, daß sie es vergessen hatte.
Sie nahm sich zusammen und beherrschte sich, obgleich der schnippische Ton von Nadine ihr keineswegs gefallen hatte. »Darf ich fragen, wo diese Party stattfindet?« preßte sie zwischen den Zähnen hervor.
»Bei Kai«, erwiderte Jessica, »du kennst ihn doch, Mami.«
»Er feiert seinen einundzwanzigsten Geburtstag«, fügte Nadine hinzu. »Und falls dein Gedächtnis dich ganz im Stich lassen sollte, er heißt mit Nachnamen Jennings, und sie wohnen in der gleichen Straße wie die Nordens. Außerdem bin ich zwanzig, und du brauchst dich nicht so anzustellen, wenn wir abends ausgehen.«
Georgia straffte sich. »Wie stelle ich mich denn an?« fragte sie.
»Ziemlich spießig«, erwiderte Nadine.
»Sei doch nicht so«, sagte Jessica leise. »Mami meint es doch nicht böse.«
»lch wünsche euch viel Spaß«, sagte Georgia müde. Ja, sie war sehr müde.
»Papa wird ja wohl auch bald kommen«, sagte Jessica. »Er wird sich ja für die Forschung nicht ganz aufarbeiten wollen.«
»Keine Diskussionen mehr, Jessi, mir hängen sie zum Halse heraus«, sagte Nadine, und gleich darauf fiel die Tür ins Schloß.
So ist das Leben, dachte Georgia, man hat es mir ja vorausgesagt, als ich Holger geheiratet habe. Mutter hat es gesagt, Ruth hat es gesagt, nur Vater war stolz, daß sich der junge Professor Schilling für mich entschieden hat. Aber Vater war ja auch besessen von seiner Arbeit. Und bei uns war es auch nicht anders als jetzt.
Knapp zwanzig war sie gewesen und Holger Schilling bereits vierunddreißig, als sie vor den Traualtar traten, aber sie hatte andächtig, ja anbetend zu ihm aufgeblickt. Und dann war sie mit ihm nach Amerika gegangen, wo er in einem Atomforschungszentrum eine führende Stellung hatte.
Nadine kam zur Welt, und sie hatte gar nicht mehr gespürt, wie wenig Zeit ihr Mann für sie hatte, und schon anderthalb Jahre später folgte dann auch Jessica.
Sie war von den lebhaften Kindern voll beansprucht worden. Ja, erst jetzt, neuerdings dachte sie darüber nach, daß sie von einer richtigen Ehe eigentlich gar nichts zu erzählen wüßte. Wie sollte sie da den Kindern einen Vorwurf machen, wenn ihnen der Vater fast ein Fremder geblieben war.
Erst vor fünf Jahren waren sie nach München zurückgekehrt. Leicht hatten es die beiden Mädchen nicht gehabt, sich in die veränderten Verhältnisse zu finden. Leicht war es für sie auch nicht in der Schule gewesen, den Anschluß zu finden.
Und sie selbst? Ja, sie waren wieder in der Heimat. Sie hatte sich drüben nicht wohl gefühlt. Sie hatte sich angepaßt, hatte sich ja immer anpassen müssen. Manchmal war ihr der Gedanke gekommen, daß Holger nur deshalb eine junge Frau genommen hatte, weil diese noch keine eigene Persönlichkeit entwickelt hatte.
Ja, sie waren dann in der Heimat angekommen, lebten nun aber in einer fremden Stadt, in der Georgia wieder keine Freunde hatte. Sie lebten in München, von dem alle Amerikaner schwärmten. Sie hatten ein sehr schönes Haus am Stadtrand, Nadine und Jessica fanden Freunde, und sie fanden München ganz herrlich.
Sie wurden erwachsen, und immer öfter war Georgia allein. Sie fühlte sich frustriert, aber darüber hatte sie bisher nur mit einem einzigen Menschen gesprochen, das war Dr. Daniel Norden.
Ablenken solle sie sich, ins Konzert gehen oder in die Oper, ins Theater, aber allein mochte sie nicht gehen und hier hatte Holger noch weniger Zeit als in den Staaten.
Die Mädchen hatten andere Interessen. Sie gingen lieber in die Disco oder auf Partys, sie machten auch Wochenendausflüge, und Georgia konnte nichts dagegen sagen. Jetzt waren sie ja mündig, wenngleich sie beide noch zur Schule gingen.
Daß sie selbst mal eine Party gaben, erlaubte Holger nicht, so gern Georgia auch die jungen Leute, mit denen ihre Töchter verkehrten, näher kennengelernt hätte. Überhaupt war Holger Schilling in letzter Zeit sehr eigenartig geworden. Oder ich bilde mir das nur ein, weil ich immer mehr spürte, daß dies keine Ehe mehr ist, sagte sich Georgia.
Sie entschloß sich jetzt, einen Abendspaziergang zu machen. Wenigstens einen solchen gönnte sie sich manchmal. Doch da kam ihr Mann nach Hause.
Wieder wurde sie von dieser seltsamen Unruhe ergriffen, als sie ihn auf das Haus zukommen sah. Sehr blaß war er, richtig hager geworden. Die Schultern hingen vornüber, der Blick war zu Boden gesenkt. Sie beobachtete ihn vom Fenster aus und sah, wie er stehenblieb und an seine Brust griff.
Sie lief zur Haustür, aber sie wußte genau, daß sie ihn nicht fragen durfte, ob ihm etwas fehle. Sie kannte die Antwort darauf ganz genau. Was du dir immer gleich einredest, lautete diese.
Doch an diesem Abend sagte er es selbst. »Mir ist nicht gut. Ich weiß überhaupt nicht, was los ist. Ich kann mich nicht konzentrieren. Ich muß etwas aufgeschnappt haben. Um mich herum hustet und nießt ja auch alles.«
»Ich mache dir einen Tee, Holger«, sagte sie.
»Vielleicht habe ich auch Hunger. Ich weiß gar nicht, ob ich heute schon etwas gegessen habe.«
Er war ein richtiger zertreuter Professor geworden. Jessica hatte es vorhin gesagt.
»Was möchtest du essen, Holger?« fragte sie geduldig.
»Was hast du denn da? Und wo stecken unsere Töchter?«
»Sie sind zu einer Party gegangen.«
»Sie haben wirklich nichts anderes mehr im Kopf«, nörgelte er. »Was soll bloß mal aus ihnen werden? Mein Vater hätte mir was erzählt, wenn ich mit zwanzig Jahren noch auf der Schulbank gehockt hätte.«
Er ist wahrscheinlich nie richtig jung gewesen, dachte Georgia, als sie ihm wunschgemäß ein Filetsteak zubereitete.
Aber kaum hatte er einen Bissen gegessen, schob er den Teller von sich.
»Ich habe keinen Hunger«, murmelte er. »Ich bin müde.«
Sie trat hinter ihn und legte ihre Hand auf seine Stirn, aber er wehrte sie heftig ab.
»Rede mir bloß nicht ein, daß ich krank bin. Ich habe noch viel zu tun, und am Montag muß ich in die Staaten fliegen.«
In diesem Zustand? dachte sie, er hat doch sogar Fieber. Aber sie sagte es nicht.
»Für wie lange?« fragte sie.
»Ich weiß es noch nicht. Vielleicht bleibe ich drüben. Ihr kommt dann nach, wenn die Kinder mit der Schule fertig sind.«
Und in diesem Augenblick wurde Georgia zum erstenmal bewußt, daß sie nichts mehr für ihn empfand.
»Ich gehe nicht noch einmal nach Amerika«, entfuhr es ihr.
Er kniff die Augen zusammen. »Das kannst du halten, wie du willst. Ich muß meine gute Zeit noch nützen.«
Gute Zeit? Ein Frösteln kroch über ihren Rücken. Steckt vielleicht eine andere Frau dahinter? fragte sie sich dann. Aber auch das machte ihr nichts aus.
Sie hörte, wie er im Bad gurgelte. Sie betrachtete sich im Spiegel. Eine Frau von vierzig Jahren und sehr ansehnlich war sie. Das konnte sie sich ohne Eitelkeit zugestehen. Sie war mädchenhaft schlank und gut gewachsen. Nadine hatte fast schon ihren Umfang, was dem Mädchen sehr willkommen war, denn gar zu gern zog sie die Kleider ihrer Mutter an.
Auch in bezug auf Nadine hatte Georgia ihre Sorgen.
Sie hatte ihre Heimlichkeiten, selbst wohl vor Jessica. Und es hatte den Anschein, als würde sie Jessica nur mitziehen, um sich durch sie ein Alibi für manches zu schaffen, was sie nicht eingestehen wollte.
Ich muß mit beiden mal reden, dachte Georgia. Es kann doch nicht alles auseinanderbrechen.
Doch wie schnell sollte sie das Gefühl und auch die Gewißheit bekommen, vor einem Abgrund zu stehen!
*
»Ich finde es nicht gut, daß wir Mami so oft allein lassen«, sagte Jessica zu ihrer älteren Schwester.
»Sie kann doch auch was unternehmen«, meinte Nadine gleichmütig. »Sie verkriecht sich in ihrem Bau und ist nur darauf bedacht, bei ihrem Tyrannen nicht anzuecken. Wenn mir ein Mann so etwas bieten würde, dem würde ich etwas erzählen.«
»Du sprichst jetzt von unserem Vater, Nadine«, sagte Jessica, die in vielen Dingen etwas vernünftiger war als die Ältere. »Und was du dir mit Francesco eingehandelt hast, ist wirklich auch nicht gerade das Beste.«
»Hör damit auf, du bist ja nur eifersüchtig«, zischte Nadine. »Er ist der bestaussehende Mann, der mir je begegnet ist.«
»Kommt es bloß darauf an?« fragte Jessica.
»Mach mir bloß keine Vorschriften. Geh du zu deiner Party. Ich hoffe nur, daß du mich bei Mami nicht verrätst.«
»Das würde ich schon deshalb nicht tun, damit sie nicht noch trauriger wird. Ich habe überhaupt keine Lust, zu der Party zu gehen. Alles mache ich nur deinetwegen mit. Aber ich sage dir gleich, daß ich nicht länger als bis Mittemacht bleibe. Wenn du später kommst, mußt du dir eine andere Ausrede einfallen lassen.«
»Dein Name ist Hase, du weißt von nichts«, spottete Nadine. »Nun, du wirst auch noch auf den Geschmack kommen und nicht nur mit diesen Jüngelchen zusammenhocken.«
Jessica blieb stehen. Eine steile Falte erschien auf ihrer klaren Stirn.
»Du wirst das hoffentlich nicht noch gewaltig bereuen müssen, Nadine«, sagte sie aggressiv. »Eines Tages wirst du alles allein ausbaden müssen, und dann mach Mami keinen Vorwurf.«
»Es wird nicht mehr lange dauern, dann bin ich mit Francesco auf und davon«, sagte Nadine spöttisch. »Und wir werden das Leben genießen.«
»Na, dann genieß es mal«, sagte Jessica und ließ ihre Schwester an der S-Bahn stehen. Im Laufschritt eilte sie auf das Villenviertel zu, wo Kai Röding wohnte, wo auch die Nordens ihr Haus hatten. Und sie lief Dr. Norden buchstäblich in die Arme.
Er war gerade aus seinem Wagen ausgestiegen, und Jessica hatte es gar nicht wahrgenommen, weil ihre Augen blind vor Tränen waren.
»Hallo, Jessica«, sagte Dr. Norden, »wohin so eilig? Ist etwas passiert?«
»Nein, ich will zu einer Party. Kai Röding hat Geburtstag«, stammelte sie tonlos.
»Na, dann viel Spaß«, sagte Dr. Norden.
»Danke«, flüsterte sie. »Sie sagen aber bitte Mami nicht, daß Sie mich allein getroffen haben, ohne Nadine.«
»Deshalb die Tränen, Jessica?« fragte er väterlich. »Habt ihr euch gestritten?«
Sie schüttelte den Kopf. »Es ist alles so blöd«, sagte sie leise.
»Ihr habt doch eine sehr liebe Mutter«, sagte er nachdenklich.
»Das ist es ja.« Sie blickte zu ihm auf. »Darf ich mal zu Ihnen kommen und Sie einiges fragen?«
»Jederzeit, Jessica. Laß du dir den Spaß nicht verderben. Kai ist ein sehr netter Junge.«
Ja, das war er, aber Jessica wußte, daß er mehr für Nadine übrig hatte. Und sie sah auch dessen enttäuschte Miene.
»Nadine konnte nicht, sie mußte zu einem Vortrag«, schwindelte Jessica. »Ich wünsche dir viel Glück für das neue Lebensjahr, Kai.« Sie drückte ihm ein kleines Päckchen in die Hand, das sie aus der Manteltasche genommen hatte.
»Vielen Dank, Jessi«, sagte er leise. »Große Stimmung herrschte heut nicht.«
»Das macht das Wetter«, sagte sie. »Ich habe auch Kopfschmerzen.«
»Alles kann man nicht auf’s Wetter schieben. Na, komm, es wird schon lustiger werden.«
Er war nicht viel größer als sie, ein sympathischer blonder Junge, der schon im vierten Semester Jura studierte.
Nadine nannte ihn abfällig einen Streber, aber Jessica mochte ihn. Nicht, daß sie verliebt in ihn gewesen wäre, aber sie unterhielt sich gern mit ihm. Und sie mochte vor allem seinen Vater, der so jung wirkte und alles mitmachte, während Inge Röding unverdrossen für das leibliche Wohl der jungen Gesellschaft sorgte. Ja, so stellte sich Jessica ein richtiges Familienleben vor.
An diesem Tag war auch Kais älterer Bruder Markus anwesend. Er studierte in Heidelberg Medizin. Es war mehr ein besinnliches Familienfest, als eine Party, und Jessica konnte sich vorstellen, daß Nadine sich darüber mokiert hätte.
Nadine bewegte sich jetzt allerdings in ganz anderen Kreisen. Da ging es laut und lässig zu. Da waren mehrere Nationalitäten versammelt, und es wurde auch viel getrunken.
Nadine hatte mit Genugtuung festgestellt, daß Francesco der bestaussehende Mann in diesem Kreise war. Weniger gefiel es ihr, daß er mit seinem Charme auch die anderen weiblichen Gäste zu bezaubern schien. Ein bißchen unsicher fühlte sie sich schon, denn frei von Gewissensbissen war sie nicht.
Die Zeit enteilte. Sie blickte immer öfter auf die Uhr. Francesco widmete sich durchaus nicht ihr allein, und als sie ihm sagte, daß sie jetzt heimfahren müsse, warf er ihr einen unwilligen Blick zu.
»Du kannst bei mir schlafen«, sagte er nebenbei und so laut, daß alle es hören konnten. Nadine wurde knallrot. »Bitte, sei nicht so geschmacklos, Francesco«, sagte sie trotzig.
Er grinste spöttisch. »Man will das Gesicht wahren«, sagte er zynisch. »Sei nicht albern, Nadine.«
Da trat ein junger Mann an sie heran, den sie bisher nicht beachtet hatte, und der anscheinend überhaupt nicht zu dieser Clique gehörte.
»Ich bringe Sie gern nach Hause«, sagte er ruhig.
Francesco grinste immer noch. Nadine merkte jetzt erst, daß er sehr viel getrunken hatte.
»Scher dich zum Teufel«, sagte er. »Du langweilst mich. Ich lasse mir nicht die Stimmung verderben…
»Das wäre es dann wohl«, sagte der fremde junge Mann ruhig. Fest umschloß seine kräftige Hand Nadines Arm.
»Wenn du jetzt gehst, ist es aus«, zischte Francesco.
Nadine zitterte am ganzen Körper, aber die Hand ließ sie nicht los.
»Dann ist es eben aus!« stieß sie hervor.
Francescos Gesicht verzerrte sich, aber seltsamerweise schien er vor Nadines Beschützer Respekt zu haben.
»Sie kennen mich, Caretto«, sagte der. Francesco drehte sich um und ging zur Bar.
Nadine hatte in der Stimme des Fremden einen drohenden Unterton vernommen. Sie ließ sich, ohne Widerstand zu leisten, hinausführen.
Er brachte sie zu einem schnittigen Sportwagen. »Wo wohnen Sie?« fragte er ruhig.
»Wollen Sie sich nicht erst mal vorstellen?« fragte Nadine trotzig.
»Aber gern – wenn Sie Wert darauf legen«, erwiderte er sarkastisch. »Jonas Vestris. – Also, wo wohnt das gnädige Fräulein?«
Der Spott traf sie tief. Aber sie nannte die Adresse. Einen kurzen Blick warf sie auf sein scharfgeschnittenes Profil. »Sie sind doch kein Student«, stellte sie etwas trotzig fest. »Sie passen gar nicht zu diesen Leuten.«
»Verbindlichen Dank für diese Feststellung«, erwiderte er ironisch. »Denken Sie ernsthaft, daß Caretto Student ist?«
Nadine zuckte zusammen. »Etwa nicht?« fragte sie kleinlaut. »Wenn er im Studentenheim wohnt…«
»Da wohnt so mancher, der da nicht hingehört. Waren Sie schon bei ihm?«
»Ja«, erwiderte sie leise, und plötzlich schämte sie sich fürchterlich.
»Sie kommen doch aus einem sehr guten Haus, Nadine«, sagte er rauh.
»Sie brauchen ja auch nicht gleich Schlimmes zu denken«, sagte sie bockig. »Es waren mehrere Leute dabei.«
»Wie heißen Sie eigentlich mit Familiennamen?«
»Schilling.«
Sie merkte nicht, wie er den Atem verhielt. Sie war viel zu aufgeregt. Francescos Benehmen hatte sie tief getroffen.
»Sie kennen Francesco«, sagte sie bebend. »Was wissen Sie über ihn?«
»Nicht sehr viel bisher, aber so viel, daß ein Mädchen aus guter Familie sich nicht mit solchen Burschen einlassen sollte, nur weil er ein Adonis ist. Wo haben Sie ihn kennengelernt?«
»In einer Disco.«
»Gehören solche Besuche zu Ihrem Zeitvertreib?«
Plötzlich schämte sie sich wieder. »Man geht eben ab und zu mal aus«, erwiderte sie.
»Keine kulturellen Interessen?« fragte er.
»Soll das ein Verhör sein?« begehrte sie auf.
»Sagen wir Interesse. Ich bin Psychologe, außerdem Journalist.«
»Und Sie bewegen sich auch in Kreisen, die Sie anscheinend ablehnen«, sagte sie trotzig.
»Aus Neugierde. Ich bin ja kein kleines Mädchen, das sich auf schlüpfriges Pflaster begibt. Sicher haben Sie keine Ahnung, wie schlüpfrig es ist. Ich kann Sie also nur warnen. Francesco ist kein Student. Man könnte ihn als einen Gelegenheitsarbeiter bezeichnen.«
»Er ist aber sehr gebildet«, widersprach sie.
»Das eine schließt das andere nicht aus. Kennen Sie Spanien?«
»Nein, ich bin in Amerika aufgewachsen. Wir haben lange dort gelebt.«
»Dann will ich Ihnen mal ein bißchen über die spanische Mentalität erzählen. Wenn sich dort ein junges Mädchen verführen läßt, bekommt es keinen anständigen Mann mehr. Die Männer amüsieren sich mit Ausländerinnen, weil das unverbindlich ist.«
»Aber er wollte mich heiraten«, sagte Nadine mit einem unterdrückten Schluchzen.
»Du lieber Himmel, Sie sind aber vertrauensselig! Was wissen Sie denn von ihm? Haben sich Ihre Eltern auch von ihm einwickeln lassen?«
»Sie kennen ihn doch gar nicht«, gab Nadine zu.
»Nun, ich hätte es mir denken können. Sie hatten sich bestimmt nach ihm erkundigt. Aber das können Sie auch, es würde allerdings etwas länger dauern. Francesco Caretto ist verheiratet, junge Dame, Wohnsitz Valencia. Und seien Sie vorsichtig, wenn er sich wieder an Sie heranmacht. Das ist ein guter Rat. Manche Leute rennen ja blind in ihr Unglück. So, wir wären angelangt. Strengen Sie Ihr hübsches Köpfchen mal an. Hier ist meine Karte. Wenn Sie Hilfe brauchen sollten, rufen Sie mich an. Ich hindere allerdings keinen Menschen, seine eigenen Erfahrungen zu machen.«
»Und warum waren Sie so hilfsbereit?« fragte Nadine.
»Ich hatte mal eine ganz reizende Schwester«, erwiderte er heiser. »Sie ist durch solch einen Kerl vor die Hunde gegangen. Schlafen Sie gut, wenn Sie es können.«
Nadine schob die Unterlippe vor. »Sie denken jetzt wohl, daß ich ein leichtes Mädchen bin«, sagte sie bebend.
»Nein, das denke ich nicht, aber Sie könnten es werden, wenn Sie Ihren Verstand nicht gebrauchen. Sie ahnen gar nicht, wie schnell das geht.«
»Danke, daß Sie mir geholfen haben«, sagte sie.
»Gern geschehen. Vielleicht treffen wir uns mal wieder. Hoffentlich unter erfreulichen Umständen.«
Und da stand sie, und er fuhr davon. In diesem Augenblick kamen Jessica und Markus Röding. Er hatte sie nach Hause begleitet, da Kai etwas zuviel Sekt getrunken hatte.
»Hallo«, sagte Nadine leise.
»Fein, das du da bist«, sagte Jessica.
»Hallo, Nadine«, sagte Markus. »Du hattest etwas Besseres vor?« Seine Stimme klang so spöttisch wie die jenes Jonas Vestris.
»Es kommt darauf an, wie man es nimmt«, erwiderte sie.
Markus hatte seine Hand auf Jessicas Schulter gelegt. »Wir sehen uns morgen, Jessi?« fragte er.
Es kam für Jessica so überraschend, daß ihr der Mund offenstehen blieb.
»Morgen ist Samstag, und wenn schönes Wetter ist, müssen wir es doch ausnützen. Wir machen mein Boot flott«, sagte Markus. »Wenn du willst, frage ich deine Eltern um Erlaubnis.«
»Ja, bitte«, stammelte Jessica. »Es war sehr nett.«
»Das fand ich auch. Bis morgen.«
Er nickte Nadine nur ganz leicht zu, und die hatte das Gefühl, der Erdboden müsse sich unter ihr auftun.
*
Georgia geisterte im Hausmantel durch das Haus. Ihre Miene entspannte sich, als die Mädchen eintraten.
»Papa geht es nicht gut«, flüsterte sie. »Seid bitte leise.«
Nadines Blick fiel auf die Uhr. Zehn Minuten vor eins war es.
»Was fehlt ihm denn?« fragte sie.
»Anscheinend eine Grippe. Er hat Fieber. Wenn es morgen nicht besser ist, rufe ich Dr. Norden. War es nett?« fragte sie dann geistesabwesend.
»Ja, sehr nett«, erwiderte Jessica rasch. »Kann ich dir noch etwas helfen, Mami?«
»Nein, danke, ich habe nur noch einen Tee gebrüht.«
»Ich könnte ja bei Papa wachen«, sagte Jessica leise.
»Nein, er will ja nicht krank sein. Es genügt, wenn er mich anfaucht«, erwiderte Georgia. »Er will am Montag in die Staaten fliegen.«
Nadine lehnte an der Wand. Sie starrte ihre Mutter an. »Wie du das aushältst«, sagte sie zitternd. »Er ist doch ein krasser Egoist.«
»Er ist euer Vater«, erwiderte Georgia. »Geht jetzt zu Bett.«
Die beiden Mädchen bewohnten die ausgebaute Mansarde des Bungalows. Sie hatten ihr wunderhübsches eigenes Reich. Und in dieser Nacht saßen sie sogar noch beisammen.
»Du siehst nicht aus, als hättest du dich amüsiert, Nadine«, sagte Jessica.
»Im Gegensatz zu dir.«
»Wir haben uns sehr gut unterhalten. Kai hat dich vermißt.«
»Und du hast Markus becirct«, sagte Nadine gereizt.
»Was du immer gleich denkst. Er schreibt an seiner Doktorarbeit. Darüber haben wir uns unterhalten.«
»Er sieht viel besser aus, als Kai«, sagte Nadine.
Zorn stieg in Jessica empor. »Du interessierst dich für Äußerlichkeiten. Ich finde deinen Francesco fies«, sagte sie, »damit du es weißt!«
Aller Groll, der sich in Nadine an diesem Abend angesammelt hatte, machte sich jetzt Luft. »Vielleicht würde mir Markus auch besser gefallen«, sagte sie spitz. »Mal sehen, ob es dir gefällt, wenn ich mir Mühe um ihn gebe.«
»Versuch es doch«, sagte Jessica. »Mach dich nur billig.« Und dann verschwand sie in ihrem Zimmer. Nadine starrte auf die geschlossene Tür. Diese letzten Worte hatten sie getroffen. Ähnlich, wenn auch nicht so hart, hatte sie sie von diesem Jonas zu hören bekommen. Und wie Francesco sich benommen hatte!
Jetzt kam die Reaktion. Sie warf sich auf ihr Bett und schluchzte in ihr Kissen hinein.
Jessica lag ganz still da. Sie wird mir Markus wegnehmen, dachte sie. Sie ist ja viel raffinierter als ich. Und dann wurde es ihr bewußt, daß sie verliebt war, zum ersten Mal in ihrem jungen Leben. Verliebt in Markus Röding, der sieben Jahre älter war als sie – und ein richtiger Mann.
*
Georgia hatte die Tür zum Schlafzimmer ihres Mannes einen Spalt offengelassen. Sie hatten schon lange getrennte Schlafzimmer, und vielleicht hatte das dazu beigetragen, daß sie alle Belastungen, die diese Ehe mit sich brachte, durchgestanden hatte.
Sie war in einen leichten Schlaf gesunken, mehr erschöpft von all den Sorgen, die sie bewegten, als durch körperliche Arbeit. Im Morgengrauen wurde sie durch ein Stöhnen geweckt. Sie sprang auf und eilte zum Bett ihres Mannes.
Er krümmte sich vor Schmerzen. Sein Gesicht war schweißbedeckt, sein Atem ging keuchend.
Es war noch nicht sechs Uhr, aber Georgia zögerte nicht mehr. Sie wählte die Nummer von Dr. Norden.
Fee Norden griff nach dem Telefon. »Ist ja mal wieder Wochenend«, murmelte sie und meldete sich.
Daniel brummte schlaftrunken. »Frau Schilling?« sagte Fee, und da richtete er sich auf. »Ja, mein Mann kommt sofort.«
Daniel schwang seine Beine schon aus dem Bett. »Es geht um ihn, Daniel«, sagte Fee, gleich hellwach.
»Das war ja mal vorauszusehen«, murmelte er. Er eilte schon ins Bad und ließ kaltes Wasser über sein Gesicht rieseln.
In Blitzgeschwindigkeit kleidete er sich an. Fee hatte ihm indessen bereits ein Glas Orangensaft hingestellt.
»Wenigstens eine ganz kleine Vitaminspritze«, sagte sie.
»Danke, mein Schatz.« Einen Kuß bekam sie auch noch, und dann war er draußen.
Georgia war in ein Hauskleid geschlüpft. Sie eilte zur Tür, als sie den Wagen kommen hörte, damit die Mädchen nicht durch das Läuten geweckt wurden. Sie wollte mit niemandem sprechen, bevor Dr. Norden den Patienten nicht gesehen hatte.
Er drückte ihr leicht die Hand. »Er hat Fieber, hohes Fieber, aber ich kann es nicht messen«, flüsterte sie. »Sie kennen ja seine Eigenheiten.«
Er kannte sie eigentlich nur aus ihren Erzählungen, denn Holger Schilling ließ keinen Arzt an sich herankommen. Jetzt konnte er sich nicht wehren. Er war dazu auch gar nicht mehr in der Lage.
»Ja, Frau Schilling, wir werden Ihren Mann schleunigst in die Klinik bringen müssen. Ich kann Ihnen nicht verheimlichen, daß Lebensgefahr besteht«, stellte Dr. Norden nach der Untersuchung fest.
»Er will am Montag nach Amerika fliegen«, sagte sie tonlos.
»Gar nicht daran zu denken«, erwiderte Dr. Norden sehr bestimmt. Sorgfältig zog er die Injektion auf, und Georgia wandte sich ab. Nicht, weil sie es nicht sehen konnte, sondern weil sie meinte, Holger würde sich dagegen wehren. Aber er wehrte sich nicht. Kraftlos lag er da.
»Ich rufe jetzt den Krankenwagen. Es ist Ihnen doch recht, wenn wir ihn in die Behnisch-Klinik legen?« fragte er.
»Mir ist alles recht«, erwiderte sie leise. »Es fragt sich nur, was er sagen wird.«
Tiefste Resignation klang aus diesen Worten. Dr. Norden hatte sich schon manche Gedanken um diese Frau gemacht, und er wußte, daß sie seelische Hilfe brauchte, obgleich sie keineswegs zum Jammern neigte.
Wolken sind überall, hatte er gedacht, als sie einmal beiläufig erwähnte, daß ihre Ehe sich anscheinend in einer Krise befande.
Nun, jetzt zogen schwarze Wolken auf, das wußte er. Bevor er noch eine gründliche Untersuchung durchgeführt hatte, war ihm klar, daß Professor Dr. Dr. Schilling, der berühmte Physiker, mit höchsten Auszeichnungen versehen, ein todkranker Mann war.
Er konnte es dieser Frau nicht sagen, nicht jetzt in dieser Stunde, in der die Nacht erst einem neuen Tag wich.
Als der Krankenwagen kam, erschien Jessica an der Treppe. Mit weiten, angstvollen Augen blickte sie den Arzt an.
»Was ist?« stammelte sie.
»Papa muß in die Klinik«, erwiderte Georgia mit klangloser Stimme.
»Ich ziehe mich gleich an, Mami«, sagte Jessica.
»Laß dir nur Zeit. Ich fahre mit«, erwiderte Georgia. »Sag dann Nadine Bescheid. Ich weiß nicht, wann ich zurückkomme.«
Zwei Sanitäter hoben den Kranken auf die Trage. Georgia schien es nicht begreifen zu können, daß er keine Regung zeigte.
»Er ist jetzt nicht bei Bewußtsein«, erklärte Dr. Norden. Georgia sah ihn geistesabwesend an. »Kann ich so gehen?« fragte sie bebend,
»Aber freilich«, erwiderte der Arzt aufmunternd »Sie können aber auch zu Hause bleiben, Frau Schilling. Ich rufe Sie dann an.«
Sie schüttelte den Kopf. Bis zum bitteren Ende, dachte sie unwillkürlich, und sie erschrak bei diesen Gedanken. Sollte es wirklich das Ende sein? Aber so, wie Holger aussah, schien er dem Tode bereits näher als dem Leben.
*
Jessica wartete nicht, daß Nadine erwachen würde. Sie ging zum Zimmer ihrer Schwester. Nadine lag in tiefstem Schlummer. Jessica rüttelte sie wach
»Bist du wahnsinnig? Es ist doch halbe Nacht«, sagte Nadine gereizt.
»Papa ist eben in die Klinik gebracht worden. Es geht ihm schlecht. Mami ist mitgefahren«, sagte Jessica.
Nadine richtete sich auf. »Hat es ihn endlich mal erwischt«, murmelte sie.
»Rede doch nicht so, Nadine. Er arbeitet zuviel.«
»Und verausgabt sich mit seiner Assistentin«, empörte sich Nadine. »Meinst du, ich hätte Mitleid mit ihm?«
»Wie kannst du nur so reden! Denk doch jetzt wenigstens mal an Mami.«
»Was kann ich dafür, daß ihr noch nicht ein Licht aufgegangen ist. Ich hätte es ihr gern manchmal gesagt. Aber sie glaubt ja nur an das Gute. Sie leidet still vor sich hin. Sie will uns die heile Welt erhalten, Jessi. Diese verlogene Welt.« brach es dann aus Nadine heraus.
»Du lügst auch«, sagte Jessica erbittert. »Und du spannst mich für deine Lügen ein. Aber damit ist es vorbei.«
»Reg dich ab, du brauchst nicht mehr zu lügen«, sagte Nadine. »Mit Francesco ist es aus.«
»Wir haben jetzt auch an etwas anderes zu denken«, sagte Jessica.
Nadine kniff die Augen zusammen. »Wolltest du heute nicht mit Markus segeln gehen?« sagte sie hintergründig.
»An so was denke ich doch jetzt gar nicht. Herr im Himmel, reiß dich zusammen. Mami braucht uns doch jetzt.«
»Wann hätte sie uns je gebraucht? Sie ist doch allem gewachsen und sagt nie, wie es in ihr aussieht. Sie wird mit allem allein fertig.«
»Sie hat eben Charakter«, sagte Jessica, »und du hast keinen.
»Mit Francesco ist Schluß«, schrie Nadine sie an. »Habe ich das nicht gesagt?«
»Warten wir es ab«, sagte Jessica.
*
»Tut mir leid, Dieter«, sagte Dr. Norden zu seinem Freund Dr. Behnisch. »Ich habe dich deinem wohlverdienten Schlummer entrissen.«
»Denkste«, erwiderte der gemütlich. »Ich bin schon seit fünf Uhr auf den Beinen. Um was handelt es sich?«
»Eine perfekte Diagnose kann ich dir nicht mitliefern, aber ich habe ein dummes Gefühl. Schilling ist Atomphysiker. Ich habe so eine Ahnung.«
»Wenn du schon eine Ahnung hast«, brummte Dr. Behnisch. »Leukose?«
»Es ist nur eine Ahnung«, sagte Dr. Norden nochmals.
»Dann setzen wir da mal an«, erwiderte Dr. Behnisch. »Dein Glück, daß du mir nicht nur aussichtslose Fälle bringst, Daniel.«
»Ich will nicht sagen, daß es aussichtslos wäre«, schränkte Dr. Norden ein.
»Zuversichtlich siehst du nicht aus«, knurrte Dieter Behnisch. »Fangen wir an, mein Freund.«
»Ich werde dich erst mit Frau Schilling bekannt machen. Sie ist seelisch down, Dieter. Beachte das bitte.«
»Seelische Unterstützung überlasse ich dir«, erwiderte Dr. Behnisch.
Dann wurde Holger Schilling untersucht. Dabei wurden keine Worte gewechselt. Blut wurde abgenommen, der hagere Körper abgetastet. Dr. Behnisch richtete sich auf.
»Was Willenskraft alles vermag«, sagte er, »aber einmal ist damit doch Schluß. Warten wir die Befunde ab. Schlimm genug werden sie sein, und deine Ahnungen werden sich wohl wieder mal bestätigen.«
»Er wollte am Montag nach Amerika fliegen«, sagte Daniel.
»Du machst Witze«, sagte Dieter Behnisch. »Wenn er noch eine Woche überlebt, wäre es ohnehin schon ein Wunder. Aber ich will die Laborbefunde abwarten, bevor du seine Frau seelisch vorbereitest.«
*
Georgia saß in Gedanken versunken in einem Sessel. Sie schien fast zu schlafen.
Mein Gott, wie erschöpft sie ist, dachte Dr. Norden, als er ihr die Hand auf die Schulter legte. Und als sie ihn dann ansah, aus angstvollen Augen, die groß und dunkel in dem zerquälten Gesicht brannten, dachte er, daß sie schon fast ein Fall für den Psychiater wäre.
»Ich bringe Sie jetzt heim. Hier können Sie nichts tun«, sagte er. »Ihr Mann wird schlafen.«
»Er wird sich entsetzlich aufführen, wenn er aufwacht«, flüsterte Georgia.
»Das wird er nicht. Dazu ist er viel zu schwach. Er wird froh sein, wenn man ihn gut versorgt.«
»Dieser plötzliche Zusammenbruch«, murmelte sie.
»Einmal ist der stärkste Wille gebrochen«, sagte Dr. Norden. »Sie dürfen sich jetzt nicht unterkriegen lassen, Frau Schilling.«
»Jetzt tut mir Holger leid«, sagte sie leise.
Wenn sie sich doch nur mal richtig aussprechen würde, ging es Dr. Norden durch den Sinn. Sie scheint doch eine ganze Menge in sich hineingeschluckt zu haben.
»Können Sie mir die Diagnose sagen?« fragte sie gequält, als er sie heimfuhr.
»Wahrscheinlich ein Virus. Er hat kaum Abwehrkräfte«, erwiderte er ausweichend.
»Er steckt wieder in wichtigen Forschungsarbeiten«, sagte sie leise. »Er ist besessen davon, sie zu Ende zu führen.«
»Es wird ihm jetzt nicht viel nutzen«, sagte Dr. Norden. »Es wäre falsch, wenn ich das leugnen würde.«
»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie nichts beschönigen würden, Dr. Norden«, sagte Georgia leise.
»Wir müssen die Laborbefunde abwarten.«
»Wann bekommen Sie diese?«
»Vielleicht heute noch. Ich rufe Sie dann an. Jetzt sollten Sie ein paar Stunden schlafen.«
»Ich will es versuchen«, sagte Georgia müde.
Er brachte sie dann noch bis zur Haustür. Sie konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Jessica öffnete schon. Kaffeeduft zog durch das Haus und stieg auch Dr. Norden in die Nase. Er freute sich jetzt auf das Frühstück mit seiner Frau und den Kindern.
»Sorgen Sie dafür daß Ihre Mutter schläft, Jessica«, sagte er eindringlich.
»Ich passe schon auf.« Sie sah ihn bittend an. »Mami soll sich nicht aufregen«, flüsterte sie, und er wußte, daß sich dies auch auf die gestrige Begegnung bezog.
»Das meinte ich«, erwiderte er.
»Ich habe Brötchen geholt, Mami«, sagte Jessica drinnen. »Sie sind noch ganz warm. Du mußt etwas essen.«
»Ich bin so müde, Jessi«, murmelte Georgia.
»Du darfst jetzt doch nicht schlappmachen, Mami«, sagte das Mädchen bittend.
»Ich mache schon nicht schlapp. Schläft Nadine noch?«
»Ja, sie ist wieder zu Bett gegangen, aber sie hat gefrühstückt. Du weißt doch, daß sie ein Morgenmuffel ist.«
Wie unterschiedlich sie sind, dachte Georgia, und um Jessica nicht zu kränken, setzte sie sich an den Frühstückstisch.
»Sag nur, was du möchtest, ich richte es her«, sagte Jessica eifrig.
»Der Kaffee ist gut«, stellte Georgia fest. »Vielleicht ein Honigbrötchen, Kleines. Ein Löffel Honig soll ja angeblich den Vitaminbedarf für den ganzen Tag decken.«
Jessica zwang sich zu einem Lächeln. »Dann nimm noch einen extra, Mami. Hat Papa eine Grippe?«
»Anscheinend. Und überarbeitet ist er auch.«
»Dann wird es gut sein, wenn er mal zum Ausruhen gezwungen wird. Aber ich wette, daß spätestens um neun Uhr die Lamprecht anruft.«
»Das Lämmchen«, sagte Georgia tonlos.
»Was an der Lämmchen ist, möchte ich wissen. Ein Lamm im Fuchspelz.«
Georgia begriff, daß Jessica auf den teuren Pelzmantel anspielte, den Sigrid Lamprecht getragen hatte, als sie vorige Woche zum Abendessen zu ihnen kam.
»Sie verdient doch blendend. Sie kann sich so was leisten«, sagte sie gleichmütig.
»Du kaufst dir keine teuren Pelze, Mami.«
»Ich mag keine. Mir tun die Tiere leid. Außerdem bin ich allergisch gegen Felle.« Georgia wunderte sich, daß sie so ruhig blieb, denn plötzlich war ihr der Gedanke gekommen, daß Sigrid Lamprecht die andere Frau in Holgers Leben sein könnte. Gerade jetzt erst. Komisch, daß sie nicht früher daran gedacht hatte. Warum eigentlich nicht? Weil die andere so ganz anders war als sie, und weil Holger von emanzipierten Frauen eigentlich nichts hielt?
Und dachten die Mädchen vielleicht ebenso? Sie sah Jessica nachdenklich an, aber die wich ihrem Blick aus.
»Ich schlafe jetzt noch ein paar Stunden. Die Nacht war unruhig«, sagte sie beherrscht. »Ich bin für niemanden zu sprechen.«
»Ist schon recht, Mami«, sagte Jessica.
»Hattet ihr für heute etwas vor?« fragte Georgia noch.
»Ist doch jetzt hinfällig«, erwiderte Jessica.
Georgia konnte nicht einschlafen. Ihre Nerven waren überreizt. Ihre. Gedanken wanderten zurück.
»Du kannst stolz sein, einen solchen Mann zu bekommen«, hatte ihr Vater an ihrem Hochzeitstag gesagt. Ja, sie war stolz gewesen. Doktor der Physik, Doktor der Chemie war Holger gewesen, nicht irgendwer, und sie war gerade zwanzig Jahre alt.
Und dann war Holgers Bruder Jürgen gekommen, um acht Jahre jünger als der zweifache Doktor und ein lustiges Haus, wie sie später feststellte. Er hatte sie bestürzt gemustert. Ja, bestürzt, so als wollte er sagen, wie kommst du denn zu dem trockenen Intellektuellen.
Holger hatte seinen Bruder einen Abenteurer genannt, einen Hallodri. Jürgen war dann nach Australien gegangen und hatte nur selten mal was von sich hören lassen.
So verschieden wie diese Brüder sind auch meine Töchter, dachte Georgia. Und dann wanderten ihre Gedanken weiter, die Jahre ihrer Ehe hindurch, diese Jahre, in denen sie sich immer mehr in sich selbst zurückgezogen hatte. Was hatten sie sich denn schon zu sagen. Sie hatten völlig gegensätzliche Interessen. Aber sie hatte die Kinder.
Und nun waren auch die erwachsen geworden. Erwachsen? War sie denn mit zwanzig Jahren schon erwachsen gewesen? Man hatte ihr doch keine Zeit gelassen, sich richtig zu entwickeln. Zuerst war der Vater der Herr im Hause gewesen, dann Holger. Sie hatte getan, was der Vater für richtig gehalten hatte, und sie tat, was Holger für richtig hielt.
Sie hatte vor allem lernen müssen, zu repräsentieren. Ja, das hatte sie gelernt. In Amerika war das auch einfach gewesen. Da gab man sich leger.
Hier, in der Heimat wurde dann ein anderer Stil gepflegt. Da gab man ab und zu mal ein Essen in einem Hotel. Auf freundschaftliche Kontakte legte Holger keinen Wert. Als Erklärung gab er dafür an, daß die heranwachsenden Töchter möglichst reserviert gehalten werden sollten. Er wolle sie nicht auf dem Präsentierteller herumgereicht wissen, wie das früher üblich gewesen wäre.
War das nicht schon eine Spitze gegen sie gewesen? Hatte er nicht oft genug angedeutet, daß man ihn zu dieser Heirat regelrecht animiert hätte?
Und bei all diesen Gedanken fielen Georgia dann doch die Augen zu. Alles war ausgelöscht, was sie bewegt hätte. Sie sank am hellichten Morgen in tiefen, traumlosen Schlaf.
*
Jessica hatte das Telefon leise gestellt, aber sie lauschte immer zu ihm hinüber, und dann summte es tatsächlich.
»Jessica Schilling«, meldete sie sich.
»Hallo, Jessica«, tönte die Stimme von Markus an ihr Ohr. »Kann ich dich abholen?«
»Es geht nicht, Markus. Mein Vater ist heute morgen in die Klinik gebracht worden und Mami ist ziemlich fertig.«
»Kann ich irgendwie behilflich sein?« fragte er betroffen.
»Ich weiß nicht wie.«
»In welcher Klinik liegt er?«
»In der Behnisch-Klinik. Ich weiß nicht, was ihm fehlt, aber es scheint ziemlich schlimm zu sein.«
»Ich erkundige mich, Jessi. Wenn du Zeit findest, ruf mich an. Ich bin morgen auch noch hier.«
»Du wolltest doch segeln gehen«, sagte sie leise.
»Jetzt macht es mir keinen Spaß mehr. Außerdem bewölkt es sich.«
Als ob ihm das etwas ausmachen würde! Aber irgendwie war Jessica in allem Kummer glücklich, daß er so reagiert hatte.
»Na, hat Jessica dir einen Korb gegeben?« fragte Kai anzüglich, als Markus sich wieder an den Tisch setzte und sich noch eine Tasse Kaffee einschenkte.
»Dr. Schilling mußte in die Klinik gebracht werden«, erwiderte Markus geistesabwesend.
»Ich bin ihm neulich im Institut begegnet«, bemerkte Dr. Röding, seines Zeichens ebenfalls Professor auf technischem Gebiet. »Nur Haut und Knochen, aber die flotte Sigrid immer zur Seite.«
»Wer ist die flotte Sigrid?« fragte Inge Röding aufhorchend.
»Brauchst nicht gleich zu eifern, Ingelein«, lachte Theo Röding, »für Emanzen habe ich nichts übrig, vor allem nicht für solche, die wunder wie selbstherrlich tun und doch immer nach Mannsbildern schielen. Aber was hier geredet wird, bleibt unter uns.«
»Georgia Schilling ist eine attraktive Frau«, sagte Inge, »und nicht so mollig wie ich.«
»Ich liebe jedes Pfund an dir«, scherzte Theo Röding.
»Nun schmust ganz schön«, sagte Kai und verzog sich.
»Er macht eine empfindsame Phase durch«, stellte Markus fest. »Die flotte Nadine hat ihn enttäuscht.«
»Jessica ist mir lieber«, sagte sein Vater.
»Mir auch, Paps«, erwiderte Markus. Und auch er entschwand.
»Hoppla, er wird sich doch nicht verliebt haben«, sagte Inge.
»Warum denn nicht? Jessica ist ein süßes Mädchen, keineswegs so oberflächlich wie Nadine, aber die hat wohl Feuer im Blut.«
»Das kannst du wohl besser beurteilen als ich«, meinte Inge anzüglich.
»Ich habe immer den gleichen Typ bevorzugt«, erwiderte er neckend. »Seit fast dreißig Jahren nur eine gewisse Inge. Aber Jessica ist auch so ein Typ.«
»Darf ich meinen Schatz daran erinnern, daß wir erst sechsundzwanzig Jahre verheiratet sind und ich gerade meinen fünfundvierzigsten Geburtstag gefeiert habe?« fragte sie schelmisch, »und daß diese Hochzeit in aller Stille begangen wurde, weil ein gewisser Markus sich bereits angekündigt hatte?«
»Ich habe es nicht vergessen und nie bereut, Ingelein. Worauf willst du hinaus?«
»Daß Markus dir sehr ähnlich und Jessica erst achtzehn ist – und noch zur Schule geht.«
»Man muß das Leben eben nehmen, wie das Leben eben kommt, Schätzchen«, lachte er. »Und jetzt lassen wir uns den Tag nicht verderben und fahren an den See. Dann machen wir eben das Boot flott. Unsere Söhne wollen wir doch nicht an die Kette legen.«
»Meinst du wirklich, daß Schilling ein Verhältnis mit dieser Sigrid hat?« fragte sie nachdenklich.
»Ist mir egal. Jedem Tierchen sein Pläsierchen. Ich mag ihn nicht, wenn du es genau wissen willst.«
»Warum nicht?«
»Weil Typen wie er meinen, die ganze Welt beherrschen zu können. Und Gnade uns Gott, wenn ihnen diese Macht wirklich in die Hände gelegt wird. Dann macht es einmal Puff, und alles ist ausradiert.«
»Mach mir nicht Angst, Theo«, sagte sie erschrocken.
»Zurück zur Natur lautet die Devise, Inge. Ziehen wir uns dorthin zurück.«
*
Dr. Behnisch war von Schwester Martha zu Dr. Schilling gerufen worden. Zu seiner maßlosen Überraschung war der Patient bei Bewußtsein.
»Wieso bin ich hier?« fragte er schleppend.
»Es war erforderlich«, wiederholte Dr. Behnisch ruhig.
»Meine Frau wollte es.« Die Stimme wurde schon wieder schwächer.
»Nein, Dr. Norden ordnete es an.«
»Sie steckt mit ihm unter einer Decke.« Die Hälfte konnte man nur ahnen, aber Dr. Behnisch brauchte nichts mehr zu sagen. Holger Schillings Bewußtsein war schon wieder geschwunden. Jedoch war sich Dr. Behnisch bewußt, daß er es mit einem sehr schwierigen Patienten zu tun hatte, bei dem man auf alles gefaßt sein mußte. Nur nicht darauf, daß er diese Krankheit überleben würde! Darüber war sich der Chefarzt der Behnisch-Klinik bereits klar.
»Wieviel Zeit gibst du ihm noch, Dieter?« wurde er von seiner Frau Jenny gefragt. Er zuckte die Schultern. »Ich wage keine Prognose. Er besteht ohnehin nur noch aus Hirn, aber das ist noch in Funktion. Es könnte durchaus sein, daß er sich vorübergehend erholt.«
»Aber du bist sicher, daß er Strahlungen ausgesetzt war.«
»Es fragt sich nur wann und wo, Jenny.«
»Wir müssen seinem Institut davon Mitteilung machen«, serklärte sie.
»Ja, das müssen wir wohl, und dann wird man ihn von hier rausholen. Das kann mir nur recht sein.«
»Ich habe auch nicht den Ehrgeiz, mich intensiv mit ihm zu befassen. Ruf Daniel an.«
Das tat Dr. Behnisch. »Verdammt«, sagte Daniel laut.
»Papi flucht«, sagte die kleine Anneka.
»Bloß am Telefon«, meinte Danny.
Fee Norden lauschte und als Daniel den Hörer auflegte, sah sie ihn fragend an.
»Warum hast du geflucht, Papi?« fragte nun auch Felix.
»Ist mir nur so herausgerutscht. Kommt nicht wieder vor«, erwiderte Daniel. »Geht doch schon mal in den Garten, Kinder.«
»Jetzt sagt Papi der Mami, warum er geflucht hat«, meinte Danny.
So war es, und Fee machte auch gleich ein sehr nachdenkliches Gesicht.
»Das könnte sehr weite Kreise ziehen«, sagte sie leise.
»Jedenfalls muß es längere Zeit zurückliegen«, sagte Daniel. »Wahrscheinlich Jahre. Jedenfalls werden sich seine Frau und die Töchter auch einer Untersuchung unterziehen müssen.«
»Ob sie überhaupt eine Ahnung haben, wie gefährlich sie leben?« überlegte Fee.
»Wir wollen nicht soweit denken. Ich weiß gar nicht, auf welchem Sektor er tätig ist. In seiner Wohnung wird er kaum experimentieren.«
»Benachrichtigst du jetzt Frau Schilling?«
»Ich möchte ihr noch ein bißchen Ruhe gönnen. Es wird viel auf sie zukommen«, sagte Daniel.
Das fing schon an. Allerdings versuchte Jessica noch, Unruhe von ihrer Mutter fernzuhalten.
Dr. Sigrid Lamprecht hatte bereits angerufen. Sie wartete auf Dr. Schilling, hatte sie gesagt. »Papa ist in der Klinik«, hatte Jessica erwidert, und darauf war der Hörer aufgelegt worden. Doch schon eine halbe Stunde später stand Sigrid Lamprecht in höchst eigener Person vor der Tür.
Sie war sichtlich aufgeregt. »Ich kann es nicht glauben, Jessica«, sagte sie. »Was ist passiert?«
»Erkundigen Sie sich doch bei Dr. Behnisch«, erwiderte Jessica unwillig.
»Kann ich nicht mit deiner Mutter sprechen?«
»Nein.« Feindselig sagte es Jessica. Doch da kam Nadine die Treppe herunter. Sie brannte förmlich darauf, was sie selbst durchgemacht hatte, abzureagieren.
»Jetzt kann das Lämmchen ja Händchen halten«, sagte sie boshaft. »Immer zu.«
Sigrid blieb der Mund offenstehen. »Du bist ganz schön frech«, sagte sie dann wutbebend. »Es würde deinem Vater nicht gefallen.«
»Mir gefällt auch manches nicht, was er tut. Ich bin nicht von gestern«, erwiderte Nadine. »Für nichts und wieder nichts bekommt man doch nicht einen Fuchsmantel für zehntausend Mark geschenkt. – Leugnen ist sinnlos«, fuhr sie aggressiv fort. »Ich habe zufällig die Rechnung bei dem zerstreuten Professor gefunden.«
Jessica war sprachlos. Sigrid Lamprecht machte auf dem Absatz kehrt und schlug krachend die Tür hinter sich ins Schloß. Davon hätte Georgia ja aufwachen müssen, wenn sie nicht schon munter gewesen wäre, und sie hatte auch alles gehört.
Blaß stand sie im Türrahmen. »Bist du nicht zu weit gegangen, Nadine?« fragte sie tonlos.
»Mir ist die Galle raufgekommen«, erwiderte Nadine. »Ich will nicht, daß man dich für dumm verkauft.«
»Solltest du dir das nicht selbst hinter die Ohren schreiben«, fragte Georgia.
»Verschont mich jetzt mit diesem Quatsch. Ich habe andere Sorgen.«
»Du brauchst dir aber nicht alles gefallen zu lassen, Mami«, sagte Jessica leise.
Georgia straffte sich. »Euer Vater ist ein todkranker Mann«, sagte sie leise. »Nehmt das bitte zur Kenntnis. Und ich bin seit mehr als zwanzig Jahren seine Frau. Zumindest trage ich seinen Namen, und ihr seid unsere Kinder. Macht nicht alles noch schlimmer, als es ist.«
Nadine lehnte zitternd am Treppengeländer. »Ich wußte das noch nicht, Mami«, flüsterte sie. »Es tut mir leid.«
»Kann ich etwas für dich tun, Mami?« fragte Jessica.
»Nein. Unternehmt doch was. Ihr braucht hier nicht herumzusitzen. Ihr könnt doch nichts ändem, so wenig wie ich. Ich warte auf einen Anruf.«
»Es ist Post gekommen. Auch ein Brief von Onkel Jürgen«, sagte Jessica gedankenlos.
Ausgerechnet heute, dachte Georgia. »Onkel Jürgen«, sagte Nadine. »Ein feiner Onkel, den wir nie zu Gesicht bekommen hatten.«
Aber das nahm Georgia ihr nicht übel. Nicht mal ihren Ausbruch Sigrid Lamprecht gegenüber konnte sie ihr übelnehmen. Sie dachte jetzt immer nur eines: ich werde mit den Kindern allein sein, aber es sind keine Kinder mehr. Eines Tages werde ich ganz allein sein.
»Der Brief kommt aus Amerika«, sagte Jessica.
»Aus Amerika? Nicht aus Australien? Ob Holger sich vielleicht mit Jürgen treffen wollte?«
»Gib mir den Brief, Jessica«, sagte sie.
Dann las sie die Anschrift. An die Familie war er gerichtet. Sie konnte also wagen, ihn zu öffnen. Wäre er nur an Holger adressiert gewesen, hätte sie es nicht gewagt. Er war auch diesbezüglich sehr eigen. Die Adresse war mit der Maschine geschrieben, der Brief selbst mit der Hand.
»Hallo family«, lautete die Überschrift.
Er ist sechsundvierzig, dachte Georgia, aber anscheinend immer noch der Spaßvogel.
»Wird Zeit, daß ich mich mal wieder melde. Ich lebe noch, und es geht mir gut, was ich auch von Euch hoffe. Des einsamen Lebens überdrüssig, beschnuppere ich mal wieder die Kontinente und will auch sehen, was sich in old Germany so getan hat. Also werdet Ihr mich in Bälde zu Gesicht bekommen, wenn ich willkommen sein sollte. Ich habe noch drei Wochen hier zu tun. Solltet Ihr mich nicht bereits abgeschrieben haben, Telegramm genügt. Ich werde eines Tages vor Eurer Tür stehen. Anhang brauche ich nicht anzukündigen, ich habe keinen, aber ich freue mich, meine Nichten, die ganz gewiß so bezaubernd sind wie ihre Mutter, kennenzulernen.«
Ein seltsames Gefühl nahm Georgia gefangen, als sie das las. Sie meinte Jürgen vor sich stehen zu sehen. Schade, Georgia, ich komme alleweil zu spät, hatte er gesagt. »Diesmal tut es mir besonders leid. Aber Holger war immer der Beste. Er bekam alle Intelligenz. Für mich blieb nicht viel übrig. Und er bekommt auch die schönste Frau.«
Wieso erinnerte sie sich jetzt daran? Der Abenteurer, der Zigeuner, der Nichtstuer, so hatte ihn Holger genannt. Und was hatte er noch gesagt. Wir werden ihn nur wiedersehen, wenn er ganz heruntergekommen ist.
Nein, das nicht auch noch, dachte Georgia. Ein Schilling ist genug.
»Was schreibt er denn?« fragte Nadine ziemlich neugierig.
»Ihr könnt den Brief lesen«, sagte Georgia. »Ich möchte jetzt ein bißchen an die frische Luft.«
Sie hatte plötzlich das Gefühl, daß alles über ihr zusammenbrechen würde.
Nadine las den Brief zuerst. »Muß ein dufter Typ sein, ganz anders als Papa«, sagte sie. »Ich bin gespannt, wie er aussieht.«
»Für dich ist das das wichtigste«, sagte Jessica gereizt.
Georgia hörte das, und obgleich in ihrem Kopf ein wirres Durcheinander herrschte, lauschte sie.
»Fang doch bloß nicht mit Francesco an. Damit brauchen wir Mami wirklich nicht zu belasten. Der Zahn ist mir gezogen.«
»Ach ja, du wolltest dich an Markus heranmachen«, sagte Jessica. »Aber den Zahn kannst du dir ziehen lassen.«
»Reg dich doch nicht auf, es gibt noch ganz andere Männer«, sagte Nadine. »Jetzt sollten wir uns wirklich nicht ankeifen, Jessi.«
Das klang plötzlich ganz vernünftig. Männer, dachte Georgia, aber das kommt nun mal. Ich muß mich damit abfinden. Aber wer mochte Francesco sein? Was wußte sie denn schon?
Ich muß raus, mein Kopf muß frei werden, dachte sie, und dann lief sie schon hinaus.
»Mami nimmt das mächtig mit«, sagte Nadine.
Jessica hatte gerade Jürgens Brief gelesen. »Er scheint so zu sein wie du«, sagte sie.
»Wieso?«
»Er nimmt alles nur scheinbar leicht. Man muß zwischen den Zeilen lesen.«
»Was du dir immer einbildest«, sagte Nadine. »Ich nehme überhaupt nichts leicht.«
»Aber du redest so. Du stößt jeden vor den Kopf. Was war mit Francesco, Nadine?«
Nadine starrte die Jüngere an, dann brach sie plötzlich in haltloses Schluchzen aus. »Gemein war er, widerwärtig, und wenn dieser Jonas Vestris nicht gewesen wäre…«, sie warf den Kopf zurück. »Er hat mich nach Hause gebracht.«
Und da läutete das Telefon. »Geh du ran«, flüsterte Nadine.
»Hallo«, sagte Jessica gepreßt. Dann legte sie die Hand auf die Muschel. »Für dich, Nadine. Francesco.«
Nadine schüttelte wild den Kopf. »Nein, meine Schwester ist nicht zu Hause«, sagte Jessica. »Sie ist eben weggefahren. Sie hat mich nicht mehr gehört.« Lügen kamen ihr nicht leicht über die Lippen. Sie legte den Hörer auf.
»Ich soll dir sagen, daß er sich für sein Benehmen entschuldigen will«, sagte sie.
»Dieser elende Lügner. Er ist verheiratet. Vestris hat es mir gesagt.«
In Jessicas jungem Gesicht arbeitete es. »Ich habe für Francesco nichts übrig«, sagte sie, »aber du mußt nicht jedem anderen auch sofort alles glauben, Nadine. Vielleicht wollte der nur seine Chance nutzen.«
»Er hat sich sehr anständig benommen«, sagte Nadine. »Und das ist nicht so ein Schönling. Aber ich habe von den Männern sowieso genug. Schau dir doch Papa an. Dieser ehrbare Bürger. Ein Liebchen hat er, dem er Pelzmäntel schenkt. Ich habe die Nase voll. Wie konnte er unsere Mami betrügen.«
Und jetzt war sie ein kleines Mädchen, das sich ihren Kummer von der Seele schluchzte.
»Ich begreife das ja auch nicht, Nadine«, sagte Jessica bebend, »aber vielleicht ist es ganz anders.«
»Anders? Wie anders denn? Diesem Lämmchen brauchst du doch nur in die Augen zu schauen, und dann weißt du, daß es eine Schlange ist, eine widerliche, giftige Schlange.«
*
Irgendwie hatte Dr. Jenny Behnisch auch den Eindruck, eine Schlange vor sich zu haben, als sie mit Dr. Sigrid Lamprecht sprach. Aber vielleicht wirkte sie nur auf Frauen so. Immerhin sah sie recht ansprechend aus. Vielleicht ein bißchen zu arrogant, zu glatt, aber eben das vermittelte den Eindruck einer Schlange, die man nicht greifen konnte, von der man belauert wurde und vor der man zurückwich, um einem Würgegriff zu entgehen.
Dr. Behnisch sprach bereits mit einem Kollegen vom Institut, der erreichbar gewesen war. Davon hatte Jenny zu Sigrid Lamprecht nichts gesagt.
»Ich kann Ihnen nur sagen, daß Dr. Schilling heute noch in eine Spezialklinik verlegt wird«, sagte Dr. Jenny Behnisch ruhig.
»In was für eine Spezialklinik?« fragte Sigrid. »Wir stehen vor dem Abschluß einer ungeheuer wichtigen Arbeit. Mit dem Ergebnis wollten wir am Montag nach Amerika fliegen.«
»Dr. Schilling wird das nicht möglich sein«, sagte Jenny. »Aber da kommt ein Kollege von Ihnen. Er kann Sie informieren.«
Dr. Moltau, so hieß er, schien nicht erbaut zu sein, Sigrid Lamprecht zu treffen. Er drehte sich zu Dr. Behnisch um. »Was kann ich sagen?« fragte er.
»Daß sich die engsten Mitarbeiter ner Untersuchung unterziehen müssen«, erwiderte Dr. Behnisch, »vorsichtshalber. Soweit ich es beurteilen kann, ist Professor Schilling bereits in Amerika Strahlungen ausgesetzt worden.«
»Strahlungen?« stieß Sigrid hervor. Kreidebleich wich sie zurück.
»Sie waren doch auch vorübergehend drüben«, sagte Dr. Moltau. »Vielleicht können Sie uns weiterhelfen.«
»Sie meinen Strahlungen? Nein. Cadmium«, murmelte sie.
»Cadmiumzelle«, sagte Dr. Moltau. »Kommen Sie, Frau Lamprecht. Ich werde Sie informieren, Dr. Behnisch. Danke für die schnelle Benachrichtigung.«
Jenny Behnisch sah ihren Mann an. »Es könnte also eine Cadmiumvergiftung vorliegen«, sagte sie.
»Schleichend. Sie könnte die Leukose ausgelöst haben. Genau feststellen wird man alles, wenn er tot ist.«
»Mein Lieber, das war deutlich«, sagte sie rauh.
»Was soll ich es verniedlichen. Er wird sterben, so wahr ich seit zwanzig Jahren Arzt bin.«
»Studium inbegriffen. Mach dich nicht älter, als du bist, Dieter.«
»Augenblicklich fühle ich mich uralt und hilflos, weil ich zum ersten Mal mit solch einem Fall konfrontiert wurde. Aber man wird ihn bald abholen. Dem ist meine kleine Privatklinik nicht gewachsen und ich bin froh, wenn ich nichts mehr damit zu tun habe.«
»Das war auch deutlich.«
»Er würde uns das Leben zur Hölle machen«, sagte Dieter Behnisch. »Darauf bin ich wirklich nicht versessen, so leid mir seine arme Frau tut.«
*
Georgia wußte gar nicht, wohin sie lief, bis sie endlich einigermaßen klar denken konnte. Und dann hatte sie Durst.
Sie lief zurück, aber einen anderen Weg, und da sah sie ein Ausflugslokal. Fröhliche Menschen saßen im Biergarten. Einige Tische im Schatten waren frei. An einen setzte sie sich, an einem anderen saß ein dunkelhaariger Mann. Schattenhaft, durch die Sonne geblendet, nahm sie es wahr.
Eine freundliche Bedienung brachte ihr Kaffee und Mineralwasser. Ganz in sich versunken saß Georgia da und konnte tatsächlich für Minuten alle Gedanken ausschalten.
Sie merkte nicht, daß der Fremde am Nebentisch sie betrachtete mit einem sehr nachdenklichen Interesse, sie ahnte nicht, wieviel ihr Mienenspiel ausdrückte. Sie ahnte auch nicht, wie sehr sich dieser Fremde mit ihr befaßte. Und Dr. Joachim Hartung ahnte nicht, daß er diese Frau, die ihn faszinierte, schon am nächsten Tag unter ganz anderen Umständen wiedersehen würde.
Georgia schlug ganz bewußt den Weg zur Behnisch-Klinik ein, und da sah sie gerade einen Krankenwagen davonfahren. Sie traf Dr. Behnisch in der Halle. Mit einem freundlichen, mitfühlenden Blick sagte er, daß er versucht hätte, sie zu erreichen.
»Ich bin herumgelaufen«, erklärte sie geistesabwesend.
»Das ist gut. Wir haben Ihren Mann in eine Spezialklinik bringen müssen, gnädige Frau. Ich darf Ihnen nicht verheimlichen, daß seine Krankheit die Folge einer bereits länger zurückliegenden Cadmiumvergiftung ist, und es muß festgestellt werden, ob Sie und Ihre Töchter damit auch in Berührung gekommen sind.«
Sie sah ihn verständnislos an. »Mein Mann hatte seinen Arbeitsbereich immer sehr entfernt von uns«, sagte sie tonlos.
»Es ist auch nur eine Vorsichtsmaßnahme«, erklärte Dr. Behnisch. »Würden Sie sich bitte morgen bei Dr. Janson melden?«
Georgia sah ihn blicklos an. »Holger wird nicht mehr gesund werden«, murmelte sie. »Cadmium ist krebserzeugend, das weiß ich.«
Dr. Behnisch nickte. »Es ist bereits Leukämie im fortgeschrittenen Stadium. Es tut mir leid, gnädige Frau.«
»Er war immer so richtig besessen von seiner Arbeit. Nun wird er sie gar nicht mehr zu Ende führen, diese letzte jedenfalls nicht«, sagte sie tonlos. »Ich werde jetzt heimgehen.« Ihre Lippen zitterten, als sie noch fortfuhr: »Es wäre schrecklich, wenn meine Töchter in irgendeiner Weise dadurch geschädigt würden.«
»Sehen Sie nicht zu schwarz, gnädige Frau«, sagte Dr. Behnisch aufmunternd.
Sie blickte zu Boden. »Ich habe nie verstanden, daß so viel Verstand und auch so viel Geld nur zur Vernichtung eingesetzt werden. Es wird mir immer unbegreiflich bleiben. Vielleicht denkt er jetzt darüber nach, daß er seine Kraft viel besser eingesetzt hätte, Menschen zu helfen. Entschuldigen Sie, daß ich das jetzt sage. Er wird ja mit seinem Leben dafür bezahlen.«
Und wieder ging sie mit gesenktem Kopf durch stille Straßen. Jetzt dachte sie nur an Nadine und Jessica, die das Leben noch vor sich hatten. Ihr eigenes Leben schien ihr bedeutungslos geworden, so deprimiert war sie.
*
Jessica und Nadine waren zum zweitenmal an diesem Tag mit Sigrid Lamprecht konfrontiert worden. Sie war gekommen und hatte ohne Umschweife die Unterlagen verlangt, die Professor Schilling mit nach Hause genommen hatte.
»Keine Ahnung, wo er die hat«, erklärte Jessica abweisend, »und ohne Papas Zustimmung würde ich auch nichts herausgeben.«
Sigrids Gesicht verzerrte sich. »Wir benötigen diese Unterlagen dringend«, sagte sie.
Da ließ Nadine erkennen, daß sie gescheiter war, als man sie einschätzte.
»Falls Papa sie wirklich mitgebracht hat, muß sich doch ein Doppel im Institut befinden«, sagte sie. »So wird das doch gehandhabt. Er hat es mir mal erklärt, als ich ihn fragte, was geschehen würde, wenn man ihm seine Akten stehlen wurde«
Sigrid kniff die Augen zusammen. »Es ist Wochenende. Wir können nicht an den Tresor heran«, sagte sie heftig. »Der Verwaltungsdirektor ist nicht zu erreichen.«
»Dann müssen Sie eben warten, bis er zu erreichen ist«, sagte Nadine, und man konnte es ihr ansehen, welche Genugtuung es ihr bereitete, Dr. Sigrid Lamprecht diese Niederlage zu bereiten.
»Ihr beide seid verdammt arrogant«, stieß Sigrid hervor. »Holger hat ja immer gesagt, daß eure Mutter euch falsch erzogen hat.«
»Vielen Dank für die Auskunft«, sagte Nadine. »Ein Hoch auf diesen Vater!«
»Nadine«, sagte Jessica warnend.
»Soll ich etwa in Tränen ausbrechen?« fragte Nadine gereizt. »Und wenn er todkrank ist, ich lasse doch Mami nicht beleidigen. Ich werde jetzt im Institut anrufen und mich erkundigen, ob Frau Lamprecht berechtigt ist, solche Forderungen zu stellen.«
»Ich bin die engste Mitarbeiterin von Professor Schilling«, sagte Sigrid erregt.
»Und was sonst noch?« spottete Nadine.
Doch in diesem Augenblick kam Georgia zurück. Sie maß Sigrid Lamprecht mit einem verächtlichen Blick.
»Sie haben hier gar nichts zu suchen«, sagte sie eisig. »Wo mein Mann zu finden ist, werden Sie ja wissen.«
»Sie sehen alles verzerrt, Georgia«, sagte Sigrid in gemäßigtem Ton.
»Vor allem Ihr Gesicht«, konterte Georgia. »Dies ist mein Haus. Hier bestimme ich. Sie sind nicht erwünscht.«
*
Noch lange herrschte Stille, nachdem Sigrid Lamprecht gegangen war.
»Sie wollte Unterlagen von Papa an sich bringen«, sagte Jessica endlich zaghaft.
»Sie hält uns für blöd, aber das ist ja kein Wunder, wenn er uns so hingestellt hat«, sagte Nadine zornig. »Erwarte ja nicht, daß ich ihn bemitleide, Mami.«
Nichts bleibt, dachte Georgia, selbst die Kinder haben sich von ihm abgewandt. Und er wird sterben, elend sterben. Dann aber stieg die Angst in ihr empor.
»Wir müssen uns morgen untersuchen lassen«, erklärte sie stockend.
»Ist es etwa eine ansteckende Krankheit?« begehrte Nadine auf. »Das fehlte noch, daß er sie uns auch angehängt hat.« So viel Erbitterung zeichnete sich in ihrem jungen Gesicht ab, daß Georgias Depressionen sich noch verstärkten.
»Es ist eine Vorsichtsmaßnahme. Holger ist mit Cadmium in Berührung gekommen. Dadurch wurde die Krankheit hervorgerufen.«
»Krebs«, flüsterte Jessica tonlos. »Cadmium erzeugt Krebs, das ist ja bekannt.«
Und drohend stand dieses Wort im Raum. »Es ist wirklich nur eine Vorsichtsmaßnahme«, sagte Georgia. »Wir müssen jetzt damit fertig werden.« Sie schrak zusammen, als das Telefon läutete. Diesmal griff Nadine danach.
»Sie?« sagte sie staunend. »Ja, mir geht es gut. Nein, das geht leider nicht, mein Vater ist ins Krankenhaus gekommen. Nochmals vielen Dank für Ihre Hilfe, Herr Vestris.« Sie lauschte wieder. »Was sagen Sie da?« rief sie heiser aus. »Ja, das interessiert mich schon. Sie können mich abholen. Sagen wir, in einer Stunde. Ich muß meiner Mutter erst etwas erklären.«
Ihr Gesicht war sehr blaß, als sie den Hörer auflegte. »Es tut mir sehr leid, Mami, aber ich muß dir ein Geständnis machen.«
Jessica stand zögernd an der Tür. »Ich laufe schnell mal zu Rödings«, sagte sie verlegen. »Du erlaubst es doch, Mami?«
Georgia nickte benommen. Was stürmte alles auf sie ein. Was war das für ein Tag!
»Wer ist dieser Herr Vestris?« fragte sie gedankenlos.
»Du wirst ihn kennenlernen, Mami«, sagte Nadine gepreßt. »Aber zuerst muß ich dir etwas erzählen. Ich habe vor ein paar Wochen einen Spanier kennengelernt. Francesco Caretto heißt er. Wir haben uns ein paarmal getroffen. Er sieht sehr gut aus. Ich war auch gestern nicht auf der Party bei Rödings, sondern mit ihm zusammen. Er hat sich schlecht benommen, und da hat Herr Vestris mich heimgebracht. Jonas Vestris heißt er. Er ist ein ganz anderer Typ.«
Jetzt mußte Georgia fast lächeln. »Du bist zwanzig, Nadine«, sagte sie leise. »Ich könnte dir nichts verbieten. Aber ihr haltet mich anscheinend für sehr altmodisch und verklemmt. Ich war sehr unerfahren, als ich Holger geheiratet habe, das ist nicht gut. Man sollte gewisse Erfahrungen sammeln, aber man sollte auch Vertrauen zur Mutter haben.«
»Du hast dich immer nach Papas Meinung gerichtet«, sagte Nadine. »Sei mir bitte nicht böse, daß ich das jetzt sage, ich habe ja mein Fett weg, Mami. Aber nun hat mir Herr Vestris etwas gesagt, was auch dich angeht. Es gibt eine Verbindung von Francesco zu Sigrid Lamprecht.«
Fassungslos sah Georgia ihre Tochter an. »Was könnte das bedeuten?« fragte sie.
»Daß er meine Bekanntschaft aus irgendwelchen Gründen gesucht hat«, erwiderte Nadine. »Was sonst? Aber Herr Vestris wird kommen und es mir erklären. Und ich wäre dir sehr dankbar, wenn du dabei sein würdest. Ja, es ist mir lieber. Ich bin plötzlich so mißtrauisch geworden. Du hast doch mehr Erfahrung mit Menschen als ich.«
Georgias Gesicht entspannte sich. »Danke, Nadine«, sagte sie leise.
»Wir müssen doch jetzt zusammenhalten«, sagte Nadine. »Ich will dir keinen Kummer bereiten. Du hast genug davon. Wir haben dich ziemlich im Stich gelassen.«
»Ihr seid jung. Ich wollte euch auch nicht mit meinen Sorgen belasten«, sagte Georgia leise. »Was weißt du von diesem Vestris?«
»Nicht viel. Er ist Journalist und Psychologe. Das hat er gesagt. Ob es stimmt, weiß ich auch nicht. Ich bin so verunsichert, Mami.«
»Nun, wir werden hören, was er zu sagen hat. Koch bitte einen Kaffee, Nadine, einen recht starken. Ich mache mich ein bißchen zurecht.«
Sie brauchte nicht nur allein zu denken, sie konnte mit den Mädchen reden, das mobilisierte ihre Energie.
*
Jessica hatte gemeint, daß es besser sei, wenn Nadine allein mit der Mutter sprechen würde. Sie hatte das Bedürfnis, mit Markus zu sprechen und zu erforschen, ob er wirklich für sie erreichbar wäre.
Er war da. Er streckte ihr beide Hände entgegen. »Komm herein, Jessi«, sagte er weich. »Kai ist mit den Eltern zum See. Schütte dein Herz aus, Kleines.«
Ein heißes Glücksgefühl durchströmte Jessica, als er seinen Arm um ihre Schultern legte und sie leicht auf die Stirn küßte.
»Bei euch ist allerhand los«, sagte er dann, »aber auch einer Virusgrippe kann man beikommen.«
Sie blickte zu ihm empor. »Einer Leukämie aber nicht, Markus«, sagte sie leise.
Sein Gesicht versteinerte sich. »Ist das schon festgestellt?« fragte er rauh.
Sie nickte. »Folge einer Cadmiumvergiftung. Morgen müssen wir auch zur Untersuchung. Du bist doch Arzt, Markus. Meinst du, daß wir mitbetroffen sein könnten?«
»Das kann ich mir nicht vorstellen, Jessi. Allerdings weiß ich nicht, wann die Krankheit ihren Anfang genommen hat. Aber er hat doch nicht zu Hause experimentiert. Das ist unmöglich.«
»Wir haben niemals erfahren, woran er eigentlich arbeitete. Das ist doch Geheimsache«, sagte sie. »In Amerika war er monatelang auf so einer Insel. Woran merkt man denn eigentlich, daß man solche Krankheit hat?«
»Das ist schon eine ganze Doktorarbeit, Jessi. Leukämie kann eine lange Laufzeit haben oder auch schnell fortschreitend sein. Bei dir gibt es keine Anzeichen. Du bist heute zwar ein bißchen blaß, aber sonst okay. Rede dir jetzt bloß nichts ein.«
»Ärzte sagen doch ihren Patienten nicht, wenn sie eine tödliche Krankheit haben.«
»Ich würde es nicht verschweigen«, erklärte Markus. »Es mag anfangs wohl ein Schock sein, aber ich meine, daß ein Patient viel mehr Abwehrkräfte entwikkelt, wenn er weiß, wie es um ihn steht, als wenn er sich nur den Kopf zergrübelt. Und manche Krankheit ist dadurch viel weniger schlimm verlaufen, als zu fürchten war. Schau, Jessi, es wird soviel von Krebs geredet, und es gibt so manche andere Krankheit, die genauso schlimm ist, und mit der die Patienten leben müssen und sogar alt werden. Schau dir die Behinderten an, die sich als Außenseiter der Gesellschaft fühlen müssen und oft leider auch so behandelt werden und die mit so viel Mut ihr Leben meistern, weil sie leben wollen. Denk an die Multiple Sklerose, die nicht nur die Betroffenen, sondern den Angehörigen große Opfer auferlegt. Denk an die Blinden, die Tauben, die Gelähmten, die manchmal viel stärkere Charaktere haben als die Gesunden. Und wieviel blühendes Leben wird von einer Minute zur anderen durch einen Unfall ausgelöscht, auch darüber muß man nachdenken, Jessi. Jedes Leben liegt in Gottes Hand. Leider vergessen die Menschen immer mehr, wie dankbar man für jeden einzelnen Tag sein sollte, den man erleben darf. Und wie schön ist ein Tag, an dem man glücklich sein darf. Ich bin jetzt sehr glücklich, daß du bei mir bist, Jessi.«
Sein Arm legte sich fester um sie, seine Wange senkte sich zu ihrer Stirn herab.
»Ich bin auch sehr glücklich, Markus«, flüsterte sie. Und da nahm er sie fest in seine Arme und küßte sie, lange und zärtlich.
»Ich werde hierbleiben, Liebes, und meine Doktorarbeit hier zu Ende führen«, sagte er. »Damit ich immer für dich erreichbar bin, wenn du mich brauchst. Und wenn ich eine Stellung habe, werden wir heiraten.«
»Ich gehe doch noch zur Schule, Markus«, sagte sie scheu.
»So schnell werde ich auch keine Stellung bekommen«, meinte er lächelnd, »und du wirst dein Abitur machen. Aber seit gestern abend wissen wir doch, daß wir zueinander gehören.«
»Früher hast du immer über mich hinweggeschaut«, sagte Jessica leise.
»Da warst du auch noch ein ganz kleines Mädchen, und ich fühlte mich doch schon erwachsen. Plötzlich ist dann alles ganz anders, Jessi.«
»Ich habe gedacht, das Herz bleibt mir stehen, als du gestern mit mir getanzt hast«, flüsterte sie.
»Und meins hat einen gewaltigen Hupfer getan«, sagte er lächelnd. »So verschieden reagiert man, aber der zündende Funke sprang über, und das ist mir zum ersten Mal passiert.«
»Und mir zum ersten und letzten Mal«, flüsterte sie.
Er küßte sie wieder. »Was meinst du, wie oft das noch sein wird zwischen mir und dir, und dann ist alles andere nebensächlich. Das ist eben Liebe, mein Kleines Mädchen.«
Sie konnte glücklich sein. Nadine war voller Unruhe, bis Jonas Vestris vor der Tür stand.
»Ich habe es mir überlegt in dieser Nacht, Nadine«, sagte er. »Es ist besser, wenn Sie die ganze Wahrheit erfahren.«
»Meine Mutter möchte sie auch erfahren«, sagte Nadine. »Bitte, kommen Sie herein.«
Georgia musterte ihn forschend. Sie sah einen ziemlich großen, breitschultrigen, sportlichen jungen Mann mit einem vom Leben schon geprägten Gesicht, aus dem graue Augen wachsam den Raum überflogen. Ein Mann war das, der dauernd auf der Hut zu sein schien und der unbestechlich wirkte. Das war ihr erster Eindruck. Es war auch ein Mann, der eine gute Erziehung genossen zu haben schien. Er neigte sich tief vor und küßte ihr die Hand.
»Meinen verbindlichen Dank, daß Sie mich empfangen, gnädige Frau«, sagte er. »Es ist mir sehr willkommen, daß Ihre Tochter Sie informiert hat.«
»Darüber bin ich auch froh«, erwiderte Georgia. »Nehmen Sie bitte Platz, Herr Vestris.«
Wie beeindruckt er von Mami ist, ging es Nadine durch den Sinn und es versetzte ihrer Eitelkeit doch einen Stich.
»Ich hole den Kaffee«, sagte sie.
Jonas blickte ihr nach. »In Jeans gefällt mir Ihre Tochter viel besser als in dem Kleid, das sie wahrscheinlich von Ihnen ausgeliehen hatte, gnädige Frau«, sagte er.
»Pssst, sie ist sehr empfindlich«, flüsterte Georgia.
»Sie wird mit harten Tatsachen konfrontiert werden«, erklärte er ernst. »Aber das kann ihr nur nützen.«
Nadine kam zurück und schenkte Kaffee ein. »Ich hoffe, er schmeckt«, sagte sie. In seinen hellen Augen blitzte es auf, als sich ihre Blicke trafen. Besonders hell wirkten sie wohl, weil sein Gesicht dunkel gebräunt war. Das hatte sie am gestrigen Abend nicht festgestellt.
»Sehr stark«, sagte er beiläufig, nachdem er einen Schluck getrunken hatte.
»Das können wir brauchen«, sagte Georgia. Sie wurde durch seinen durchdringenden Blick irritiert.
»Ich möchte Sie über meine Person nicht im unklaren lassen, gnädige Frau«, sagte Jonas. »In diesem Fall erscheint es mir wichtig, jegliches Mißtrauen auszuschalten.« Er schien Nadine gar nicht mehr zu sehen, als er Georgia einen Ausweis reichte.
Sie sah ihn überrascht an. »Sie sind Diplomat, Herr Vestris, Herr Dr. Vestris, muß ich wohl sagen.«
»Das ist nebensächlich. Ja, ich stehe in diplomatischen Diensten.«
»Mir haben Sie gesagt, daß Sie Journalist sind«, warf Nadine gereizt ein.
»Ich schreibe auch«, sagte er lächelnd. »Gestern abend sah ich noch keinen Anlaß, mich zu erkennen zu geben. Da konnte ich nur ein etwas zu unbefangenes Mädchen aus der Höhle zwielichtiger Gesellschaft befreien. Sie können von Glück sagen, daß Sie da nicht tiefer hineingeraten sind, Nadine.«
Ein harter Bursche, dachte Georgia, aber ihr gefiel er. Nadine war rot geworden.
»Um es kurz zu machen, denn es wird ja noch einiges auf Sie zukommen«, sagte Jonas Vestris, »wir haben Caretto schon lange im Visier.« Er warf einen Blick zu Nadine hinüber, aber sie wich diesem aus. »Wir sind genau über ihn informiert, er weiß allerdings nicht, welche Rolle ich übernommen habe. Er kennt Frau Dr. Lamprecht schon seit einigen Monaten, und es bestehen da auch sehr intime Beziehungen. Es liegen Beweise dafür vor. Da besagte Frau Lamprecht ziemlich genau wußte, wo Nadine manche Abende verbrachte, veranlaßte sie Francesco, die Bekanntschaft Ihrer Tochter zu machen.« Wieder sah er an Nadine vorbei, die ihn jetzt mit zornerfüllten Augen anblickte.
»Ich war Zeuge, wie Francesco sich an Ihre Tochter heranmachte. Ich bin ihr nicht aufgefallen. Damals nicht, später nicht, bis zum gestrigen Abend.«
»Anscheinend haben Sie es sehr gut verstanden, sich im dunkeln zu halten«, stieß Nadine empört hervor.
»Das will gelernt sein«, sagte er spöttisch. »Jedenfalls fungierte ich gleichzeitig als Ihr Bewacher, Nadine, denn es deutete alles darauf hin, daß Sie entführt werden sollten.«
»Um Himmels willen!« rief Georgia erregt aus.
»Warum sollte man mich entführen?« fragte Nadine gereizt.
»Um Ihren Vater zu erpressen. Nicht um Geld, vielleicht auch zusätzlich darum, aber vor allem wohl um seine Forschungsergebnisse«, sagte Jonas. »Ich sagte Ihnen, daß Francesco ein Gelegenheitsarbeiter sei. Er ist ein Agent. Ich kann es ihnen jetzt sagen, da er bereits verhaftet ist.«
»Mein Gott, mit wem hast du dich da eingelassen, Kind!« rief Georgia spontan aus.
»Das konnte ich doch nicht ahnen, Mami«, schluchzte Nadine auf. »Ich schäme mich so sehr.«
»Sie brauchen sich nicht zu schämen«, sagte Jonas. »Auf ihn sind gestandene Frauen hereingefallen. Er ist eben ein Typ, auf den Frauen fliegen.«
»Aber in welcher Gefahr war meine Tochter«, flüsterte Georgia tonlos.
»Nie in einer ausweglosen, da wir informiert waren, worum es ging«, sagte Jonas. »Sie stand unter ständiger Bewachung von der Stunde an, als sie die Bekanntschaft von Francesco machte.«
»Davon habe ich aber nichts bemerkt«, sagte Nadine kleinlaut.
»Ein Beweis, wie gut unsere Leute arbeiten«, meinte Jonas lächelnd.
»Welche Ehre, so wichtig gewesen zu sein«, sagte Nadine spöttisch. »Warum ich? Warum nicht Jessica?«
»Vielleicht deshalb, weil Ihre Schwester vorsichtiger ist«, sagte Jonas. »Im übrigen war Professor Schilling darüber informiert, daß Frau Lamprecht eine Doppelrolle spielte. Es gab nur keine schlüssigen Beweise gegen sie.«
»Er hat ihr aber einen teuren Fuchsmantel geschenkt«, sagte Nadine wütend.
»Um sie in Sicherheit zu wiegen.« Er richtete sich auf. »Professor Schilling weiß, wie krank er ist. Ein amerikanischer Kollege, mit dem er an bestimmten Versuchen gearbeitet hat, ist an der gleichen Krankheit kürzlich gestorben. Er hat versucht, ein Mittel zu finden, um diese Krankheit einzudämmen und zu besiegen. Vielleicht wäre es ihm gelungen, wenn er noch eine längere Lebensdauer gehabt hätte.«
»Zuerst hat er an Objekten gearbeitet, die die Menschheit vernichten können«, sagte Nadine zornerfüllt. »Ich weiß Bescheid. Was meinen Sie, warum ich so lange auf der Schulbank hocke? Ich wollte meinem Vater eins auswischen. Er sollte sich nicht rühmen können, Intelligenzbestien in die Welt gesetzt zu haben.«
»Nadine«, rief Georgia aus.
»Es ist die Stunde der Wahrheit, Mami. Du warst immer ein Nichts in Papas Augen, ein unbedarftes Hausmütterchen. Und ich wollte das auch sein. Aber mit seinem Einfluß hat er es ja immer wieder fertiggebracht, daß sie mich von der Schule nicht abgeschoben haben. Dieses Jahr wäre es ihm nicht mehr gelungen, sonst hätte es einen Aufstand unter den anderen Eltern gegeben. Und ich wollte ihm noch eine weitere Schlappe bereiten und mit einem Ausländer durchbrennen.«
Ihre großen dunklen Augen brannten in dem blassen Gesicht. »Nun wissen Sie auch Bescheid, Herr Vestris. Ich darf mich zurückziehen.« Und schon war sie draußen.
»Ein überschäumendes Temperament«, stellte Jonas lächelnd fest.
»Ich weiß auch nicht, von wem sie das hat«, sagte Georgia. »Aber mein Schwager ist auch ganz anders als mein Mann.« Das war ihr eben wieder in den Sinn gekommen, weil ihr Blick auf den Brief von Jürgen gefallen war, der auf dem Sideboard lag.
»Ein Füllen, das noch gezähmt werden müßte«, sagte Jonas gedankenvoll. »Ich hoffe, ich habe Sie nicht zu sehr erschreckt, gnädige Frau, und Sie werden mir gestatten, zu anderer Zeit wieder mal einen Besuch bei Ihnen zu machen.«
»Sehr gern, Herr Dr. Vestris. Ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie den unsichtbaren Beschützer meiner Tochter spielten.« Sie machte eine kleine Pause. »Nadine machte vorhin eine Andeutung, daß Sie eine Schwester gehabt hätten.«
»Ja, das entspricht der Wahrheit und war der Anlaß, daß ich diese Burschen jage, wo ich nur kann. Wenn Sie irgendwie meine Hilfe brauchen, rufen Sie mich bitte an. Das gilt übrigens auch für Nadine. Vielleicht legen Sie ein gutes Wort für mich ein. Ich bin sehr erleichtert, daß diese Mission beendet ist.«
*
Georgia faßte sich das Herz, zu Nadine zu gehen. »Keif jetzt nicht gleich wieder los«, sagte sie sanft. »Ich mache dir keine Vorwürfe.«
»So was von Arroganz und Überheblichkeit«, ereiferte sich Nadine. »Wie der Herrgott persönlich ist sich dieser reizende Dr. Vestris vorgekommen – und ich mir wie ein dummes Gör.«
»Sagen wir doch lieber ein unerfahrenes Mädchen, das einen leichten Schock bekommen hat«, sagte Georgia.
»Einen leichten? Einen Schock fürs ganze Leben, Mami.«
»Und Dr. Vestris hat es gut mit dir gemeint.«
»Die personifizierte väterliche Güte, die uns von Papa nicht zuteil wurde«, schluchzte Nadine auf.
Tröstend nahm Georgia sie in die Arme. »Wir wissen nicht, was in ihm vor sich ging, Nadine, wie er sich selbst gequält und wohl auch vor dem Ende gefürchtet hat. Ich sehe das alles jetzt auch ein klein bißchen anders.«
»Hoffentlich verdonnern sie die Lamprecht zu lebenslänglich«, stieß Nadine hervor, »und Francesco auch.«
»In unserem Leben werden beide keine Rolle mehr spielen, auch wenn sie nach ein paar Jahren frei sind, Nadine.«
Und da hörte sie Jessica kommen. »Ist er schon wieder weg?« fragte sie atemlos. »Ich hätte ihn so gern kennengelernt.«
»Da hast du nichts versäumt«, ereiferte sich Nadine.
»Du warst ziemlich lange weg«, sagte Georgia nachsichtig.
»Wir hatten so viel zu reden. Markus will mich heiraten, Mami! Wenn er eine Stellung hat, und ich mit der Schule fertig bin, will er mich heiraten.«
»Sei doch nicht so blöd wie Mami«, zischte Nadine. »Lern erst mal andere Männer kennen, und zieh Vergleiche.«
»Das brauche ich nicht und will ich nicht«, sagte Jessica. »Ich kann nichts dafür, wenn du schlechte Erfahrungen gemacht hast. Markus ist anders. Er weiß, was er will. Wir lieben uns«, fügte sie mutig hinzu.
»Und wäre die Liebe nicht«, sagte Georgia sinnend. Aber dann fragte sie sich, ob jemals Liebe sie und Holger verbunden hätte.
»Jeder muß wissen, was er will«, sagte Jessica ruhig. »Ich weiß es.«
*
Dr. Norden wußte von Dieter Behnisch, daß Georgia bereits informiert war, aber er fühlte sich doch verpflichtet, sich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Dazu genügte ein kurzer Anruf.
Es beruhigte ihn, daß Georgias Stimme jetzt ruhig klang.
»Wenn Sie es wünschen, begleite ich Sie morgen zu Dr. Janson«, bot er sich an.
»Das ist sehr lieb, aber wirklich nicht nötig. Sie brauchen auch Ihren Sonntag«, erwiderte Georgia. »Und die Familie braucht Sie auch. Die Mädchen sind ganz vernünftig.«
Ja, das konnte sie jetzt ruhigen Gewissens sagen. Nadine hatte sich abreagiert, und Georgia wußte, daß sie alles nicht so gemeint hatte, was sie gegen Dr. Vestris sagte. Georgia hatte gefühlt, daß ihr dieser Mann ganz maßlos imponierte und es sie zutiefst kränkte, daß er sie wie ein unfertiges kleines Mädchen behandelte.
Auch sie wird zur Vernunft kommen, dachte sie, und dann glitt ein weiches Lächeln über ihr Gesicht, als sie an Jessica dachte.
Sie hatte es Dr. Norden nicht gleich sagen wollen, daß auch Markus sich angeboten hatte, sie zur Klinik zu bringen. Doch damit war sie einverstanden.
Sie bereitete das Abendessen zu und stellte den Fernsehapparat an. Nadine kam herunter. »Heute ist ja eine Quizsendung«, sagte sie, »da treten ein paar tolle Sänger auf. Das siehst du dir doch auch an, Mami?«
Ist sie wirklich so oberflächlich, oder tut sie nur so, fragte sich Georgia. Richtig klug wurde sie aus Nadine nie, aber ihr war alles recht an diesem Abend. Sie wollte nur abschalten und nicht mehr grübeln.
Jessica blieb in ihrem Zimmer. Georgia ahnte, daß sie mit Markus telefonierte.
Es war eine recht unterhaltsame Sendung, aber Nadine schien geistesabwesend. Sie gab auch keine begeisterten Kommentare zu den Sängern, und Georgia wurde immer müder.
»Ich gehe schlafen, Nadine«, verkündete sie.
»Machst du recht, Mami. Stört es dich, wenn der Fernseher läuft?«
Wie rücksichtsvoll sie plötzlich war! »Aber nein, das höre ich doch gar nicht«, erwiderte sie. »Schlaf gut, Kind.«
»Du auch. Sag mal, wie gefällt dir Vestris?«
»Sehr gut.«
»Wie alt mag er wohl sein?«
Georgia hatte seinen Ausweis gesehen. »Dreißig«, erwiderte sie.
»Ob er verheiratet ist?«
Hoppla, dachte Georgia, das ist doch nicht nur oberflächliche Neugierde.
»Das weiß ich nicht«, erwiderte sie.
»Solche Männer heiraten wahrscheinlich gar nicht«, sagte Nadine gedankenvoll. »Onkel Jürgen wird auch so ein Typ sein. Sollten wir ihm nicht eigentlich telegrafieren, daß er kommt.«
»Warum sollte er kommen?«
»Vielleicht möchte er Papa noch einmal sprechen.«
»Das könnte sein. Ich lasse es mir durch den Kopf gehen. Wir wollen erst mal den morgigen Tag hinter uns bringen.«
Nadine blickte auf. »Vestris hat doch gesagt, daß Papa weiß, daß er krank ist. Er hätte bestimmt nicht geschwiegen, wenn er hätte fürchten müssen, daß wir auch betroffen sind«, sagte sie ganz ruhig. »Wenn ich alles glaube, das traue ich ihm nicht zu.«
»Du magst recht haben, Nadine«, sagte Georgia ruhig. »Es ist ja auch nur eine Vorsichtsmaßnahme, der wir uns unterziehen müssen.« Dann sagten sie sich endgültig gute Nacht. Allerdings ging Georgia noch einmal zu Jessica.
Sie hatte eine Schallplatte aufgelegt.
»Ich wollte dir nur gute Nacht wünschen, mein Kleines«, sagte sie weich.
Jessica sprang auf und umarmte sie. »Schlaf gut, Mami, zu ändern ist doch nichts mehr. Sei nicht böse, daß ich glücklich bin.«
»Wie könnte ich dir böse sein«, sagte Georgia zärtlich. »Ich wünsche dir so sehr, daß du glücklich bleibst.«
Als sie in ihrem Bett lag, überlegte sie, wann sie richtig glücklich gewesen war. Damals auf der Hochzeitsreise? Das waren ja keine richtigen Flitterwochen gewesen. Sie waren durch Amerika gereist, und in jeder Stadt hatte Holger stundenlange Besprechungen gehabt. Abends waren sie öfter zum Dinner eingeladen, bis sie dann in Florida landeten und blieben. So jung war sie gewesen und so allein in einem fremden Land. Sie hatte freilich alles gehabt, aber die Ehe hatte sie sich doch ganz anders vorgestellt. Die Kollegenfrauen hatten sich amüsiert, ihre kleinen und großen Romanzen und Affären gehabt. Es war immer etwas los, und niemand schien etwas dabei zu finden.
»Wir haben ja nur Zahlväter«, hatte Kathy Forrester einmal gesagt. Ob es ihr Mann war, der gestorben war? Aber hätte Holger ihr das nicht sagen müssen? Mit Kathy hatte sie doch wenigstens eine lose Freundschaft verbunden. Oder lebte Kathy auch nicht mehr?
Es war Georgia, als greife eine eisige Hand nach ihrem Herzen. Aber sie dachte nicht mehr lange nach, sondern stand auf und suchte Kathys Telefonnummer heraus. Hier war es zwar Mitternacht, aber in Amerika war es erst abend.
Sie wählte langsam die Nummer, um sich nur ja nicht zu verwählen. Dann vernahm sie Kathys muntere Stimme.
»Du, Georgia. Toll, daß du anrufst, wir sind gerade aus den Flitterwochen zurück. Wie geht es euch?«
»Das wollte ich dich fragen, Kathy.«
»Dan und ich haben vor vier Wochen geheiratet. Länger brauchte ich ja wohl nicht um Jack zu trauern. Erinnerst du dieh an Dan? Er war Jacks Assistent. Die Kinder mögen ihn. Er ist wie ihr großer Bruder. Wie geht es Holger?«
»Er ist krank, Kathy, sehr krank. Würdest du mir sagen, woran Jack gestorben ist?«
»Weißt du das denn nicht! An Leukämie. Ich dachte, Holger hätte es auch erwischt?« Nun klang ihre Stimme nicht mehr so munter. »Hat es ihn jetzt erst erwischt?« fragte Kathy dann.
»Es scheint so«, erwiderte Georgia.
»Dann such dir auch einen jungen Mann, Georgia. Denk nicht viel nach, genieß das Leben. Dan ist jetzt in der Industrie. Glücklich warst du doch auch nicht gerade. Wie geht es den Mädchen?« Kathy konnte ohne Punkt und Komma reden, aber das konnte Georgia nur recht sein. So brauchte sie nicht viel zu sagen.
»Den Mädchen geht es gut.«
»Du bist depremiert, ich merke es. Mach dir nichts draus. Es mußte ja so kommen. Ich freue mich, daß du dich an mich erinnnerst. Kommt doch mal wieder rüber. Oder schick die Mädchen. Das Haus ist noch das gleiche, nur der Mann ist anders und viel netter. Take it easy, Georgia.«
Guter Gott, dachte Georgia, Dan ist doch mindestens zehn Jahre jünger als Kathy, und dabei war diese fünf Jahre älter als sie. Das wäre so ein Unterschied wie zwischen mir und Vestris.
Aber solche Gedanken schob sie schnell beiseite. Jack war also auch an Leukämie gestorben. Nun wußte sie es. Take it easy! Nein, sie konnte es nicht so leicht nehmen wie Kathy. Doch jetzt konnte sie schlafen.
*
Am nächsten Morgen zehn Uhr kam Markus, um sie abzuholen. Nadine begrüßte ihn mit freundlicher Zurückhaltung oder zurückhaltender Freundlichkeit, wie man es auch bezeichnen mochte.
Er hatte sich den großen Wagen seines Vaters ausgeliehen. »Wir hätten auch unseren nehmen können«, sagte Nadine. »Papa braucht ihn ja nicht mehr.«
Sie will ganz bewußt schockieren, ging es Georgia durch den Sinn, doch Markus schien nicht schockiert zu sein.
»Ich kenne Dr. Janson zufällig ziemlich gut«, sagte er. »Sie gestatten, daß ich mich als Freund der Familie bezeichne, Frau Schilling?«
»Das sind Sie doch, Markus«, erwiderte Georgia.
»Kannst doch auch gleich sagen, daß du der Zukünftige von Jessica bist«, spottete Nadine.
»Jetzt reiß dich doch zusammen, Nadine«, zischte Jessica.
»Ich hätte nichts dagegen einzuwenden«, sagte Markus ruhig, »aber der Zeitpunkt ist schlecht gewählt.«
»Wenn die jüngere Schwester zuerst heiratet, bleibt die ältere sitzen, sagt man«, fuhr Nadine etwas ironisch fort.
»Wieviel Zeit geben wir ihr, sich einen Mann zu suchen, Jessi?« konterte Markus schlagfertig. Da war Nadine dann doch still, und Georgia dachte, daß Nadine nur einen Mann bräuchte, der sie ordentlich zurechtstutzte, der sie zähmte.
Als sie die Klinik betraten, lief ihnen ein dunkelhaariger Mann in den Weg. Er mochte Mitte vierzig sein und sah sehr gut aus.
Wie festgebannt blieb er stehen und starrte Georgia an. Dann schrak er zusammen, als jemand »Dr. Hartung!« rief. Es war Dr. Janson, ein älterer weißhaariger Herr, der etwas zu dem Jüngeren sagte, dann aber stutzte, als er Markus erkannte.
»Das sind Frau und Töchter von Schilling«, raunte er Dr. Hartung zu.
»Würden Sie mich bekannt machen, Herr Kollege?« fragte Joachim Hartung.
»Gern, aber einen Psychiater werden diese hübschen Wesen hoffentlich nicht brauchen«, sagte Dr. Janson jovial.
Ahnungslos, daß dies der Mann war, der gestern am Nebentisch gesessen hatte, reichte Georgia Dr. Hartung die Hand.
Jessica warf ihrer Schwester einen schrägen Blick zu. »Na, ist das nicht auch ein dufter Typ?« fragte sie leise.
»Nicht meiner«, erwiderte Nadine barsch, »aber Mami scheint auf junge Männer zu wirken.«
»Sei nicht albern, Nadine«, murmelte Jessica.
»Mach doch die Augen auf«, zischte Nadine. »Übrigens sieht Vestris viel besser aus als Markus.«
»Du bist nicht zu retten«, sagte Jessica verweisend.
Markus sprach mit Dr. Janson. »Die jungen Damen vielleicht zuerst?« fragte der Arzt, da Dr. Hartung nun endlich zu einem Gespräch mit Georgia gefunden hatte.
»Ich habe heute morgen mit Professor Schilling gesprochen«, sagte er.
»Er ist bei Bewußtsein?« fragte Georgia gepreßt.
»Zeitweise. Ich bin Psychiater, gnädige Frau. Ich würde Sie gern einiges fragen.«
»Bitte«, erwiderte sie leise. »Ich meine jedoch, daß der Verstand meines Mannes funktionierte.«
»Sie haben nicht bemerkt, daß er sich veränderte?« fragte er.
»O doch, natürlich«, erwiderte sie stockend. »Aber ich schob das auf andere Dinge. Wir hatten uns ziemlich auseinandergelebt. Er regte sich über unsere ältere Tochter auf, weil sie in der Schule immer schlechter wurde. Mein Mann war von seiner Arbeit total besessen.«
»Er wollte ein Mittel finden, mit dem diese Krankheit zu bekämpfen wäre«, sagte Dr. Hartung stockend. »Er wußte, wodurch sie entstanden war, er hoffte, dadurch auch das Gegenmittel zu finden.« Georgia hob den Kopf und blickte in dunkle Augen.
»Ich habe Sie gestern schon einmal gesehen«, sagte Dr. Hartung gedankenverloren. »Sie saßen am Nebentisch. Ich fragte mich, was in Ihnen vor sich gehen mag. Jetzt weiß ich es. Sie sind sehr schön.«
Sie senkte erschrocken den Blick. »Ich mußte es sagen«, fuhr Dr. Hartung leise fort. »Ich habe gefühlt, wie tief depremiert Sie sind. Ich möchte Ihnen gern helfen.«
»Mit Komplimenten?« fragte sie ironisch.
»Sie dürfen mich nicht mißverstehen. Ja, ich bin ehrlich. Ich habe ein ganz persönliches Interesse an Ihnen. Ich will nicht, daß Sie zerbrechen. Heute weiß ich ja, was Sie bewegt. Gestern waren Sie für mich nur faszinierend.«
»Müde und durstig«, sagte Georgia mit einem flüchtigen Lächeln.
»Man blickt in so viele leere Gesichter, selten in eins, das so viel ausdrückt. Sie werden Hilfe brauchen in den kommenden Wochen.«
»lch bin nicht allein. Ich habe zwei Töchter«, sagte sie. »Und ich habe auch gute Freunde.«
Und ich bin verrückt, so mit der Tür ins Haus zu fallen, dachte Joachim Hartung. Wie konnte ihm, der sich sonst doch so unter Kontrolle hatte, dies passieren?
»Sie meinen es sicher gut, Herr Dr. Hartung«, sagte Georgia sanft, »aber den ersten Schock habe ich bereits überwunden. In welcher Verfassung ist mein Mann?«
»Er gibt nicht auf«, erwiderte Dr. Hartung. »Wir lassen ein Medikament aus Amerika kommen. Es ist sehr teuer.«
»Das ist doch gleichgültig«, sagte Georgia.
»Es ist aber erwiesen, daß es keine Heilanzeige gibt.«
»Wenn er es haben will, soll er es haben«, sagte Georgia.
»Uns ist es rätselhaft, wie er so lange durchgehalten hat«, sagte Dr. Hartung.
»Mir auch. Sein Kollege Forrester ist schon vor Monaten gestorben, wie ich jetzt erfahren habe. Er war jünger als mein Mann und viel kräftiger.«
»Ihr Mann hat einen außerordentlich starken Willen und auch ein sehr kräftiges Herz. Aber…«, er unterbrach sich.
»Aber dennoch wird er sterben«, sagte Georgia tonlos. »Ich bin bereits darauf vorbereitet worden. Es ist bedauerlich, daß er kein Mittel gegen diese entsetzliche Krankheit gefunden hat, nachdem er so vieles zu Ende führte, was Leben vernichten kann. Wieviel Menschen hätte geholfen werden können, wenn er früher mit so nützlicher Forschung begonnen hätte. Wollten Sie das von mir hören?«
»Selbst ein solches Genie wie Professor Schilling ist weit davon entfernt. In seinem Fall konnte er nur die Ursache eindeutig feststellen.«
»Er hat mit Ihnen darüber gesprochen?« staunte Georgia.
»Er hofft auf Hilfe. Er gibt nicht auf. Er kämpft. Und vielleicht werden Sie doch Hilfe brauchen, gnädige Frau.«
»Das mag sein, aber mit Komplimenten ist mir nicht gedient«, sagte sie kühl. Sie war froh, daß Markus jetzt kam. Sie fühlte sich keineswegs geschmeichelt, eher irritiert, und sie mußte an Kathy denken. Sie lachte leise auf, als sie neben Markus herging. Jetzt war er verwirrt.
»Warum lachen Sie?« fragte er.
»Nur so. Dr. Hartung hat mir ein Kompliment gemacht. Dabei bin ich doch mit zwei hübschen Töchtern gekommen.«
»Sie haben ja auch eine sehr hübsche Mutter«, sagte Markus ruhig. »Ist es nicht nett, was man da gesagt bekommt?«
»Wenn man es so betrachtet«, sagte Georgia, »und wenn man es so sagt wie Sie, freut man sich, Markus.«
»Meine Mutter sagte uns immer: Wenn man die Tochter heiraten will, sollte man sich die Mutter anschauen. Ich habe mich daran gehalten.«
Feine Röte stieg in Georgias Wangen. »Nun, das war ein Kompliment, das ich gern annehme«, sagte sie leise. »Darf ich Sie um etwas bitten, Markus?«
»Selbstverständlich.«
»Tun Sie Jessica nicht weh. Sie ist so verletzlich.«
»Das weiß ich. Ich liebe Jessica, Frau Schilling.«
»Dann sagen Sie einfach Georgia. Es ist mir lieber.«
Er blieb stehen, nahm ihre Hand und zog sie an seine Lippen. »Ganz herzlichen Dank«, sagte er. »Was ich Ihnen abnehmen kann, will ich gern tun. Sie können sich auf mich verlassen.«
Und daran hegte sie keinen Zweifel. Jessica wußte sie in guten Händen.
*
Das Blut war auch ihr abgenommen worden, und Dr. Janson untersuchte sie gründlichst.
»Ihnen würde es niemand abnehmen, daß Sie zwei erwachsene Töchter haben«, sagte er schmunzelnd. »Donner und Doria, Sie können wenigstens zehn Jahre aus Ihrem Gedächtnis streichen.«
Aber er sagte es so, daß ihr kein befremdlicher Gedanke kam.
»Aber nur, was die Figur anbetrifft«, erwiderte sie im gleichen leichten Ton, aber es lag ihr auf der Zunge, daß ihr Mann schon lange keine Notiz davon genommen hatte.
»Diese Sache mit der Lamprecht ist fatal«, fuhr Dr. Janson fort. »Nun, sie hat es auch erwischt.«
»Durch Ansteckung? Ist das möglich?« fragte Georgia bestürzt.
»Aber nein.« Er tippte sich an die Stirn. »Bei ihr fehlt es da! Sie hat durchgedreht. Sie ist jetzt in der Nervenklinik.
Nun bewahren Sie mal Ruhe. Ihr Nervenkostüm ist auch arg strapaziert, aber Dr. Norden wird das schon hinbringen. Sie sind bei ihm in guten Händen. Er weiß mit seinen Patienten umzugehen. Es muß ja nicht gleich ein Psychiater sein.«
Klang da nicht eine leise Warnung mit? War das gar eine Anspielung auf Dr. Hartung?
»Reif für den Psychiater fühle ich mich wirklich nicht«, sagte sie mit einem flüchtigen Lächeln. »Wann bekommen wir die Befunde?«
»Morgen, aber Sie brauchen sich wirklich keine Sorgen zu machen.«
»Kann ich meinen Mann besuchen?«
»Heute besser nicht. Er hat den Wunsch geäußert, allein gelassen zu werden. Kommen Sie am besten gleich morgen vormittag. Es ist anzunehmen, daß er da am besten ansprechbar ist. Und nehmen Sie nichts tragisch. In ihm ist das Aufbegehren gegen alle und jeden. Es war sicher schon lange nicht mehr leicht, mit ihm zu leben«, sagte er einfühlsam.
Es war nie leicht, dachte Georgia. Aber nun wollte sie weg von hier, weg von diesem sterilen Raum, dessen Atmosphäre lähmend war.
Die Mädchen warteten auch draußen. Nur Markus unterhielt sieh jetzt mit Dr. Hartung. Aber er verabschiedete sich dann sofort.
»Der hat mich ganz schön ausfragen wollen«, erklärte Markus. »Da haben Sie gewaltigen Eindruck gemacht, Georgia.«
»Ein wirklich merkwürdiger Mensch«, stellte Georgia fest.
»Das sind Psychiater meistens«, erwiderte Markus lächelnd. »Das bringt wohl der Beruf mit sich. Aber jetzt wollen wir lieber noch ein bißchen Natur genießen. Einverstanden?«
Damit war sie mehr als einverstanden, und selbst Nadine hatte nichts dagegen einzuwenden. Sie fuhren zum Englischen Garten, aber dort tummelten sich Menschenmassen.
»Da könnten wir Natur in unserem Garten besser genießen«, meinte Georgia.
»Können wir vorher nicht irgendwo ganz schick essen gehen, Mami?« fragte Nadine.
»Meinetwegen«, sagte Georgia, »aber nicht in der Stadt.«
Im »Goldenen Krug« wurden sie dann zufriedengestellt. Selbst Georgia bekam Appetit. Nadine schien nicht mehr auf ihre Figur bedacht zu sein, aber sie schien auch nicht kummervoll über diesen Francesco nachzudenken. Ja, es war schwer, aus ihr klug zu werden.
Jessica genügt es, neben Markus zu sitzen und Blicke mit ihm zu tauschen, und irgendwie war Georgia tief gerührt, wie innig diese Blicke waren.
Vom Vater, von der Klinik und von Krankheiten wurde überhaupt nicht gesprochen. Aber plötzlich sagte Nadine, daß man Onkel Jürgen doch benachrichtigen solle.
»Wenn ihr dafür seid, werde ich telegrafieren«, erklärte Georgia.
»Vielleicht nimmt er mich mit nach Australien«, sagte Nadine nachdenklich.
Georgia erschrak. »Du bist immer noch nicht fertig mit der Schule, Nadine«, sagte sie.
»Das wird auch nichts mehr. Den Anschluß habe ich schon verpaßt. Man kann sich auch anders durchsetzen. Ist Onkel Jürgen eigentlich verheiratet?«
»Keine Ahnung. Er hat nie dergleichen berichtet.«
»Er ist bestimmt ganz anders, als Papa«, sagte Nadine. »Jedenfalls hat Papa nur abfällige Bemerkungen über ihn gemacht«
Warum beschäftigte sie sich mit Jürgen? Weil er ein Abenteurer war? Steckte ihr das auch so sehr im Blut? Oder wollte sie nur immer provozieren?
Aber das gelang ihr nicht. Als sie mit dem Essen fertig waren, fragte Markus, ob sie nicht noch zum See fahren wollten.
»Fahrt ihr ruhig, ich möchte mich ausruhen«, erklärte Georgia.
»Ich habe auch keine Lust, aber ihr seid ja auch lieber allein«, sagte Nadine.
Jessicas Augen leuchteten auf. Schnell drückte sie ihrer Mutter einen Kuß auf die Wange.
»Mach dir nicht zuviel Sorgen, Mami. Dr. Janson hat gesagt, daß wir einen pumperlgesunden Eindruck machen!«
*
»Wie verliebt Jessica ist«, sagte Nadine nachdenklich. »Komisch, ich habe nie gedacht, daß sie sich so engagieren würde, aber sie ist dir eben doch sehr ähnlich, Mami.«
Plötzlich schien sie ganz verändert, sehr besinnlich und voller Gefühl zu sein.
»Du hast sie ja auch immer lieber gehabt als mich«, fahr Nadine fort.
»Das stimmt nicht«, sagte Georgia. »Sie war nur immer anhänglicher als du.«
»Und fleißiger in der Schule.«
»Darüber wollen wir jetzt nicht mehr diskutieren. Ich weiß jetzt ja, warum du rebelliert hast.«
»Es hat mir Spaß gemacht, Papa zu ärgern«, sagte Nadine. »Sonst konnte ihn ja nichts aufregen, nur wenn ich schlechte Noten heimbrachte. Er war so entsetzlich überheblich. So unmenschlich.«
Eisig rieselte es über Georgias Rücken. Hatte sie nicht recht? Was zählten für Holger denn menschliche Wesen. Allein die Materie war interessant.
»Ich kann jetzt freier atmen«, sagte Nadine. »Was ist nun eigentlich mit der Lamprecht?«
»Sie hatte wohl einen Nervenzusammenbruch«, erwiderte Georgia ausweichend.
»Die ist doch auch nicht normal«, sagte Nadine wegwerfend. »Wie lange gibt man Papa noch?«
Wie kühl sie das sagte! »Das kann man nicht sagen. Vielleicht tritt noch eine vorübergehende Besserung ein.«
»Wenn er noch mal nach Hause kommt, bleibe ich nicht hier«, erklärte Nadine ruhig.
»Ich habe Kathy Forrester angerufen. Sie ist jetzt mit Dan verheiratet. Kannst du dich noch an ihn erinnern?«
Nadines Augen weiteten sich. »Er ist doch unheimlich viel jünger. Ist Forrester etwa auch tot?«
»Ja.«
»Und das war doch so ein Bomber«, sagte Nadine. »Würdest du auch einen jüngeren Mann heiraten, Mami?« wechselte sie sprunghaft das Thema.
»Gott bewahre mich«, sagte Georgia ironisch. »Ich werde bestimmt nicht ein zweites Mal heiraten. Kathy nimmt alles leichter.«
»Na, ein bißchen was vom Leben dürftest du auch noch haben«, meinte Nadine.
Dann ging sie zum Fernseher. »Da wird ein Reitturnier übertragen«, sagte sie. »Nicht mal das hat er mir erlaubt.«
Georgia ging in den Garten. Vieles hatte sie selbst angelegt. Wozu braucht man einen Garten, hatte Holger gemeint. Der macht nur Arbeit. Er hätte am liebsten eine Stadtwohnung genommen, in der Nähe vom Institut, aber einmal hatte sie ihren Willen durchgesetzt, und noch heute wunderte sie sich darüber, daß es ihr irgendwie gelungen war. Aber sie hatte dieses Haus mit dem Geld gekauft, das sie von ihrem Vater geerbt hatte. Ja, es war ihr Haus. Wenigstens das gehörte ihr.
*
Gegen zehn Uhr brachte Markus Jessica heim. Da hatte Georgia gerade das Telegramm an Jürgen aufgegeben. »Holger schwerkrank – kannst du bald kommen«, war der Wortlaut.
Würde er überhaupt das Geld für den Flug haben, überlegte sie dann.
Von Jessica wurde sie schnell auf andere Gedanken gebracht. »Wenn du morgen in die Klinik mußt, können wir nach der Schule zum Essen zu Rödings gehen, Mami«, sagte sie. »Nadine natürlich auch.«
»Meine Mutter würde sich freuen«, schloß Markus sich schnell an. »Sie sind auch herzlich eingeladen.«
»Das ist aber lieb, aber ich werde wohl länger in der Stadt bleiben«, erwiederte Georgia. »Ob Nadine überhaupt noch zur Schule gehen wird, weiß ich nicht.«
»Ich werde mit ihr reden, Mami. Wenn sie will, kann sie es spielend schaffen.«
Plötzlich schien Jessica die Erwachsenere zu sein. Was doch der richtige Mann alles ausmachte. Ja, der richtige Mann!
Um Jessica brauchte sie sich wohl keine Sorge mehr zu machen. Und anscheinend konnte sie jetzt sogar Nadine beeinflussen, denn am nächsten Morgen machte sich auch die zum Schulgang bereit.
»Ich spreche mit dem Direx, Mami«, sagte sie ruhig. »Vielleicht gibt er mir noch eine Chance. Aber nur dir zuliebe tue ich es, damit das gesagt ist.«
An Selbstbewußtsein mangelte es ihr bestimmt nicht. Sie wird ihren Weg auch gehen, dachte Georgia.
Sie fuhr in die Stadt. Sie bummelte durch die Straßen, um die Zeit totzuschlagen. Sie überlegte, was sie Holger mitnehmen könnte, und da hakte es schon aus.
Geburtstag, Weihnachten, Hochzeitstag, all dies fand er lächerlich. Geschenke für die Kinder hatte er nie gekauft und ihr hatte er immer gesagt, daß sie selbst besser wüßte, was sie brauche.
Blumen? Hatte er je Sinn für das Blühende aufgebracht? Schlafanzüge würde er brauchen. Sie kaufte drei.
Dann fuhr sie zur Klinik. Wieder verharrte sie sekundenlang vor diesem riesigen supermodernen Bau. Widerwillig betrat sie ihn.
Dr. Janson war für sie zu sprechen. Sein breites Gesicht war eitel Wohlwollen.
»Alles in bester Ordnung, was Sie und die Töchter betrifft«, sagte er. »Es wäre nur Ihr Blutdruck zu beachten. Er ist etwas zu niedrig. Und ein paar Vitaminspritzen würden Ihnen guttun.«
»Hauptsache, die Kinder sind gesund«, sagte Georgia.
»Sie sollten nicht vergessen, daß Sie auch noch ein Leben vor sich haben, gnädige Frau.«
Was für ein Leben? Georgia kam sich uralt vor, als sie zu dem Krankenzimmer ging. Mit aller Überwindung drückte sie die Klinke nieder. Dann stand sie in einem halbdunklen Raum. Sie konnte Holger erst gar nicht erkennen. Sein bleiches Gesicht hob sich kaum vom Kopfkissen ab.
Seine Lider hoben sich mühsam, als sie sich zu ihm ans Bett setzte.
»Ich bin da, Halger«, sagte sie beklommen.
»Nun hat es mich auch erwischt«, sagte er stockend. »Reden wir nicht drum herum, Georgia. Ich weiß, was los ist. Forrester ist schon fast ein Jahr tot. Ich habe es dir verschwiegen.«
»Ich habe mit Kathy telefoniert. Sie hat Dan geheiratet«, sagte Georgia. Guter Gott, wie konnte ich das sagen, dachte sie. Aber er schien sich nichts dabei zu denken.
»Jack war geschlagen mit dieser Frau«, murmelte er. »Sie hatte doch nur Vergnügen im Sinn. Da war ich schon besser bedient. Du weniger.«
»Sag das doch nicht, Holger«, flüsterte sie.
»Warum nicht? Ich habe Zeit, nachzudenken. Die habe ich mir vorher nie genommen. Die Hirnzellen sind noch intakt. Sonst nichts mehr. Es gibt wirklich nichts zu beschönigen. Ich habe bereits aufgegeben, Georgia.«
»Jürgen hat geschrieben«, sagte sie unmotiviert. »Er ist in Amerika. Er wird bald kommen.«
»Jürgen«, wiederholte er tonlos. »Frisch und munter wie ehemals. Er hat immer alles mit der leichten Hand gemacht. Nicht leben um zu arbeiten, nur mal arbeiten, um zu leben. So wird Nadine auch.«
»Sie geht zur Schule und will den Abschluß schaffen.«
»Doch nicht mir zuliebe. Sie haßt mich«, sagte er.
Georgia erschrak zutiefst. »Sie hat sich nur unverstanden gefühlt«, sagte sie.
»Du nicht auch? Aber du hast ausgehalten. Mehr als zwanzig Jahre hast du mich ertragen. Ich wurde immer älter, und du bist jung geblieben.«
»Guter Gott, ich bin vierzig«, sagte sie.
»Jung genug, um noch einmal zu beginnen. Ich hatte kein Verhältnis mit der Lamprecht. Das darfst du nicht denken. Ich habe mich nur in ihr getäuscht. Sie wollte Profit schlagen aus der gemeinsamen Arbeit. Ist alles vorbei. Zu spät.«
Ein paar flache, hastige Atemzüge, dann war er eingeschlafen. Eine beklemmende Stille lag im Raum, eine Stille, die sie nicht ertragen konnte.
Fluchtartig verließ sie das Zimmer. Jetzt nur nicht noch diesem Dr. Hartung begegnen, ging es ihr durch den Sinn, aber sie traf weder einen Arzt noch eine Schwester auf dem langen Korridor.
Aber als sie zu ihrem Wagen hastete, tauchte plötzlich ein Schatten vor ihr auf.
Fast wäre sie an Jonas Vestris’ Brust gelandet. Zwei feste Hände umschlossen ihre Arme.
»Sie?« sagte sie staunend, als sie dann in sein Gesicht blickte.
»Ich rief bei Ihnen an, aber es meldete sich niemand. Da dachte ich, daß Sie hier sein könnten«, erwiderte er ruhig.
»Die Mädchen sind in der Schule«, murmelte sie.
»Nadine auch?« fragte er verwundert.
»Ja, sie macht noch einen letzten Versuch. Sie kann es schaffen, wenn sie will.« Sie sah ihn fragend an. »Gibt es wieder etwas Neues?«
»Meine berufliche Mission ist beendet, meine menschliche liegt mir noch am Herzen«, sagte er. »Ich fürchte, daß ich Nadine vor den Kopf gestoßen habe.«
»Ach, sie kann das noch viel besser«, sagte Georgia. »Ich begreife erst jetzt, daß Sie zur rechten Zeit zur Stelle waren, um Unheil von ihr abzuwenden. Sie ist sehr impulsiv.«
»Und voller Agressivität. Ich hatte eine Schwester, die ähnlich reagierte.«
»Nadine hat davon gesprochen«, sagte Georgia leise. »Aber Sie haben da anscheinend nur eine Andeutung gemacht.«
»Ich würde gern mehr davon erzählen, wenn es nützlich für Nadine sein könnte«, sagte er, »aber Sie können das als Mutter besser beurteilen.«
»Es scheint so, als würden wir jetzt einander näherkommen«, sagte Georgia. »Und Sie haben Nadine zumindest Respekt eingeflößt.«
»Eine Respektperson möchte ich nicht gerade sein«, sagte er mit einem kleinen Lächeln, »aber Nadine kann schon gewisse Aggressionen erzeugen durch ihre eigenen. Könnten wir uns an einem anderen Ort nicht besser unterhalten?«
»Besuchen Sie uns doch«, sagte Georgia.
»Ich würde gern einmal allein mit Ihnen sprechen«, sagte Jonas Vestris. »Ich würde Sie auch gern mit meiner Mutter bekannt machen.«
Georgia war überrascht. »Mit Ihrer Mutter?«
»Ich lebe mit ihr zusammen. Sie hat sehr viel durchgemacht mit meiner Schwester Biggi. Als ich noch nicht wußte, daß Nadine eine so vernünftige Mutter hat, spielte ich mit dem Gedanken, sie zu uns einzuladen. Es ist nur nicht so einfach, einen Gedanken in die Tat umzusetzen, wenn man Angst hat, mehr falsch zu machen, als zu nützen.«
»Ich verstehe Sie nicht ganz, Herr Vestris«, sagte Georgia nachdenklich.
»Ich werde es Ihnen erklären. Darf ich Sie zu uns einladen?«
Sie zögerte nur kurz. »Ja, gern«, erwiderte sie dann.
Sie fuhren durch die Stadt. »Sehen Sie, es war so«, begann er zögernd. »Zuerst dachte ich, daß Nadine so ein Mädchen wäre wie alle andern. Sehr hübsch, sehr auf Wirkung bedacht, und so ein richtiges Partygirl. Unwillkürlich denkt man so, wenn sich ein Mädchen mit Francesco Caretto einläßt. Und dann kam dieser Abend, und ich spürte, wie zerrissen sie in sich war. Schließlich lernte ich Sie kennen. Meine Schwester war viel verspielter. Sie lernte so einen italienischen Conte kennen. Sie brannte mit ihm durch. Sie lebte ein Jahr mit ihm zusammen, dann erfuhr sie, daß er verheiratet war und zwei Kinder hatte. Sie beging Selbstmord, weil sie sich schämte, nach Hause zurückzukehren. Ihr Abschiedsbrief war ein erschütterndes Dokument. Sie hatte nicht begriffen, daß uns ihr Leben wichtiger gewesen wäre als dieser Irrweg.«
»Ich glaube nicht, daß dieser Francesco meiner Tochter viel bedeutet hat«, sagte Georgia nach einem längeren Schweigen gedankenvoll. »Was sie getan hat, tat sie, um ihren Vater herauszufordern, aus Trotz, aus Eigensinn, aus Opportunismus. Heute denke ich, daß sie mehr Mut hatte, als ich, mögen auch die Mittel falsch gewesen sein. Aber sie ist einfach zu jung gewesen, um das abschätzen zu können. Ich war nicht älter, als sie, als ich die Frau von Holger Schilling wurde und ich habe mir keinerlei Gedanken gemacht, was auf mich zukommen würde.«
Sie unterbrach sich, als sie merkte, daß er auf die Bremse trat. Der Wagen hielt vor einer schönen alten Villa. Ritterlich half Jonas ihr heraus und dann erschien eine weißhaarige Dame in der Tür.
»Meine Mutter«, sagte Jonas mit warmer Stimme.
»Und Sie sind Frau Schilling«, sagte die Ältere leise. »Es freut mich sehr, daß Sie zu uns kommen. Jonas hat mir von Ihnen erzählt.«
In den paar Tagen? Georgias Gedanken überstürzten sich, doch hier empfing sie Wärme und wohltuende Behaglichkeit. Und da war ein Bild, das ein bezauberndes Mädchen darstellte, vom gleichen Typ wie Nadine. Jetzt wußte sie, was Jonas Vestris bewegt hatte, als er Nadine kennenlernte. Sie sah ihn an, er nickte ihr zu.
Charlotte Vestris sagte leise: »Das war Biggi. Jon hat von ihr gesprochen?« Georgia nickte.
»Es wird uns immer unbegreiflich bleiben, daß sie den Weg zu uns nicht zurückfand«, sagte Charlotte Vestris. »Vielleicht hat sie diesen Mann auch zu sehr geliebt.«
»Ich bin Ihrem Sohn unendlich dankbar, daß er Nadine vor Schlimmen bewahrt hat«, sagte Georgia.
»Es ist nicht das erste Mal. Nur vergißt er sich selbst darüber«, sagte Frau Vestris.
»Ganz so ist es nicht, Mutter«, sagte Jonas. »Geheimnisse nicht etwas in mich hinein. Ich bin ja erst dreißig.« Und mit einem flüchtigen Lächeln zu Georgia fuhr er fort: »Mutter meint, daß ich daran denken sollte, eine Familie zu gründen.«
Und er wäre ein anderer Vater als Holger, dachte Georgia. Sie fühlte sich wohl hier. Es war, als würden sie sich lange kennen und mehr als eine Stunde verging, bis das Telefon die Harmonie störte.
Aber dann horchten die beiden Damen auf, als Jonas staunend ausrief: »Nadine, das ist eine Überraschung.«
Georgia bedeutete ihm mit einer Handbewegung und Kopfschütteln, daß er nichts von ihrer Anwesenheit sagen sollte. Er nickte ihr zu.
»Ich kann in einer halben Stunde bei Ihnen sein«, sagte er. Dann legte er den Hörer auf.
»Es handelt sich um Francescos Frau. Sie ist gekommen«, sagte er mit belegter Stimme. »Ich habe da anfangs einen Fehler gemacht, Frau Schilling.«
»Welchen?« fragte sie.
»Ich habe Juanita Caretto die Nachricht zugespielt, daß Francesco eine Affäre mit Nadine hat. Ich wußte nicht, daß das Problem anders und schneller gelöst werden könnte.«
»Dann sprechen Sie ehrlich mit Nadine darüber«, sagte Georgia. »Immerhin hat sie sich vieles selbst zuzuschreiben. Aber sagen Sie ihr nicht, daß ich hier mit Ihrer Mutter beisammensitze. Jetzt bin ich an der Reihe, einige Heimlichkeiten haben zu dürfen, und zwei Mütter werden sich einiges noch zu sagen haben.«
Er küßte ihr die Hand. »Ich habe gewußt, daß Sie mich verstehen«, sagte er leise.
*
»Er hat viel für Nadine übrig«, sagte Charlotte Vestris, als Jonas gegangen war. »Für Sie aber auch, Georgia. Darf ich Sie bitten, mich auch Charlotte zu nennen? Sehen Sie, Biggi ließ sich nicht helfen, und Jonas weiß seine Gefühle nicht richtig einzusetzen. Mütter verstehen ihre Kinder meist besser, als sie sich selbst verstehen.«
»Sie wollen damit sagen, daß Jonas ein ernstes Interesse an Nadine hat?« fragte Georgia verwundert, »trotz aller Vorurteile?«
»Es gibt keine Vorurteile, aber wir Mütter sollten dieser Entwicklung gelassen entgegensehen. Damals, Biggi gegenüber, war er hart, und das hängt ihm noch immer nach. Er hat sich die bittersten Vorwürfe gemacht, nicht alles getan zu haben, um sie zur Umkehr zu bewegen, aber ich denke jetzt, daß alles nutzlos gewesen wäre.«
*
Tiefste Verwirrung, Angst und auch ein Vorwurf lagen in Nadines Blick, als Jonas kam.
»Wo ist Juanita?« fragte er.
»In meinem Zimmer. Sie ist fertig mit den Nerven. Warum haben Sie das getan? Warum haben Sie ihr mitgeteilt, daß Francesco mit mir liiert sei?«
»In Ihrer beider Interesse«, erwiderte er ruhig. »Ich konnte nicht voraussehen, daß sich alles auf andere Weise lösen würde. Ich werde Ihnen nachher die ganze Wahrheit sagen, Nadine, doch zuerst will ich mit Juanita sprechen.«
»Was soll ich meiner Mutter sagen, wenn sie heimkommt?« fragte Nadine.
»Sie wird jetzt nicht kommen, außerdem weiß sie Bescheid. Sie sitzt jetzt mit meiner Mutter beisammen.«
Nadines Augen weiteten sich. »Mit Ihrer Mutter? Wie das?«
»Ich habe Ihre Mutter getroffen, und ich dachte, daß es gut wäre, wenn zwei Mütter sich über gewisse Probleme aussprechen könnten.«
»Aus Ihnen soll man klug werden«, murmelte Nadine.
»Danke, gleichfalls«, erwiderte er lakonisch. »Wir reden später darüber.«
Juanita lag auf dem Bett. Sie richtete sich auf, als Joans eintrat. Man sah noch die Tränenspuren, aber jetzt warf sie ihm einen flammenden Blick zu.
»Warum hast du das getan, Jonas? Warum mußte dieses Mädchen hineingezogen werden? Du weißt doch, daß ich innerlich fertig bin mit Francesco.«
»Aber du brauchst nicht nach außen hin den Schein zu wahren. Du hast ein Recht auf ein besseres Leben, Juanita. Du mußt an deine Kinder denken. Es ist dir jetzt hoffentlich wohl klar, daß du von Francesco nichts zu erwarten hast, und dir sollte es klar sein, daß Carlos dich liebt.«
Nadine gestattete sich zu lauschen und als der Männername fiel, atmete sie insgeheim auf. Es hatte ihr einen schmerzhaften Stich versetzt, als Jonas so besorgt nach Juanita gefragt hatte. Sie selbst hatte sich nur schwer mit ihr verständigen können, denn Juanita sprach nur wenig deutsch und sehr schlecht englisch.
Nun sprachen die beiden aber Spanisch und diese recht erregt. Doch mehrmals fiel der Name Carlos, und aus dem Zwiegespräch konnte Nadine doch entnehmen, daß zwischen Jonas und Juanita keine tiefere Zuneigung herrschte. Jonas sprach sehr energisch, manchmal zornig, manchmal versöhnlich. Und dann kam er heraus.
»Wir bringen sie jetzt zur Polizei. Sind Sie einverstanden, Nadine?«
»Wenn Sie es wollen«, sagte sie wie ein gehorsames Schulmädchen.
»Ich befehle nicht, ich bitte Sie darum«, sagte er. »Dann wird sich mein Freund Carlos um Juanita kümmern. Die Zusammenhänge werden Sie noch heute erfahren. Ich hoffe, daß Sie mir verzeihen werden.«
Juanita war jetzt ganz ruhig. Sie war keine besonders attraktive Frau, aber auf ihre Weise apart und anziehend. Und sie war schlimmer dran als Nadine, denn sie war seit sechs Jahren mit Francesco verheiratet und hatte zwei Kinder von vier und zwei Jahren. Nadine wollte es nicht in den Sinn, daß er diese Frau betrogen hatte.
Wie wenig hatte sie doch nachgedacht. Wie wichtig hatte sie sich selbst genommen. Auch sie war ganz still.
Jonas begleitete sie ins Präsidium. »Es tut mir alles sehr leid«, hatte Juanita noch in stockendem Deutsch zu Nadine gesagt.
»Mir auch«, erwiderte Nadine scheu.
»Sie laufen mir doch nicht davon«, sagte Jonas mahnend zu ihr. Sie konnte nur den Kopf schütteln. Tränen saßen ihr jetzt in der Kehle, hervorgelockt durch Juanitas traurigen Blick.
Es dauerte ziemlich lange, bis Jonas wieder herauskam. »Jetzt müssen wir noch ein paar Minuten warten, Nadine. Carlos wird kommen.«
Der Erwähnte kam sehr schnell und sichtlich erregt. Ein spanischer Wortschwall ergoß sich über Jonas, den dieser ruhig bremste.
Als Senhor Duarte wurde er dann Nadine vorgestellt. Sie fühlte sich durchdringend gemustert, dann eine höfliche Verbeugung, noch ein paar Worte zu Jonas, und Carlos Duarte verschwand im Präsidium.
»Nun kommt die Erklärung«, sagte Jonas zu Nadine. »Setzen wir uns irgendwohin. Ich habe eine trockene Kehle.«
Die hatte Nadine allerdings auch. Ihre war wie zugeschnürt.
»Ich werde mich kurz fassen«, sagte Jonas. »Carlos kenne ich von der Uni her. Durch ihn habe ich in Valencia Juanitas Familie kennengelernt und deren Sorgen, die sie mit ihrem Schwiegersohn haben. Francesco stammt aus einer guten Familie, die aber finanziell ruiniert war. Davon wußten Juanitas Eltern nichts, als er um ihre Hand anhielt und in den folgenden Jahren tat Francesco einiges, um auch sie zu ruinieren. Carlos sprang ein. Er merkte, was Francesco für krumme Geschäfte machte und bat mich um Hilfe. Und ich kam dahinter, was Francesco für Geschäfte machte, wiegte ihn aber in Sicherheit.
Als ich dann annehmen mußte, daß ein sehr enges Verhältnis zwischen Ihnen und Francesco bestand, informierte ich Juanita.«
»Warum?« fragte Nadine deprimiert.
»Um Sie mit Tatsachen zu überzeugen, daß Sie sich auf einem falschen Dampfer befanden. Ich selbst wollte nicht in Erscheinung treten, weil ich noch Beweise gegen Francesco sammeln wollte. Ich ahnte nicht, daß es zu einer schnellen Klärung kommen würde, Nadine. Ich mußte befürchten, daß Sie entführt würden. Das konnte Juanita verhindern, wenn sie in Erscheinung trat. Francesco konnte ja nicht leugnen, daß sie seine Frau ist.«
»Und welche Rolle spielte die Lamprecht?«
»Nun, man könnte sie und Francesco als Geschäftspartner bezeichnen. Sie wollte ihm die Forschungsunterlagen zuspielen, die er dann einem Konzern verkaufen sollte. Sie wollte dabei ja nicht in Erscheinung treten, um auch weiterhin als solide Mitarbeiterin Ihres Vaters zu gelten. Wahrscheinlich sollten Sie zum Sündenbock gestempelt werden. Und möglicherweise wären Sie auf Nimmerwiedersehen irgendwo verschwunden.«
Voller Entsetzen blickte ihn Nadine an. »Sie wollten mich umbringen?« fragte sie bebend.
»Nun, vielleicht nur so verschwinden lassen. Auf jene Weise, wie meine Schwester vor die Hunde ging. Man kann einen Menschen seelisch töten, Nadine, ohne daß jemand des Mordes angeklagt werden könnte.«
»Es ist alles so unvorstellbar«, flüsterte sie.
»Nun, Ihr Vater wurde im richtigen Augenblick krank. Es kam alles anders als zu fürchten war. Und inzwischen hatten wir ja auch schon ein bißchen Freundschaft geschlossen und ich merkte, daß die kleine Nadine eine ganze Portion Charakter hat. Verzeihen Sie mir nun, daß ich Juanita herholte?«
»Wie mag ihr zumute sein«, sagte Nadine leise.
»Mies«, erwiderte er, »aber nun wird sie wohl endlich auch ganz klar sehen und die endgültige Trennung von Francesco vollziehen.«
»Sie hat zwei Kinder«, sagte Nadine. »Es muß doch schrecklich sein, wenn Kinder einen solchen Vater haben.«
»Ein sehr anständiger Mann wird ihr über diese schwere Zeit hinweghelfen, Nadine. Fahren wir jetzt zu meiner Mutter?«
»Was soll sie denn von mir denken«, flüsterte Nadine.
»Daß Sie ein sehr nettes Mädchen sind, das einen kleinen Ausrutscher schnell überwinden wird.«
»Ich habe ganz schön eins auf den Deckel bekommen«, sagte sie zaghaft.
»Aber Sie sind dadurch nicht kleiner geworden, sondern gewachsen. Würden Sie mich jetzt als Ihren Freund ansehen, Nadine?«
»Wollen Sie denn das?«
»Ich könnte mir vorstellen, daß wir Freunde für ein ganzes Leben werden«, sagte er mit einem tiefen Lächeln. »Wie sagt man doch? Freundschaft ist der Anfang oder das Ende einer Liebe.«
Heiße Glut ergoß sich über ihr Gesicht, als seine Hand sich jetzt auf ihren Nacken legte.
»Ich schäme mich aber so entsetzlich«, flüsterte sie.
»Das brauchen Sie nicht, Nadine.« Als sie zu ihm aufblickte, wechselte der Ausdruck seiner Augen, und ein elektrischer Schlag zuckte durch Nadines Körper. Sie begriff plötzlich überhaupt nicht mehr, daß sie etwas für Francesco empfunden hatte, aber sie begriff, daß ganz andere Gefühle in ihr erwacht waren.
An Jessica dachte sie überhaupt nicht mehr, nicht daran, daß man sie vermissen, sie suchen würde und sich Sorgen um sie machen könnte.
»Sie ist nicht da, Markus«, flüsterte Jessica ängstlich, nachdem sie im ganzen Haus nach Nadine gesucht hatte, »und Mami ist auch noch nicht da.«
»Vielleicht haben sie sich in der Stadt getroffen«, meinte er beruhigend. »Reg dich doch nicht auf.«
»Es muß noch jemand hier gewesen sein«, sagte Jessica. »Da liegen Handschuhe, die niemandem von uns gehören.«
»Vielleicht hatte sie Besuch von einer Freundin.«
»Wir haben keine Freundinnen. Jedenfalls war noch niemand bei uns. Du weißt, daß Nadine in eine böse Geschichte geraten ist.«
»Und ich weiß, daß dieser Spanier hinter Gittern sitzt.«
»Und wenn dieser Vestris nun auch mit falschen Karten spielt?«
Skepsis schien schon angebracht, meinte Markus für sich, aber das sagte er nicht. Er wollte Jessica nicht noch mehr aufregen.
»Wollen wir wieder zu uns gehen oder hier warten?« fragte er.
»Hier«, sagte Jessica. »Ich mache mir große Sorgen, Markus.«
Und die wären gar nicht angebracht gewesen. Selten hatte Georgia einen so harmonischen Nachmittag erlebt wie diesen. Es tat ihr wohl mit dieser leidgeprüften und doch so gütigen und toleranten Frau zu sprechen, und sie hatte so viel Gutes über Jonas erfahren, daß sie im Innern schon von Herzen wünschte, daß er sich Nadines auch weiterhin annehmen möge.
Und dann kamen die beiden, und beide Mütter hielten den Atem an.
Nadine hatte darauf bestanden, Blumen zu kaufen, aber es war gar nicht so einfach gewesen, ein Geschäft zu finden. Auch die Vestris wohnten ziemlich abgelegen.
Jonas hatte sich freuen können, als Nadine vor dem Haus stand und sagte: »Ist das hübsch. So etwas gefällt mir.«
Ganz spontan war es über ihre Lippen gekommen, und gleich war sie wieder verlegen geworden, als er mit dunkler Stimme sagte: »Das freut mich.«
Und dann machte sie vor Frau Vestris ganz unwillkürlich einen kleinen Knicks, was wiederum Georgia freute.
»Herzlich willkommen, Nadine«, sagte sie mit einem lieben Lächeln. »Mit Ihrer Mutter habe ich mich schon angefreundet, und ich hoffe, daß wir uns auch bald besser kennenlernen werden.«
Nadines Blick wanderte zu Georgia. »Es war ein aufregender Tag, Mami. Ich bin so froh, daß Jonas mir so beisteht.«
»Darüber bin ich auch sehr froh, Nadine«, sagte Georgia. »Ich gerate immer tiefer in Dr. Vestris Schuld.«
»Davon kann gar keine Rede sein«, sagte Jonas lächelnd.
Dann ging es ans Erzählen und schließlich fragte Georgia: »Weiß Jessica Bescheid?«
»O jemine«, entfuhr es Nadine, »daran habe ich überhaupt nicht gedacht, aber sie ist ja bei Markus. Der läßt sie schon nicht allein.«
»Dann sollten wir aber wenigstens anrufen«, meinte Jonas.
»Für mich wird es jetzt wirklich Zeit, heimzukommen«, erwiderte Georgia. »Ich hoffe, Sie bald einmal bei uns zu sehen, Frau Vestris.«
»Gern. Darf Nadine noch zum Abendessen bleiben?«
»Jetzt wollen wir erst einmal klären, wie Frau Schilling heimkommt, Mutter«, warf Jonas ein.
»Lieber Himmel, ich habe ja den Wagen bei der Klinik stehen lassen«, sagte Georgia. »Ich nehme mir ein Taxi bis dorthin.«
»Das kommt nicht in Frage«, widersprach Jonas.
Georgia überlegte schnell. »Dann machen wir es doch ganz anders. Sie kommen mit zu uns. Bitte.«
»Bei uns quillt der Kühlschrank über. Wir haben doch die letzten Tage fast nichts gegessen«, sagte auch Nadine. »Jessica kennt Jonas noch gar nicht.«
Alle Blasiertheit schien abgefallen von ihr. Die beiden Mütter tauschten einen verständnisinnigen Blick, und Charlotte Vestris nickte dann zustimmend. Dafür bekam sie ein dankbares Lächeln von Georgia geschenkt.
Als sie bei der Klinik ankamen, um Georgias Wagen zu holen, kam Dr. Hartung. Er stutzte und blieb stehen, als Georgia auf ihren Wagen zuging.
»Der hat es auf Mami anscheinend abgesehen«, sagte Nadine leise.
Und tatsächlich ließ es sich der Arzt auch nicht entgehen, Georgia anzusprechen. Diesmal fragte er sie, ob sie sich nicht einmal außerhalb der Klinik sprechen könnten.
Georgia war so verblüfft, daß sie keine Worte fand. »Ich weiß, was auf Sie zukommt, gnädige Frau, und würde Ihnen gern helfen«, sagte er.
»Ich glaube schon, daß ich ganz gut allein zurechtkomme«, erwiderte Georgia. »Ich habe zwei Töchter und gute Freunde.«
»Sie waren neulich so unsagbar deprimiert«, sagte er.
»Jetzt habe ich schon wieder Tritt gefaßt«, gab sie rasch zur Antwort. »Jetzt habe ich leider auch gar keine Zeit.«
Sie wollte ihn nicht vor den Kopf stoßen. Vielleicht meinte er es wirklich nur gut, aber es war schon so lange her, daß sich ein Mann um sie bemüht hatte, daß jemand ihr das Gefühl gab, ein sehr persönliches Interesse an ihr zu haben. Ja, in Amerika war das öfter vorgekommen, schon durch Kathy, die immer Gesellschaft um sich hatte.
»Wenn Sie mich brauchen, wissen Sie, wo ich zu finden bin«, sagte er bittend. Dann neigte er sich tief über ihre Hand.
Bin ich denn überhaupt noch begehrenswert? fragte sich Georgia, als sein Blick sie streichelte. Ja, dieses Gefühl gab er ihr, sie einzuhüllen und zu streicheln, und ihr Herz begann dumpf zu klopfen.
Dann stieg Charlotte zu ihr in den Wagen. »Überlassen wir Nadine beruhigt Jonas«, sagte sie mit einem feinen Lächeln. »Sie haben anscheinend auch eine Eroberung gemacht, Frau Schilling. Nadine meint es wohl.«
»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll«, erwiderte Georgia kopfschüttelnd. »Dr. Hartung ist Psychiater. Er scheint mich für sehr labil zu halten.«
»Oder nur für sehr schön«, sagte Charlotte sanft.
»Ach was, da habe ich andere Sorgen«, meinte Georgia mit einem leisen Lachen. »Eine solche Ehe hinterläßt Spuren, die nicht mehr zu tilgen sind. Ich habe das doch schon angedeutet.«
Ja, mit Charlotte konnte sie reden, als wären sie lange befreundet. Und es tat ihr wohl, sich aussprechen zu können.
»So dürfen Sie nicht denken, Georgia. Sie sind doch noch jung. Sie könnten sogar beinahe meine Tochter sein. Ich bekam Jonas erst, als ich siebenundzwanzig war, und wir waren schon fünf Jahre verheiratet. Drei Jahre später kam dann auch noch Biggi. Mein Mann hatte sich ein Mädchen gewünscht. Er verwöhnte sie fast sträflich, und er ging daran zugrunde, als sie dann ausbrach. Aber vielleicht brach sie gerade darum aus, weil er so Besitz von ihr ergriffen hatte. Sie wollte sich nicht bevormunden lassen, sie wollte nicht das behütete Töchterchen eines nicht mehr jungen Vaters sein. Ja, auch dadurch kann ein an sich harmonisches Familienleben gefährdet werden, nicht nur durch zu strenge Eltern, die zuviel von Kindern fordern und erwarten. Mir tut es gut, daß ich mit einem Menschen darüber sprechen kann, der auch Probleme hat. Jonas wollte später dann alles von mir fernhalten, was mich betrüben könnte, und ich fürchtete schon, er würde deshalb gar nicht mehr an sich selbst denken. Jetzt fürchte ich das nicht mehr. Ich hoffe nur, daß Nadine mich auch ein wenig liebgewinnen wird.«
»Sie muß man doch liebhaben, Charlotte«, sagte Georgia leise und drückte schnell die feine Hand der Älteren.
Bei jedem Motorengeräusch war Jessica zusammengeschreckt, aber Jonas’ Wagen hörte sie dann gar nicht kommen, so leise ließ er ihn ausrollen. Und als Nadine dann eintrat, kam Jessica gar nicht dazu, Vorwürfe loszuwerden, denn da trat auch schon Jonas ein, und Nadine sagte: »Mami und Frau Vestris kommen auch gleich. Schimpf nicht los, Jessica, es tut mir ja leid, daß ich dir keine Nachricht hinterlassen habe. Es ging doch alles so schnell. Markus hat dich doch hoffentlich nicht allein gelassen.«
»Natürlich nicht«, ertönte dessen Stimme von der Tür her. »Aber einige Sorgen haben wir uns schon gemacht.«
Jessica war immer noch benommen, als dann auch Georgia und Charlotte Vestris eintraten. Sie flog ihrer Mutter an den Hals.
»Nun seht ihr mal, wie mir manchmal zumute war, wenn ich auf euch gewartet habe«, sagte Georgia trocken. »Aber das soll kein Vorwurf sein. So ein paar Stunden gehen so schnell vorbei.«
Aber ebenso schnell gewöhnten sie sich daran, in einer großen Runde am Tisch zu sitzen. Daß sie Jonas nicht mißtrauen müßten, hatten Jessica und Markus schnell heraus, und wenn gleich seine Mutter mitkam, konnte das nur Gutes bedeuten. Freilich herrschte anfangs noch so etwas wie Staunen über dieses plötzliche Beisammensein, vor allem wohl bei Jessica, die es aus der Fassung gebracht hatte, daß ihre störrische Schwester Nadine sanft wie ein Lamm war, aber in Verbindung mit Lamm mußte sie an die Lamprecht denken, und das wollte sie nicht.
Die Skepsis gegen Jonas war ausgeräumt, seine Mutter fand Jessica ganz besonders nett. Sie war eben ein richtiger mütterlicher Typ, nicht mehr so jugendlich wie Georgia, nicht so locker wie Inge Röding.
Markus und Jonas fanden schnell Kontakt zueinander, obgleich sie so ganz unterschiedliche berufliche Interessen hatten.
Von Francesco, Juanita und Carlos wurde nicht gesprochen.
Von ihnen erfuhr Jessica erst am Ende dieses langen Tages zu nächtlicher Stunde.
Jonas und Nadine hatten noch ziemlich lange miteinander geredet, abseits von den anderen, und dann gab es einen sehr herzlichen Abschied von Charlotte Vestris.
Es dauerte geraume Zeit, bis Nadine sich bei Jessica blicken ließ. Anscheinend hatte sie sich erst aus ihrer Traumstimmung lösen müssen.
»Da staunst du, was?« fragte sie nun forsch, aber ihre Stimme hatte doch einen ganz anderen Klang als früher.
Jessica lächelte hintergründig. »Wenn du wissen willst, wie ich Jonas finde…«
»Ach was, ich weiß ja, daß er euch gefällt. Wir sind Freunde, ganz richtige Freunde, verstehst du. Denke nur nicht, daß das nur so ein Flirt ist, wie mit Francesco.«
»War das wirklich nur ein Flirt, Nadine?« fragte Jessica ernst. »Sei mal ganz ehrlich, auch mit dir selbst.«
»Eigentlich möchte ich darüber gar nicht mehr nachdenken«, sagte Nadine leise. »Es ist ein blödes Gefühl, wenn man so hereingefallen ist. Er wußte eben ganz genau, wie er es anfangen mußte.
Aber er verband damit ja auch ganz gezielte Absichten.«
Dann erfuhr Jessica auch die ganze Geschichte über Juanita und auch über Jonas Schwester Biggi.
»Da kann es einem wirklich richtig übel werden«, sagte sie leise. »Ich muß Frau Vestris noch mehr bewundern.«
»Ja, sie ist eine wundervolle Frau. Und Jonas steht so über den Dingen, wenn er auch engagiert ist. Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Er hat mir erst klargemacht, wie kindisch ich mich benommen habe, obgleich er das natürlich nicht so direkt sagt. Er ist eben ein reifer Mann, und so ritterlich.«
»Jedenfalls hast du den Unterschied kennengelernt, Nadine«, meinte Jessica nachdenklich. »Ist es nicht seltsam, daß wir gerade jetzt, in dieser Situation mit Papa echte Freunde gefunden haben?«
»Du denkst doch schon an Heiraten«, sagte Nadine.
»Doch nicht gleich! Wir haben halt darüber gesprochen, daß wir zusammenbleiben wollen. Markus ist nicht so, daß er Sprüche klopft.«
»Jonas erst recht nicht«, sagte Nadine. »Ich weiß nur nicht, womit ich es verdiene, daß er mich ernst nimmt«, fügte sie dann leise hinzu.
»Er hat gemerkt, daß mehr in dir steckt«, erklärte Jessica ernsthaft. »Aber wir wollen jetzt mal daran denken, daß Mami uns braucht. Markus hat mir schon angedeutet, was noch auf sie zukommen kann, wenn Papa noch länger lebt. Jetzt kann er noch einigermaßen klar denken, aber das wird auch nachlassen. Solche Krankheiten bringen große psychische Veränderungen mit sich.«
»Vielleicht hält Mami sich dann doch an diesen Dr. Hartung. Der ist ja Psychiater«, sagte Nadine.
»Jetzt redest du wieder mal Unsinn«, sagte Jessica verweisend.
»Wieso Unsinn? Er zeigt großes Interesse für Mami. Man müßte schon blind sein, wenn man das nicht merken würde. Und er ist ein gutaussehender Mann. Kathy hat doch auch einen jüngeren Mann geheiratet.«
»Vergleiche Mami bitte nicht mit Kathy«, brauste Jessica auf.
»Seien wir doch mal ganz ehrlich, Jessi. Was hat Mami denn schon vom Leben gehabt. Uns, ja, aber immer haben wir ihr auch keine Freude bereitet und wie oft hat sie sich mit Papa unseretwegen angelegt. Vor allem meinetwegen, und ich habe das noch herausgefordert.«
»Selbsterkenntnis ist der erste Weg zur Besserung. Aber immerhin war Papa ja ein großer Wissenschaftler und nicht so ein Tagedieb. Solche Leute sind eben schwierig. Aber Markus meint auch, daß er keine intimen Beziehungen zu der Lamprecht gehabt hat. Schon wegen der Krankheit nicht. Und deshalb kann man auch bei ihm und Mami nicht mehr von einer richtigen Ehe reden.«
»Jedenfalls hat dieses Weib ihn maßlos ausgenützt und hintergangen. Sie soll ruhig auch leiden«, sagte Nadine erbittert. »Und wenn ich mir vorstelle, daß Francesco sich mit ihr eingelassen hat, wird es mir erst recht übel.«
»Wir wollen froh sein, daß es nicht noch schlimmer wurde«, sagte Jessica begütigend. »Was willst du nun machen?«
»Ich mache natürlich die Schule fertig.« Sie lächelte verlegen. »Meine kleine Schwester wird mich zwar um manche Punkte schlagen, aber das muß ich hinnehmen. Ich werde es schon beweisen, daß ich es schaffe.«
»Womit hast du den Direx eigentlich eingeseift?« fragte Jessica.
Nadine wurde rot. »Geschwindelt habe ich schon. Ich habe ihm gesagt, daß ich mir so viel Gedanken um Paps Krankheit gemacht habe, daß ich mich nicht konzentrieren konnte, und das hat er mir abgenommen. Er war weich wie Butter.«
»Ich kann mir deinen Augenaufschlag schon vorstellen«, sagte Jessica anzüglich. »Aber der Zweck heiligt die Mittel. Dann wollen wir mal schlafen, damit der Verstand wach bleibt. Mir ist jetzt jedenfalls wohler. Ich habe mir schon große Sorgen um dich gemacht, und ich habe deinetwegen wirklich nicht gern geschwindelt.«
»Tut mir auch leid, aber ich werde es einmal gutmachen. Ganz bestimmt. Meinst du ob Onkel Jürgen kommt?«
»Warum bist du eigentlich so wild darauf?« fragte Jessica.
»Weil ich wissen möchte, von wem ich die leichte Ader habe. Es muß doch irgendwie in der Familie liegen.«
»Jetzt hast du sie ja besiegt«, meinte Jessica, »und er ist ein Mann, der auf die Fünfzig zugeht und anscheinend immer noch eine leichte Ader hat.«
*
Das mochte in gewisser Beziehung zutreffen. Tierisch ernst hatte Jürgen Schilling das Leben nie genommen, und dennoch tat man ihm Unreeht, wenn man solche Gedanken hegte, die auch Georgia bewegten.
Er hatte das Telegramm bekommen. Er war erstarrt. Und gleich griff er zum Telefon und buchte einen Flug.
Es gehörte zu seiner Lebensauffassung, daß er niemals negativ dachte. Vieles war auf ihn eingestürmt, aber mit allem war er immer fertig geworden, da nur Tatsachen für ihn galten, die man überwältigen oder an denen man zerbrechen konnte. Aber daß sein Bruder, daß jemand aus der Familie, die ihm doch etwas bedeutete, todkrank werden könnte, solange er sich, trotz seines ruhelosen Lebens, bester Gesundheit erfreute, das wollte ihm nicht in den Sinn.
Und so kam es, daß sein sonnengebräuntes Gesicht, das seine manchmal harten Lebensjahre Lügen strafte, fahl wurde, als er seinen Koffer packte.
Am Mittwochabend, zehn Minuten nach zwölf Uhr, ging der große breitschultrige Mann im grauen Flanellanzug in München-Riem durch den Zoll und strebte schnell ins Freie. Er setzte sich in ein Taxi und nannte kurz sein Ziel.
Es regnete in Strömen. »Sie kommen aus wärmeren Gefilden«, sagte der junge Taxifahrer.
»Ja«, erwiderte Jürgen wortkarg. Er war nicht zum Reden aufgelegt.
»Das Wetter ist plötzlich umgeschlagen«, sagte der Fahrer. »So ist das bei uns. Gestern so, morgen wieder anders.«
»Als ich das letzte Mal in München war, hatte es vierzehn Tage non stop geregnet«, sagte Jürgen gedankenverloren.
»Das passiert auch. Man möchte auswandern.«
»Versuchen Sie es doch«, sagte Jürgen ironisch. »Aber machen Sie sich keine Illusionen.«
»Na ja, man hört so allerhand, aber manche haben doch Glück.«
Jürgen versank in Schweigen. Er hörte gar nicht mehr zu, was der andere redete.
Was ist Glück, dachte er. Geld? Erfolg? Auszeichnungen? Ist nicht das einzige Glück, mit der Frau leben zu können, die man liebt, mit der man alt werden möchte?
Jürgen Schilling war überzeugt, daß sein Bruder Holger so gedacht hatte. Und er selbst hatte ihn beneidet um das bezaubernde junge Mädchen, das von Holger zum Traualtar geführt wurde.
Das München, durch das sie fuhren, erkannte Jürgen gar nicht mehr. Aber er warf auch nur ab und zu einen Blick aus dem Fenster, und da der Regen gegen die Scheiben klatschte, konnte er sowieso nicht viel sehen.
»Ich muß die Straße erst suchen«, verkündete der Taxifahrer ziemlich mürrisch, da sein Fahrgast nun so schweigsam geworden war. »Können Sie mir weiterhelfen?«
»Nein, ich war noch nie hier«, erwiderte Jürgen. Scheint ja ein ganz nettes Viertel zu sein, dachte er dann. Und schließlich hielten sie vor dem Haus.
Jürgen zog den Trenchcoat über, um nicht ganz pudelnaß zu werden. Er zahlte mit Dollar, aber so großzügig, daß es keine Debatte wegen des Wechselkurses gab. Ja, großzügig war er immer gewesen. Leben und leben lassen, war seine Devise. Und dann drückte er auf die Klingel. Himmel, wenn jetzt niemand da ist, dachte er, während der Regen auf ihn herabprasselte. Doch der automatische Türöffner summte, und er lief den Gartenweg entlang.
Und dann stand er vor Georgia. Ihre Augen wurden ganz weit, und ihm lief das Wasser aus den Haaren über das Gesicht.
»Jürgen, schnell hinein«, sagte sie überstürzt.
Er merkte die Nässe nicht mehr. Er blickte in ihre Augen, griff nach ihren Händen und sagte mit rauher Stimme, die ihm nicht gehorchen wollte: »Georgia.«
»Du bist schnell gekommen«, flüsterte sie.
»Das war ja auch ein schöner Schrecken«, murmelte er.
»Du bist ja patschnaß, Jürgen«, sagte sie.
Und da kam Nadine die Treppe heruntergesprungen. »Onkel Jürgen?« Staunend blieb sie stehen und starrte ihn an.
Emporblicken mußte sie zu ihm, obgleich sie auch nicht gerade klein war. Aus seinen dunklen, nur leicht graumelierten Haaren rann noch immer das Wasser, und in seinen dunklen Augen war ein seltsamer Ausdruck.
»Nadine?« fragte er zögernd. »Mein Gott, wie erwachsen du bist und wie hübsch.«
»Reden können wir nachher«, sagte Georgia. »Du mußt dich erst umziehen, Jürgen.« Er war ganz froh, jetzt nichts mehr sagen zu müssen. Sein Herz schlug wie ein Hammer und er mußte gegen das beklemmende Gefühl ankämpfen, unendlich viel in seinem Leben versäumt zu haben.
Inzwischen war Jessica gekommen, ebenfalls ziemlich naß, obgleich Markus sie von der Schule abgeholt und heimgebracht hatte, aber er mußte an diesem Tag noch nach Heidelberg fahren, um seine Sachen zu holen und vor allem seine Unterlagen für die Doktorarbeit.
»Onkel Jürgen ist gekommen«, sagte Nadine überstürzt, »er sieht einfach toll aus.«
»Wirst du wieder rückfällig?« fragte Jessica spöttisch.
»Wenn es wahr ist. Du wirst es auch feststellen. Überhaupt keine Ähnlichkeit mit Papa.«
»Früher waren sie sich schon ähnlich«, sagte Georgia gedankenvoll, »nur hat Jürgen sich nicht viel verändert.«
Nur äußerlich nicht, oder überhaupt nicht? fragte sie sich. Aber das sollte jetzt Nebensache sein. Sie war plötzlich seltsam glücklich.
Das Essen war ohnehin vorbereitet. Nadine deckte den Tisch mit besonderer Hingabe. Und dann erschien Jürgen in beiger Hose, taubenblauem Hemd und beigem Pulli. Sein kraftvoller, durchtrainierter Körper kam in dieser Kleidung noch besser zur Geltung. Und auch Jessica hielt den Atem an.
»Nun habe ich die drei Grazien beisammen«, sagte er mit tiefer, warmer Stimme. »Ich freue mich. Darf ich euch in die Arme nehmen?«
Durch den Regen und die Dusche war nun wieder Farbe in sein Gesicht gekommen. Kaum Falten wies es auf.
Sechsundvierzig sollte er sein? Nein, das wollte Georgia jetzt gar nicht glauben.
»Und wer ist die Schönste im ganzen Land«, sagte er leise, als er Georgia in die Arme nahm und auf beide Wangen küßte.
»Immer noch der alte Schmeichler«, sagte sie mit belegter Stimme. »Herzlich willkommen, Jürgen.« Das kam ihr doch aus vollem, wenn auch bebendem Herzen. »Aber jetzt wird erst gegessen.«
»Du bist schnell gekommen, Onkel Jürgen«, sagte Nadine.
Er blinzelte ihr zu. »Sofort. Aber könnt ihr den Onkel nicht weglassen? Ich komme mir gleich uralt vor.«
»Immer noch eitel?« fragte Georgia.
»War ich das jemals?« fragte er seltsam nachdenklich. »Wenn ich mir vorstelle, daß ich auch zwei so reizende Töchter haben könnte, wird mir bewußt, daß das Leben doch irgendwie an mir vorbeigerauscht ist.«
»Warst du überhaupt nie verheiratet?« fragte Jessica stockend.
»Nie. Wer hätte es mit mir schon ausgehalten? Einmal da, einmal dort, aber reden wir jetzt nicht davon. Mir schmeckt es großartig. Wer hat das gekocht?«
»Mami natürlich«, sagte Jessica mit einem Lächeln, während Nadine Jürgen mit verklärtem Blick ansah.
»Sagtest du damals nicht, du könntest nicht kochen?« fragte Jürgen neckend.
»Man lernt viel in zwanzig Jahren«, erwiderte Georgia leise.
»Wie recht du hast«, sagte er.
Und er, was hat er gelernt? fragte sich Georgia. Sie blickte unwillkürlich auf seine Hände, die verrieten, daß sie hart zupacken konnten, aber sehr gepflegt waren. Und auch sonst machte er durchaus nicht den Eindruck eines Gestrandeten, der schnell die Gelegenheit nützen wollte, bei den Verwandten Unterschlupf zu finden. Selbst die sportliche Kleidung verriet erste und teuerste Qualität.
Nadine himmelte ihn buchstäblich an, und schon fürchtete Georgia, daß ihre erwachende Zuneigung für Jonas durch eine weit tiefere abgelöst werden könnte, aber dann tröstete sie sich mit dem Gedanken, daß Jürgen ja tatsächlich ihr Vater sein könnte und daß Nadine sich ihren Vater wohl so gewünscht hätte.
Noch wurde Holger mit keinem Wort erwähnt. Noch wagte Georgia nicht die Frage, was Jürgen während der vergangenen Jahre getan hatte.
»Wie lange kannst du bleiben, Jürgen?« fragte Nadine.
»Solange ihr mich ertragen könnt«, erwiderte er. »Ich muß mir nur eine nette Bleibe suchen.«
»Du wohnst doch natürlich bei uns«, sagte Nadine.
Er sah Georgia an. »Das ist doch selbstverständlich, Jürgen«, sagte sie rasch. »Wir haben genug Platz. Wenn du sonst keine Verpflichtungen hast?«
»Die können jetzt warten«, sagte er. »Wann kann ich Holger besuchen?«
»Ich muß heute nachmittag sowieso in die Klinik«, sagte Georgia.
»Ich bin bei Frau Vestris eingeladen. Jonas wollte mich abholen«, sagte Nadine.
Georgia hatte den Eindruck, als zucke Jürgen leicht zusammen. »Ich könnte ja mitkommen«, sagte Jessica. »Markus ist nach Heidelberg gefahren. Aber eigentlich müßte ich den Aufsatz schreiben.«
»Sie sind beide schon vergeben?« fragte Jürgen nachdenklich.
»Nadine ist zwanzig und Jessica achtzehn«, erwiderte Georgia.
»Wo sind die Jahre nur geblieben«, seufzte er. »Nun, ich glaube, die Jugend wird es verstehen, daß wir uns manches zu sagen haben, Georgia.«
»Ja, sicher, wir verstehen das«, sagte Nadine, und wieder traf Jürgen ein schwärmerischer Blick.
Sie sind sich tatsächlich ähnlich, ging es Georgia durch den Sinn, schon rein äußerlich.
»Wir müßten dann bald fahren, Jürgen«, sagte sie rasch. »Zwischen drei und vier Uhr hat Holger meist eine gute Zeit.«
»Soweit man das gut nennen kann«, warf Nadine ein. »Er hadert mit Gott und der Welt.«
»Mit Gott war er doch nie einig«, sagte Jürgen. »Erst die Materie, dann der Mensch. Nun, das ist wohl so bei Wissenschaftlern, die sich nur mit der Materie befassen, mit ihr leben.«
»Und mit ihr sterben«, sagte Georgia tonlos.
Sehr ernst war Jürgens Gesicht geworden. »Ja, dann fahren wir gleich«, sagte er. »Hoffentlich werde ich nicht wieder so naß. Ich muß mir erst noch einige Klamotten besorgen. Ich reise immer mit leichtem Gepäck, und diesmal war ich auf Florida eingestellt. Wenn es nicht so schnell gegangen wäre, hatte ich mich noch in den Staaten für Europa eingekleidet. Aber ich kann ja hier mit meinen hübschen Nichten mal einen ausgiebigen Einkaufsbummel machen.«
»München ist sehr teuer, Jürgen«, sagte Georgia mit einem warnenden Unterton.
Einen Augenblick schien er verblüfft, dann lächelte er. »Man wird es sehen und sich daran gewöhnen.«
»Ich ziehe mich schnell um«, sagte Georgia.
Er blickte ihr nach. Dann wandte er sich den Mädchen zu und lachte leise. »Wir machen mal einen richtigen Bummel«, sagte er. »Einverstanden? Ihr habt ja noch nie etwas von mir bekommen.«
»Das braucht’s auch nicht«, sagte Jessica.
»Wir freuen uns, daß du da bist«, sagte Nadine. »Da weht gleich eine andere Luft in diesen traurigen Hallen.«
»Na, so traurig schaut es hier aber nicht aus«, meinte er.
»Vielleicht lernt Mami jetzt das Lachen wieder«, sagte Jessica leise.
»Das will ich sehr hoffen, wenn es augenblicklich auch nicht so schnell gehen wird«, meinte Jürgen. »Und eure Freunde werde ich genau unter die Lupe nehmen, damit ihr gleich Bescheid wißt. Solche Schmuckstücke darf man nicht aus den Augen lassen. Ein hinreißender Gedanke, eingeräumt durch Münchens Straßen bummeln zu können von so viel strahlender Jugend und Schönheit.«
Er lächelte, doch das Lächeln erreichte seine Augen nicht, und eine kleine Flamme glomm erst in ihnen wieder auf, als Georgia in einem schlichten und doch schicken Lederkostüm erschien.
Er verschwand auch schnell noch mal und kam mit einer Lederjacke zurück.
»Es regnet nicht mehr«, sagte Jessica mit nachdenklichem Ausdruck. »Die Wolken verziehen sich.«
Diese Worte riefen eine Erinnerung in Georgia wach, die ihr fast den Atem raubte. »Ich hole den Wagen aus der Garage«, sagte sie rasch. »Willst du fahren, Jürgen?«
»Wer weiß, wo wir dann landen würden«, meinte der doppelsinnig. »Ich vertraue mich dir ganz an.«
Er setzte sich neben sie. »Anschnallen«, sagte sie kurz.
»Du bist aber streng!«
»Ich bin verantwortlich und muß für meine Töchter sorgen«, erwiderte sie.
»Das werden dir wohl bald ein paar junge Männer abnehmen, die hoffentlich sehr anständig sein werden, Georgia. Und wer sorgt dann für dich?«
»Das kann ich selbst. Ich bin nicht das Dummchen, zu dem ich gestempelt wurde.«
»Das klingt bitter.«
»Soll ich dir etwas vormachen? Du kannst ja hören, wie Holger mit mir und über mich redet. Ich will dich nur vorbereiten. Hausfrau und Mutter oder umgekehrt, mehr war ich nicht wert.«
»Ich kann es mir schlecht vorstellen. Du hast ja auch nie darüber geschrieben. Vorhin sprach Jessica davon, daß die Wolken sich verzogen haben, Georgia.«
»Und jetzt kommt sogar die Sonne«, sagte sie. »Die Luft ist rein, und es ist kein Föhn. Das ist gut für die Patienten.«
»Und du hältst durch bis zum bitteren Ende«, sagte er leise.
»Nach diesen endlos langen Jahren nur noch eine kurze Zeit«, sagte sie tonlos. »Sprechen wir jetzt nicht davon.«
»Verzeih, aber ich mache mir Vorwürfe.«
»Warum?«
»Weil ich nie da war.«
»Was hätte es genützt? Ihr seid so verschieden.«
»Nadine ist mir ähnlich«, sagte er.
»Sie hat mir auch genügend Sorgen bereitet.«
»Ich wäre glücklich, wenn sie meine Tochter wäre.«
»Holger war stets erzürnt, weil sie mehr deine leichte Art hat. Aber jetzt hat sie einen gewaltigen Ducker bekommen. Davon reden wir ein andermal.«
Sie waren bei der Klinik angelangt, und wieder lief ihnen Dr. Hartung in den Weg, als hätte er nur auf Georgia gewartet. Das entsprach sogar der Wahrheit.
Aber vor Jürgen schien er zu erschrecken.
»Mein Schwager«, stellte Georgia vor.
Dr. Hartungs Gesicht entspannte sich. »Ich würde gern mit Ihnen sprechen, gnädige Frau«, sagte er. »Über das EEG, das wir heute gemacht haben.«
Was wird er noch alles finden, um mit mir zu sprechen, überlegte Georgia.
»Jetzt besuchen wir meinen Mann«, sagte sie.
»Ich bin bis sieben Uhr in der Klinik«, erwiderte er.
»Was ist das für ein komischer Knabe?« fragte Jürgen, als sie weitergingen.
»Der Psychiater«, erwiderte Georgia. »Er scheint anzunehmen, daß ich ihn brauche.«
»Na, sein Blick läßt wahrhaftig tief blicken«, sagte Jürgen grimmig. »Aber du wirst so was ja oft genug erleben, Georgia.«
»Was?« fragte sie erstaunt.
»Daß dir junge Männer nachlaufen.«
»Was du dir alles denkst. Ich habe ein sehr zurückgezogenes Leben geführt. Du kannst ja die Mädchen fragen«, fügte sie spöttisch hinzu. »Männer denken da wohl anders.« Sie legte den Kopf zurück und blieb vor einer Tür stehen. »Es wäre gut, wenn du wenigstens Holger den gesetzten Mann vorspielen würdest, der nicht nur Abenteuern nachjagte.«
»Ach, so denkst du also von mir«, sagte er rauh. »Na, dann…«
Und wie er es sagte, tat ihr weh. Es gab ihr einen Stich, der sie fast lähmte. Aber er sah sie nicht an und drückte die Klinke nieder.
*
Neben dem Kranken wirkte er noch kraftvoller, noch eindrucksvoller.
»Hallo, Holger«, sagte er.
»Hallo, Jürgen, du bist gekommen«, kam die leise Antwort.
»Muß doch sehen, was du so treibst. Das paßt nicht zu dir.«
»Ich kann es mir nicht aussuchen. – Du bist ja auch da, Georgia. Wäre doch nicht nötig gewesen, daß du dich bemühst. Ich würde mich gern mit Jürgen allein unterhalten.«
»Dann lasse ich euch allein«, erwiderte sie mit erzwungener Ruhe.
»Warum kommen die Mädchen denn nicht?« fragte er.
»Sie waren doch erst gestern da, Holger«, erwiderte Georgia geduldig. »Sie arbeiten für die Schule.«
»Ich bin gespannt, was dabei herauskommt. Sag ihnen nur, daß es aufwärts mit mir geht und daß sie mir nichts vormachen können.«
»Es freut mich, daß es dir bessergeht«, sagte Georgia.
»Ich habe doch gesagt, daß ich so schnell nicht aufgebe.«
»Ich warte dann auf dich, Jürgen«, sagte Georgia. Er nickte ihr verstohlen zu, aber Holger sagte: »Er kann sich doch ein Taxi nehmen.«
Jürgen drehte sich um und hielt Georgias Blick fest. In ihrem lag jetzt wieder Resignation, aber seltsamerweise schöpfte sie aus seinem Mut.
»Du sollst die Kinder nicht so lange allein lassen«, sagte Holger. »Du brauchst auch nicht jeden Tag zu kommen.«
»Dann laß bitte anrufen, wann du Besuch wünschst«, sagte Georgia ruhig, und aus Trotz entschloß sie sich, Dr. Hartung aufzusuchen.
*
»Findest du es richtig, daß du so mit Georgia sprichst?« fragte Jürgen erzürnt, aber doch in gemäßigtem Ton.
»Glaubst du etwa, sie kommt gern her? Es ist doch nur, um den Schein zu wahren.«
»Immerhin ist sie mehr als zwanzig Jahre deine Frau, Holger.«
»Wir wollen uns nicht über meine Ehe unterhalten. Du siehst ja blendend aus«, sagte Holger.
»Mir geht es wirklich gut«, erwiderte Jürgen gelassen.
»Jetzt sag nur, daß du ein vernünftiges Leben führst.«
»Ob es an deinen Prinzipien gemessen vernünftig ist, weiß ich nicht. Ich bin zufrieden.«
»Letztendlich zählen nur die Erfolge«, sagte Holger.
»Oder das Geld, und davon habe ich genug. Solltest du etwas brauchen, helfe ich gern aus«, sagte Jürgen im gleichen arroganten Ton. Er hatte keineswegs die Absicht, dem Kranken Zugeständnisse zu machen. Für ihn war es sein Bruder, mit dem er selten einer Meinung gewesen war.«
»Du und Geld«, lachte Holger blechern auf. »Als hättest du je das Geld zusammenhalten können.«
»Ich habe es nicht für blödsinnige Experimente hinausgeworfen, sondern investiert. Wieviel brauchst du?«
»Du hast dich nicht geändert«, sagte Holger. »Aber deine Späße können mich nicht aufmuntern.«
»Meinst du, ich wäre gekommen, um dich mit Narreteien zum Besten zu halten? Ich habe mich über dich informiert, Holger. Ich weiß, daß du viel verdient hast, aber noch mehr für deine private Forschung ausgabst, die dir nichts einbringt. Ich habe mit Kathy Forrester gesprochen.«
»Dieses verruchte Weib«, stieß Holger hervor.
»Sie ist eine glückliche Frau. Ich konnte Dan eine sehr gute Stellung in meinem Konzern verschaffen.«
»In deinem Konzern? Jetzt hör aber wirklich mal auf. So spaßig finde ich das nicht.«
»Kannst du lesen, oder brauchst du eine Brille?« fragte Jürgen ruhig. »Ich habe dir einige Akten mitgebracht. Schließlich sollst du jetzt wissen, daß dein abenteuernder Bruder bereit ist, für dich und deine Familie zu sorgen. Daß er sogar einen Haufen Geld investierte, um deine Forschungen zu unterstützen, bis es darauf hinausging, daß diese nur zur Vernichtung der Menschheit beitragen würden. Aber mir wurde gesagt, daß du an einem Mittel arbeitest, daß der Menschheit dienlich sein könnte, und dafür würde ich noch einiges ausgeben. Ich bin kein Forscher. Ich bin vielleicht nicht mal intelligent. Aber ich bin ein Geschäftsmann, Holger. Für mich arbeiten wenigstens dreißigtausend Menschen, und allen geht es gut. Es war ein Abenteuer, diesen Konzern aufzubauen, und ich hatte Glück, das gebe ich zu, aber ich habe auch hart gearbeitet. So, das wäre es!«
»Und damit imponierst du meiner Frau und meinen Töchtern«, murmelte Holger.
»Sie wissen es nicht. Georgia möchte mir ja sogar Taxikosten ersparen. Bitte, hier kannst du es lesen, wer der Hauptaktionär ist. Ich bin gekommen, um dir Mitleid zu heucheln, Holger. Du hast mich immer wie den letzten Dreck behandelt. Aber du bist mein Bruder, und du bist ein kranker Mann, und wenn ich etwas tun kann, um zu deiner Genesung beizutragen, werde ich es tun.«
»Für welche Gegenleistung?«
»Darüber reden wir, wenn du gesund wirst«, sagte Jürgen.
Der Kranke starrte ihn aus trüben Augen an. »Jetzt bist du am Drücker«, sagte er. »Aber ich will leben. Ich will meine Arbeit zu Ende führen. Ich zahle jeden Preis. Du kannst alles haben, wenn du mir jetzt hilfst.«
»Ich will deine Frau und deine Töchter«, erwiderte Jürgen.
»Ist das alles?« fragte der Kranke.
»Ja, das ist alles.«
Holger schloß die Augen. »Ich habe es schon damals gewußt, daß du mir Georgia wegnehmen wolltest«, flüsterte er.
»Wäre es nur in meiner Macht gelegen«, sagte Jürgen heiser.
»So redest du mit deinem kranken Bruder.«
»Es ist die einzige Sprache, die du verstehst. Aber ich will, daß du gesund wirst und daß wir uns dann von Mann zu Mann auseinandersetzen können.«
»Dann besorge die Mittel aus den Staaten. Sie sind zwar nicht so gut wie meines, aber ich werde dann Zeit gewinnen können, meine Forschung zu Ende zu führen. Vorausgesetzt, du gibst mir das Geld.«
»Wieviel?« fragte Jürgen.
»Ein paar Millionen.«
»Du bekommst sie. Du wirst übermorgen die Bestätigung haben, daß sie auf dein Konto überwiesen sind. Na, siehst du, jetzt schaust du doch schon ganz munter drein. Ich wußte doch, daß wir uns verständigen «
»Wie hast du das bloß angestellt, Jürgen!« fragte Holger flüsternd. »Wie kann man zu so viel Geld kommen?«
»Durch harte Arbeit und einen starken Willen.«
Holger drehte seinen Kopf zur Wand. »Du doch nicht. Du bist immer noch ein Angeber. Ich glaube dir kein Wort. Du hättest nicht kommen sollen.«
Jürgens Gesicht wurde ganz hart und hätte ihn Georgia so gesehen, hätte sie keinen Zweifel an ihm und seinen Worten gehegt.
»Du wirst übermorgen die Bestätigung der Bank bekommen, Holger«, sagte er ruhig. »Mehr sage ich jetzt nicht. Und wenn du mich dann zu sehen wünschen solltest, sag bitte Georgia Bescheid.«
Anscheinend wollte Holger noch etwas sagen, aber es fehlte ihm die Kraft. Seine Augen schlossen sich. Und nun konnte Jürgen so richtig sehen, wie ausgezehrt und schon greisenhaft sein Gesicht aussah, und da kam doch Erbarmen in ihm auf.
Was hast du nun eigentlich erreicht, dachte er. Alles Glück der Welt hättest du mit dieser Frau erleben und genießen können, mit den Kindern, und nun hast du dich selbst zerstört.
Er ging langsam zur Tür, doch da tönte leise nochmals sein Name durch den Raum, und er ging zum Bett zurück.
»Tut mir leid, Jürgen«, flüsterte Holger, »ich glaube dir.«
»Ist schon gut«, sagte er leise. »Ich wollte es ja nie heraushängen lassen.«
»Dann würdest du Georgia nie im Stich lassen?« fragte der Kranke.
»Niemals.«
»Es ist gut, ich danke dir.«
Was mag nur in einem solchen Menschen vor sich gehen, überlegte Jürgen. Ich muß mich mehr damit befassen. Ich habe mich ja nie um Kranke und Krankheiten gekümmert. Ja, in dieser Beziehung war ich verdammt egoistisch und habe auch nie gedacht, daß ich mal krank werden könnte. Einen Unfall ja, den habe ich immer einkalkuliert und dann hätten sie ja ohnehin alles bekommen. Vielleicht hilft es ihm wirklich, wenn ich die Mittel besorge und er das Geld bekommt.
*
Georgia hatte sich indessen einen nüchternen Vortrag über EEG angehört, wie die Abkürzung für Elektroenzephalogramm hieß.
Sie hatte tatsächlich interessiert zugehört. Sie wußte jetzt, daß Gemütserregungen, Sinnestätigkeit und gewisse Veränderungen im Hirnbereich damit gemessen und erforscht werden konnten. Sie hatte auch erfahren, daß Holger sehr unterschiedliche Reaktionen zeigte, daß er einmal ganz klare Funktionen brachte und dann wieder verwirrte.
»Allerdings ist zu bemerken, daß die allgemeine Schwäche auch bereits auf die Gehirnzellen übergreift«, sagte Dr. Hartung.
»Damit war ja wohl zu rechnen, Herr Doktor«, sagte Georgia ruhig. »Man hat mir gesagt, daß mein Mann nicht mehr lange zu leben hat.«
»Aber er will mit diesem amerikanischen Medikament behandelt werden und diese Ausgabe ist doch überflüssig«, sagte der Arzt.
»Mein Mann hat so viel experimentiert und erfolgreich dazu«, sagte Georgia ruhig, »warum sollte man nicht auch bei ihm mal ein Experiment machen. Verlieren kann er nicht mehr, nur gewinnen.«
»Er könnte möglicherweise damit über Jahre hinaus am Leben erhalten werden, aber an was für einem Leben.«
»Das sollte nicht Ihre Sorge sein«, sagte sie kühl.
»Denken Sie doch auch an sich«, sagte Dr. Hartung drängend.
»Ich bin im Vollbesitz meines Verstandes, Herr Doktor, das dürften Sie wohl doch bemerkt haben. Ich lasse mir auch keine Schwäche einreden Oh, da kommt mein Schwager.« Sie hatte ständig auf die Glastür geschaut und war erleichtert, Jürgen zu sehen. Sie eilte zur Tür. »Danke für die Auskunft, Herr Dr. Hartung, ich muß jetzt gehen.«
Tief gekränkt blieb er zurück. Ja, anfangs war es nur die Frau gewesen, die ihn fasziniert hatte, aber als er dann erfuhr, daß sie Schillings Frau war, hatte er auch mit dem Gedanken gespielt, über sie an die Forschungsergebnisse heranzukommen. Natürlich mit aller Vorsicht und darauf rechnend, daß sie in ihrer Lage dankbar sein würde für sein Interesse, seine Fürsorge. Nun hatte sie dauernd andere Leute um sich, jetzt gar diesen Schwager, mit dem gewiß nicht gut Kirschen essen war, wie er richtig erkannt hatte, denn Erfahrung als Psychiater konnte man ihm nicht absprechen.
»Was hat dir dieser Nervendoktor erzählt?« fragte Jürgen ohne Umschweife.
Nun mußte Georgia wieder einmal lächeln. Und wie er dieses Lächeln liebte!
»Über ein EEG hat er mich aufgeklärt, und daß Holgers Gehirnzellen müde werden. Aber das merke ich doch selber.«
»Einmal aggressiv, einmal depressiv«, sagte Jürgen. »Ich werde mich damit auch mal befassen.«
»Du bist doch kein Mediziner, Jürgen.«
»Was macht das schon. Man kann alles lernen. Man muß es nur intensiv lesen. Natürlich würde ich mich nicht als befähigt halten, eine Diagnose zu stellen, aber ein aufgeweckter Junge war ich immer. Ich wußte nur nicht, wohin ich den Verstand steuern sollte. Ich wollte zu vieles auf einmal machen, Georgia. Das geht nicht.«
»Und was hast du dann gemacht?«
»Das wirst du schon noch erfahren. Mit welcher Bank arbeitet ihr?«
Sie nannte sie ihm gedankenlos. Dann blickte sie auf. »Wozu willst du das wissen?« fragte sie.
»Das wirst du auch noch erfahren. Jedenfalls werde ich euch nicht auf der Tasche liegen, falls du das gefürchtet haben solltest.«
Plötzlich schämte sie sich, weil sie es manchmal tatsächlich gedacht hatte. Aber jetzt begriff sie, daß Jürgen nicht der Mensch war, den Holger ihn ihm gesehen hatte, und immer wieder hatte sie ja von ihm gehört, welch ein Bruder Leichtfuß er sei.
»Laß mich jetzt ans Steuer, Georgia«, sagte er. »Jetzt kenne ich den Weg zurück.«
»So schnell?« fragte sie verwundert.
»Ich habe ein sehr gutes Gedächtnis. Es war mir immer nützlich. Nur an die zwei kleinen weißen Wolken, die einmal zusammenstießen, hätte ich besser nie denken sollen.«
»Zwei kleine weiße Wolken«, wiederholte sie flüsternd.
»Als du mich damals zum Flugplatz brachtest. Da durfte ich dich zum Abschied küssen.«
Die Straßen waren verstopft. Die Menschen strömten in ihren Autos von ihren Arbeitsstätten heim.
»Für mich wäre das nichts, jeden Tag durch eine Stadt zu fahren«, sagte Jürgen ablenkend. »Ich brauche viel frische Luft.«
»Man sieht es dir an.«
Er warf ihr einen schrägen Blick zu. »Du hältst mich auch für einen Tagedieb.«
»Nein, das tue ich nicht.« Sie verspürte plötzlich den Wunsch, mit ihm zu sprechen, ihn zu ergründen, ohne durch Holgers abwertende oder sarkastische Bemerkungen irritiert zu werden.
»Könnten wir uns nicht irgendwo hinsetzen, wo wir ungestört miteinander reden können?« fragte sie. »Zum Laufen bin ich offengestanden zu müde.«
»Nett, daß du es vorschlägst, Georgia. Ich wollte dich auch darum bitten. Es ist wohl an der Zeit, einige Mißverständnisse und Ungereimtheiten aus dem Wege zu räumen.« Er gab sich Mühe, möglichst sachlich zu sprechen, sich nicht von seinen Gefühlen hinreißen zu lassen, mit denen er sie erschrecken konnte.
In einer kleinen Bauernstube der Waldgastwirtschaft waren sie ungestört.
»Ich möchte gern mal wieder ein Weißbier trinken«, sagte Jürgen.
»Schmeckt das?« fragte sie.
»Früher hat es mir geschmeckt.«
»Ich möchte es auch probieren.« Sie sah ihn an und lächelte, und am liebsten hätte er sie geküßt, so jung und bezaubernd sah sie aus. Manchmal hatte er in all den Jahren den Kopf über sich geschüttelt, daß er ihr Bild nicht aus seiner Erinnerung verbannen konnte. Es waren ihm doch so viel attraktive Frauen begegnet und es war durchaus nicht immer bei einem Flirt geblieben. Aber nie hatte er den Wunsch gehegt, mit einer von ihnen Jahre zu verbringen, oder gar ein ganzes Leben. Diesen Wunsch hatte nur Georgia in ihm geweckt, damals, wie auch heute.
»Warst du eigentlich öfter in Amerika?« fragte Georgia gedankenverloren.
»Sehr oft.«
»Warum hast du uns nie besucht?«
»Dafür gibt es verschiedene Gründe. Wir werden noch darüber sprechen. Jetzt erzähle mir erst, seit wann Holger krank ist.«
Sie zuckte die Schultern und erzählte ihm, was sie von den Ärzten erfahren hatte.
»Er hat nie über irgendwelche Beschwerden geklagt«, sagte sie. »Er hat mehr denn je gearbeitet. Diese Krankheit kann schleichend verlaufen, je älter der Patient ist. Und was seine Wesensveränderung betrifft, schwierig war er immer.«
»Du sagst es. Für meinen großen Bruder war ich immer der kleine Depp. So sagt man doch in Bayern. Meistens spielt ja das jüngste Kind innerhalb der Familie die Hauptrolle, aber bei uns war es anders. Holger war der Star in der Schule und auch zu Hause. Ich sage es ohne Bitterkeit, Georgia. Ich habe ihn auch bewundert, aber ich wollte nie so werden wie er. Also konnte ich ziemlich unbeachtet und unbeschwert heranwachsen. Als die Eltern dann nicht mehr da waren, begann mein Zigeunerleben. Ich hatte ja niemanden, an den ich mich halten konnte. Ich hatte immer nur den einen Wunsch, es Holger zu zeigen, daß auch der kleine Depp es zu etwas bringen könnte, und das ist mir schließlich nach harten Jahren auch gelungen.«
Er sprach nicht über all das, was er erreicht hatte. Er sagte nur mit einem flüchtigen Lächeln, daß er ein gutes Auskommen hätte.
Georgia blickte auf ihre ineinander verschlungenen Hände. »Was hat Holger mit dir gesprochen? Wie war er?« fragte sie.
»Wie immer. Aber ich habe ihm den Wind aus den Segeln genommen. Jetzt kann er nicht mehr so mit mir umspringen wie früher. Selbst dem Kranken gestatte ich das nicht«, sagte er ruhig. »Er hat jetzt noch Zeit, über sich nachzudenken, und auch über sein Leben mit euch. Er hat ein Leben lang nur an sich gedacht.«
»Er ist krank, Jürgen. Er wird sterben.«
»Aber ihr werdet leben«, sagte er ruhig, »das allein zählt für mich. Er hat gemeint, über Leben und Tod bestimmen zu können. Ich meine, er soll sich bewußt werden, was es bedeutet, mit Stoffen zu arbeiten, die Leben vernichten, und mit fantastischer Besessenheit einen genialen Geist dafür einzusetzen, die furchtbaren Waffen zu produzieren, die jedwedes Leben in dieser Welt vernichten können. Allein die Angst davor bringt doch schon viele Menschen um, und diese Angst erzeugt Aggressionen, die auch Gefahr für den Frieden bedeuten.«
»Du bist ja fast ein Philosoph«, sagte Georgia sinnend.
»Hast du denn noch nie darüber nachgedacht?« fragte er.
»Ich habe ja nie erfahren, woran er arbeitet. Nachgedacht habe ich schon und gefragt habe ich ihn auch. Aber er hat immer gesagt, daß ich davon nichts verstehe. Das Denken müsse man Klügeren überlassen. Du hast doch erlebt, wie er mich behandelte.«
»Und du hast dich nie gewehrt?«
»Wohin hätte das geführt?«
»In die Freiheit. Vielleicht zu mir, Georgia«, sagte er.
»Zu dir?«
»Du hättest mich zum glücklichsten Mann gemacht«, sagte er weich.
Sie schloß die Augen. »Daran habe ich nie gedacht, Jürgen.«
»Könntest du dich langsam daran gewöhnen, jetzt daran zu denken? Ich liebe dich.«
Seine gebräunte Hand legte sich auf ihre und sie entzog sie ihm nicht. Ein betäubendes Glücksgefühl erfüllte sie plötzlich. Längst verdrängte Gefühle erwachten in ihr.
»Ich meine es ernst, Georgia, sehr ernst. Ich bin kein Hasardeur. Und rede jetzt bitte nicht von anderen Frauen. Für mich gab es immer nur dich, und ich dachte, du hättest es begriffen damals, als die beiden kleinen weißen Wolken sich berührten, als ich dich einmal küssen durfte.«
Sie sagte nichts mehr. Sie war ganz in sich versunken, als sie gingen und er seinen Arm um sie legte, lehnte sie ihren Kopf an seine Schulter. Seine Lippen streiften ihre Stirn.
»Wenn ich mit Menschen und mit Engelzungen reden würde und hätte der Liebe nicht, so wäre ich tönend Erz oder eine klingende Schelle«, sagte Jürgen leise.
Georgia blickte zu ihm auf. »Du bist ja sogar bibelfest«, sagte sie staunend.
»Ich war sehr einsam, Georgia. Ich mußte meinen Weg suchen und es war ein steiniger Weg. Da findet man auch zu Gott, wenn er in Augenblicken der Verzweiflung Hilfe schickt. Und ich war verzweifelt, wenn ich daran dachte, welches Leben du mit einem Mann führst, der der Liebe nicht fähig ist, der nur nach Macht und Anerkennung strebt.«
»Jetzt ist er hilflos«, sagte sie leise.
»Zum Schluß sagte er etwas Gutes, Georgia. Er fragte mich, ob ich dich nie im Stich lassen würde. Und als ich ihm sagte, daß dies nie geschieht, hörte ich von ihm die Worte: Das ist gut. Ich danke dir. Zum ersten Mal sagte mein Bruder: Ich danke dir. Und ich meine, daß er doch zu der Erkenntnis gekommen ist, wieviel er dir schuldig blieb.«
*
Nadine hatte Jonas von Jürgen vorgeschwärmt und ein bißchen hatte es sie gekränkt, daß er dafür nur ein Lächeln hatte. Manchmal schien er ihr wie eine uneinnehmbare Festung. Daß Charlotte Vestris ihrem Sohn manchmal einen mahnenden Blick zuwarf, entging ihr. Sie hatte eine tiefe Zuneigung zu dieser gütigen, abgeklärten Frau gefaßt, und wenn Nadine das Bildnis von Biggi betrachtete, wurde ihr bewußt, wovor Jonas sie bewahrt hatte.
Wäre sie nicht vielleicht auch an der Scham zerbrochen, so hintergangen worden zu sein?
Als Jonas sie heimbrachte, sprach sie diese Gedanken aus.
»Sprich nicht mehr davon, Nadine«, sagte er rauh. »Denk nicht mehr daran. Dieses Kapitel ist beendet.«
Große Tränen rollten plötzlich über ihre Wangen. »Aber du vergißt es nicht«, flüsterte sie. »Für dich bin ich das törichte Mädchen, das Francesco auf den Leim gekrochen ist.«
Er lachte leise. »Du bist nicht kleben geblieben, das ist wichtig.«
»Warum sagst du nicht mal, daß ich eine blöde Gans bin. Du bist so nachsichtig. Der große Freund paßt auf, daß das dumme Mädchen nicht noch mehr Dummheiten macht.«
»Genauso ist es. Aber wie kann ich das Mädchen, das ich gerne heiraten möchte, eine blöde Gans schelten?«
So ganz nebenbei sagte er es. Aber nun weinte sie erst recht. Jonas hielt an. Es war zum Glück schon eine stille Straße.
Behutsam nahm er sie in die Arme. »Tränen spülen viel weg, Nadine. Weine dich aus. Vielleicht wirst du noch oft weinen, denn leicht wirst du es nicht mit mir haben. Ich habe nämlich ganz bestimmte Vorstellungen von einer Ehe. Ganz andere, als dein Vater hatte. Ich möchte einen Partner haben, kein Hausmütterchen, das nur mal für die Kinder da ist und das Essen immer prompt auf den Tisch stellt, wenn der Ehemann auch übelgelaunt nach Hause kommt.«
»Du bist nie schlecht gelaunt«, sagte sie.
»Hast du eine Ahnung! Aber ich lasse dir Zeit, das zu erfahren. Ich hoffe, daß ein Jahr reicht.«
»Wenn Jessica vorher heiratet, werde ich eine alte Jungfer«, sagte sie.
»Wie kommst du denn darauf?« fragte er.
»Weil das so ist. Wenn die jüngere Schwester vorher heiratet, bleibt die ältere sitzen. Das ist eine alte Weisheit.«
»Du bist manchmal wirklich ein Dummchen«, sagte er. »lch schwöre dir, daß du keine alte Jungfer bleibst.« Und dann küßte er sie stürmisch.
Eine weitere Überraschung erlebte Nadine, als sie heimkam. Aber auch Markus und Jessica konnten diese mit ihr teilen. Markus war schon aus Heidelberg zurück. Wenig später kamen Jürgen und Georgia.
Zuerst reichte Jürgen Markus die Hand, was Nadine einen Stich versetzte. Aber dann klopfte er Jonas auf die Schulter. »Wir haben uns schon kennengelernt, Jonas. Ich muß sagen, daß du gute Arbeit geleistet hast.«
Sprachloses Staunen herrschte sekundenlang. »Aus diesen beiden Männern sollte man klug werden«, sagte Georgia, immer noch nach Fassung ringend.
»Würdest du mir das bitte erklären, Jonas?« fragte Nadine.
»Das kann Jürgen besser«, sagte Jonas gelassen.
»Na, dann setzt euch mal wieder«, sagte der. »Es ist eine ganz alltägliche Geschichte. Zwei Weltenbummler treffen sich in Amerika. Beide interessieren sie sich für einen gewissen Holger Schilling und seine Arbeit. Aus verschiedenen Gründen, muß ich dazu bemerken. Aber sie kommen ins Gespräch. Und da die Mutter von Jonas in München lebt, lag es nahe, daß Jonas sich ein bißchen umhörte. Allerdings versäumte er es dann, seinen Kumpanen zu informieren.«
»Ich war dauernd unterwegs, Jürgen«, warf Jonas ein. »Stell dir die Geschichte nicht so einfach vor.«
»Alles vergeben. Ich weiß jetzt, daß du Nadine beschützen mußtest. Dafür sei dir Dank gezollt, Jonas. Eine Überraschung war es für mich, daß du ein persönliches Engagement eingegangen bist.«
»Wenn man eine reizende Nichte hat, müßte man das einkalkulieren«, sagte Jonas verschmitzt.
»Ich wußte ja nicht, daß ich so reizvolle Nichten habe«, sagte Jürgen. »Die Jahre sind dahingegangen.«
Und die Zeit ließ sich nicht aufhalten, dagegen konnte niemand etwas unternehmen und jetzt waren sie auch nicht böse darüber. Georgia wußte nun, warum Jürgen zusammengezuckt war, als der Name Vestris fiel, und auch das hatte sich in Wohlgefallen aufgelöst. Und Jonas wußte, woher Nadine ihr Temperament und ihre Impulsivität hatte. Sie lag in der Familie, nur Holger hatte davon nichts abbekommen.
Die Jüngeren fanden es wundervoll, mit Jürgen und Georgia so frei und offen sprechen zu können. Alle Probleme, die noch zu bewältigen waren, konnten sie gemeinsam aus der Welt schaffen.
Zwei Tage später machte Jürgen mit seinen hübschen Nichten den versprochenen Einkaufsbummel, während Georgia Holger besuchte, der darum gebeten hatte. Er war schwach und kaum noch ansprechbar.
Er schob Georgia die Bankmitteilung hin, die sie fassungslos betrachtete.
»Mein Bruder macht alles mit leichter Hand«, murmelte er. »Sogar die Millionen. Jetzt wartet ein gutes Leben auf dich, Georgia.«
Aber das waren die letzten klaren Worte, die er sagen konnte und dafür hatte er alle Kraft verbraucht.
Dr. Janson trat an sein Bett, als Georgia geläutet hatte. »Er hat den Kampf aufgegeben, gnädige Frau. Er wußte ihn verloren«, sagte er leise.
*
Für siebzehn Uhr war Georgia mit Jürgen, Nadine und Jessica in einem Cafe in der Innenstadt verabredet gewesen. Fast eine Stunde mußten sie auf sie warten, und sie waren schon sehr unruhig geworden.
Als sie dann kam, sah es ihr nur Jürgen an, daß eine Entscheidung gefallen war.
»Du kannst dir nicht vorstellen, was Jürgen uns alles gekauft hat«, sagten die beiden Mädchen. »Er war nicht zu bremsen. Jetzt ist er bestimmt pleite«, fügte Jessica hinzu.
»Das glaube ich nicht«, sagte Georgia leise. Dann legte sie das Schreiben von der Bank auf den Tisch.
»Holger braucht das Geld nicht mehr, Jürgen«, flüsterte sie. »Laßt uns heimfahren.«
Dann saßen sie beisammen. Jonas und Charlotte Vestris waren gekommen, und Markus war auch dabei.
Georgia hatte die Worte wiederholt, die Dr. Janson gesagt hatte. Ihr Blick schweifte in die Ferne.
»Vielleicht hätte er der Menschheit wirklich noch nützen können«, sagte sie sinnend.
»Vielleicht wird ein anderer zu Ende führen, was er begann«, sagte Jürgen. »Ich werde dieses Geld dafür zur Verfügung stellen.« Er glättete das Papier, das er voher zerknüllt hatte. Dann sah er Markus an.
Der stand auf und ging zum Fenster. »Es wird ein weiter Weg sein«, sagte Markus leise. »Ich möchte helfen, wo ich helfen kann. Nicht experimentieren. Und ich denke, daß uns nur ein Zufall helfen wird, wie schon so oft. Oder ein Wunder. Ich möchte ein Arzt werden wie Dr. Norden, und Jessica wird mir dabei helfen. Vielleicht ist es nicht der geeignete Augenblick, an die Zukunft zu denken, aber es nützt uns nichts, ein Wenn oder Aber zu erörtern. Ich meine, daß jeder sich der Gegenwart gewachsen zeigen muß, und dabei den Glauben an die Zukunft nicht verlieren darf.«
Jessica ging zu ihm und griff nach seiner Hand. Still gingen sie hinaus in die sinkende Nacht.
Jürgen fuhr sich mit der Hand durch das Haar. »Wir haben wohl einiges zu besprechen, Georgia«, sagte er.
Zurück blieben Charlotte, Jonas und Nadine. »Lassen wir jetzt mal die Gegenwart und denken wir an die Zukunft«, sagte Jonas. »Was stellst du dir vor, Nadine?«
Nadine saß neben Charlotte auf dem Sofa. Sie griff nach deren Hand und drückte sie an ihre Wange. »Ich möchte, daß wir zusammenbleiben«, flüsterte sie. »Darf ich das sagen? Mami braucht doch jetzt ein bißchen Abstand und Eigenleben.«
Tränen stiegen in Charlottes Augen. »Dann bekomme ich wieder eine Tochter«, flüsterte sie zärtlich.
»Und auf die werden wir aufpassen, Mutter«, sagte Jonas.
»lch möchte euch niemals Sorgen bereiten«, sagte Nadine. »Ich liebe euch beide.«
Im Nebenzimmer nahm Jürgen Georgia in die Arme. »Denken wir jetzt auch an die Zukunft, liebste Georgia«, sagte er verhalten.
»Laß mir noch ein wenig Zeit, Jürgen«, flüsterte sie. »Es ist wie ein Traum. Nach dem schweren Traum folgt ein schöner.«
Und darauf folgte eine glückerfüllte Wirklichkeit.
Georgia reiste mit Jürgen durch die Welt. Alle Stationen seines bewegten Lebens wollte und sollte sie kennenlernen, alles, was er aufgebaut hatte und für sie und die Kinder erhalten wollte.
Nadine und Jessica erfreuten sie dann mit einem Schulabschluß, der sich bei beiden sehen lassen konnte. Markus hatte seinen Doktor summa cum laude geschafft, und Jürgen ließ es sich nicht nehmen, ihm eine Praxis einzurichten. Und ebenso bot er Jonas eine Lebensstellung, gewiß, daß er sich den besten und zuverlässigsten Partner ausgesucht hatte.
»Bist du nicht ein wenig zu großzügig, Jürgen?« fragte Georgia nachdenklich, als diese Entscheidungen fielen.
»Es braucht ja nicht jeder einen so schweren Weg zu gehen wie ich«, erwiderte er. »Für uns ist es doch schön, wenn wir uns an dem Glück der Jungen freuen können, Georgia.«
Und viel Freude sollten sie erleben, frei von düsteren Wolken. Und wenn kleine weiße Wolken unter dem Himmel hinwegjagten, sahen sie sich lächelnd an. Sie hatten sich gefunden. Georgia wurde eingehüllt in Liebe. Und Dr. Norden konnte sich darüber freuen, daß wieder ein junger Arzt den gleichen Weg einschlug, für den er selbst sich entschieden hatte. Zu helfen, wo Hilfe gebraucht wurde, denn wirklich helfen konnte man nur dann, wenn man sich auch der Sorgen der Patienten nicht verschloß, die die Ursache so mancher Krankheit waren.