Читать книгу Dr. Norden Bestseller Paket 4 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 16

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Erst vor drei Monaten hatte die junge Kinderärztin Dr. Katja Höller ihre Praxis eröffnet, aber schon jetzt konnte sie sich über Zulauf nicht beklagen. Zum Glück hatte sie bald eine tüchtige Sprechstundenhilfe in der jungen Abiturientin Anke Braun gefunden, die Medizin studieren wollte und auf einen Studienplatz warten mußte.

Anke hatte die Gelegenheit beim Schopfe gefaßt und sich bei Katja vorgestellt, um die Zeit zu nutzen und erst einmal praktische Kenntnisse zu erwerben. Anke war knapp neunzehn und die älteste von fünf Geschwistern, ein sehr vernünftiges Mädchen, das ein Ziel hatte. So war Katja auch gewesen, und deshalb verstanden sie sich auf Anhieb.

Es gab viel zu tun in diesen Tagen. Die Windpocken gingen um, und auch einige Keuchhustenfälle traten auf. Dr. Katja Höller gewann wieder einmal die Erkenntnis, daß auch Impfungen nicht der Weisheit letzter Schluß waren.

Ein turbulenter Vormittag sollte einen aufregenden Abschluß bringen. Noch ahnte Katja nichts davon, denn Rosmarie Ebling war mit ihrem kleinen Sohn gekommen, und der war genauso temperamentvoll wie seine hübsche Mutter. Man mußte ihn ständig beschäftigen, um ihn untersuchen zu können.

»Gott sei Dank habe ich gute Nerven«, sagte die junge Mutter, »aber wenn unser zweites Kind da ist, werde ich Maxi wohl anbinden müssen.«

Der kleine, knapp zwei Jahre junge Maximilian Ebling schien das nicht lustig zu finden, er begann zu schreien. Katja beruhigte ihn mit einem Keks und der Spieluhr, die auf ihrem Schreibtisch stand.

»Was ich Sie schon immer mal fragen wollte, Frau Doktor«, sagte Rosmarie Ebling, als Maxi sich beruhigt hatte, »sind Sie eigentlich mit Marian Höller verwandt?«

Diese Frage war Katja schon einmal gestellt worden. Sie verneinte diese lächelnd.

»Scheint ein bekannter Mann zu sein«, erwiderte sie. »Ich bin schon mal danach gefragt worden.«

»Ein sehr bekannter Architekt, und er wohnt ja auch nicht weit entfernt. Deshalb bin ich darauf gekommen. Mein Mann hat jetzt geschäftlich mit ihm zu tun.«

»Nur eine Namensgleichheit«, sagte Katja, ohne die leiseste Ahnung zu haben, in welche Schwierigkeiten sie dadurch noch geraten sollte – und dies schon bald.

Anke war ins Wartezimmer gegangen. Dort hatte noch eine junge Frau mit einem Baby gewartet. Aber als sie nun die Tür geöffnet hatte, wurden Ankes Augen starr. Die Frau war verschwunden, die Tragetasche mit dem Baby jedoch stand am Boden.

Auch Anke hatte gute Nerven, aber jetzt begann sie doch zu zittern. Man ließ doch ein Baby nicht allein und sagte doch wenigstens Bescheid, wenn man schnell noch etwas erledigen mußte. Und das schlimmste war, daß sie in all dem Trubel, der an diesem Morgen herrschte, die Personalien der Mutter noch gar nicht aufgenommen hatte.

Das Kind schlummerte friedlich. Es mochte wohl drei oder vier Monate alt sein. Anke betrachtete es und überlegte. Sie wartete, bis Frau Ebling mit ihrem protestierenden Sohn ging, denn Maxi wollte jetzt noch nicht gehen. Ihn hatte die Spieldose fasziniert.

Sie war allerdings auch ganz besonders hübsch. Katja hatte sie zu ihrem dritten Geburtstag geschenkt bekommen und hütete sie als eine kostbare Erinnerung an ihre geliebte Mutter, die vor einem Jahr nach langer, schwerer Krankheit gestorben war.

Sie lauschte noch den letzten Klängen des Schlafliedchens »Guten Abend, gute Nacht« nach, als Anke mit der Tragetasche ins Sprechzimmer trat.

»Die Mutter ist nicht da«, stammelte Anke. »Es stand allein im Wartezimmer.«

»Du liebe Güte«, staunte Katja, »aber vielleicht hat sie nur schnell noch eine Besorgung gemacht, bevor die Geschäfte schließen. Es ist Mittwoch, Anke«, beruhigte sich Katja selbst, obgleich sie schon eine bange Ahnung hatte, daß es sich anders verhielt, als sie den Zipfel eines weißen Kuverts unter dem Deckchen hervorlugen sah.

Sie nahm das Baby heraus. Es war gut genährt und auch gut gekleidet. Es schlug die Augen auf und verzog den Mund zu einem Lächeln.

»Süß«, sagte Anke. »So was läßt man doch nicht im Stich.«

»Krank sieht es nicht aus«, sagte Katja und blickte auf den Umschlag. »Nehmen Sie den Kleinen mal, Anke.«

»Vielleicht ist es ein Mädchen«, meinte Anke.

»Das werden wir feststellen, aber ich glaube, daß es ein Bub ist«, sagte Katja.

»Dr. Höller«, stand auf dem Umschlag. Also war er an sie gerichtet. Hastig riß sie ihn auf, während Anke mit dem Baby scherzte, das jetzt richtig lachte.

Riesengroß wurden Katjas Augen, als sie die wenigen Zeilen las. Der Vater heißt Marian Höller. Er hat Geld genug, ich habe keines. Er soll sich an Anita erinnern.

Das war alles. »Ein starkes Stück«, sagte Katja tonlos, »anscheinend hat sie mich für Marian Höllers Frau gehalten!«

Anke schüttelte den Kopf. »Sie meinen den Architekten gleichen Namens? Das ist doch so ein Playboy.«

»Sie kennen ihn?« fragte Katja.

»Wie man so manchen kennt. Schicker Mann, flotter Wagen, dufte Bienen umschwirrren ihn.«

Anke war bei aller Ernsthaftigkeit ein Kind ihrer Zeit. Katja mußte jetzt, trotz des Ernstes der Situation, lä-cheln.

»Nun, das erklärt manches«, sagte sie. »Ich bin gespannt, was er sagt, wenn ich ihm das Kind bringe.«

»Sie wollen es ihm bringen?« staunte Anke.

»Zuerst werden wir ihn untersuchen, und dann werde ich mit Dr. Norden telefonieren. In Zweifelsfragen, Norden fragen. Er ist der netteste Kollege, den man sich wünschen kann, Anke.«

Anke nickte. »Er ist unser Hausarzt. Er war es ja auch, der mir Mut gemacht hat, mich bei Ihnen vorzustellen. Ich habe Ihnen das nur nicht gesagt, weil Ärzte untereinander ja manchmal distanziert sind.«

»Er war auch der einzige, der mir herzlich einen guten Beginn wünschte, auch seine Frau. Sie hat übrigens eine Schwester, die auch Katja heißt. Zweimal Katja, zweimal Höller, aber die beiden Namen sind ja noch öfter vertreten, ohne daß es Beziehungen gibt.«

Sie war jetzt ganz bei der Sache. Sie untersuchte das Baby. Es war sehr wund, weil es wohl lange in nassen Windeln gelegen hatte. Aber es war ein geduldiges Baby, das allerhand gewöhnt zu sein schien. Es schien sich unter diesen behutsamen Händen sehr wohl zu fühlen und gab lustige kleine Laute von sich.

»Können Sie solche Mütter verstehen?« fragte Anke leise.

»Nein, Anke. Manche Frauen wünschen sich sehnlichst Kinder und bekommen keine, manche verlieren das Kind, das sie sich ersehnt haben und kommen darüber nicht hinweg. Und dann gibt es solche, die sich eines hübschen, gesunden Kindes einfach entledigen.«

»Warum hat sie es nicht dem angeblichen Vater vor die Tür gestellt?« sagte Anke nachdenklich.

»Es muß wohl der Name Höller sein, der mich in diese Situation brachte, aber deshalb kann ich mich doch nicht umtaufen lassen.«

Anke blickte auf das Baby. »Vielleicht wäre er jetzt froh, nicht Höller zu heißen«, sagte sie. »Muß ein schöner Schock sein für einen lebenslustigen Junggesellen, plötzlich Vater zu werden.«

Das Baby verzog sein Mündchen jetzt weinerlich. »Er wird Hunger haben«, sagte Katja. »Holen Sie doch bitte Kindernahrung und ein Fläschchen aus der Apotheke. Sie werden zwar schon geschlossen haben, aber Frau Sternberg wird noch da sein. Sagen Sie aber nicht, worum es geht.«

*

Eine Stunde später läutete in Dr. Nordens Privatwohnung das Telefon. Man war gerade mit dem Mittagessen fertig, das an diesem Tag erst ziemlich spät eingenommen werden konnte. Fee Norden nahm den Hörer ab.

»Katja? Ach, Katja Höller«, sagte sie erstaunt. Und dann lauschte sie. »Natürlich können Sie zu uns kommen. Das ist ja ein Ding. Was man so alles erlebt.«

»Was ist ein Ding?« fragte Daniel.

»Jemand hat bei Katja Höller ein Baby ausgesetzt.«

»Das ist wirklich ein Ding«, sagte Daniel.

»Sie wollte sich einen Rat holen. Sie weiß nicht, wie sie sich verhalten soll.«

»Dann werden wir mal gemeinsam überlegen«, sagte Dr. Norden. Lange brauchten sie nicht zu warten. Katja kam und trug behutsam die Babytasche.

»Er schläft gerade«, sagte sie leise. »So ein liebes Kerlchen.«

Fee betrachtete das schlafende Kind.

»Und so ein süßes Kind wird ausgesetzt?« staunte sie empört.

»Es war ein Brief dabei mit dem Namen des Vaters, der zufällig auch Höller heißt«, sagte Katja.

»Jemine, doch nicht Marian Höller?« fragte Dr. Norden.

»Sie kennen ihn auch? Ich bin schon ein paarmal darauf angesprochen worden, ob ich mit ihm verwandt bin.«

»So selten ist der Name ja nicht«, warf Fee ein. »Es verwirrt vielleicht nur ein bißchen, weil er in der gleichen Gegend wohnt.«

Katja reichte Dr. Norden den Brief. Der runzelte die Stirn. »Sagt nicht viel aus. Könnte auch ein Racheakt sein«, meinte er.

»Wie meinen Sie das?« fragte Katja bestürzt.

»Nun, Marian Höller ist ein gefragter Mann, sehr beliebt bei Frauen. Vielleicht hat er eine mal nicht so gewürdigt, wie sie es sich vorstellte, und dann bekam sie ein Kind von einem anderen, der sie sitzenließ. Immerhin hat sie das Kind etwa drei Monate behalten, bevor sie auf den Gedanken kam, Marian Höller als Vater zu ­nennen und ihm das Kind zuzuspielen.«

»Sie denken logisch«, sagte Katja, »aber vielleicht mußte sie diesen Marian Höller erst suchen. Es ist doch öfter so, daß Männer nach einem Abenteuer ohne Adressenangabe verschwinden.«

»Das ist auch logisch gedacht«, sagte Fee. »Nun, man wird hören, was Marian Höller dazu sagt.«

»Sie meinen, daß ich ihm das Kind einfach bringen sollte?«

»Es wäre der einfachste Weg, die Wahrheit herauszubringen.«

»Die Wahrheit kann man auch leugnen«, meinte Katja. »Und was dann?«

»Dann kommt das Kind in ein Heim, und bald werden sich kinderlose Elternpaare darum reißen, es zu adoptieren«, sagte Daniel Norden.

»Zuerst wird man nach der Mutter suchen«, warf Fee ein.

»Wie es aussieht, hat sie sich klammheimlich aus dem Staube gemacht«, meinte Daniel. »Es handelt sich um ein namenloses Kind. Wer weiß, ob der Name Anita stimmt.« Er schob die Augenbrauen zusammen. »Jedenfalls wird es für Frau Höller ein schöner Schock sein.«

»Ich denke, er ist nicht verheiratet«, sagte Katja.

»Ich spreche von seiner Mutter. Eine sehr vornehme Frau«, erwiderte Daniel.

»Aber sie würde ihrem Sohn ins Gewissen reden, wenn es sich um sein Kind handelt«, meinte Fee dazu. »Jedenfalls muß Klarheit geschaffen werden.«

»Warum muß ich ausgerechnet Höller heißen!« sagte Katja seufzend. »Dann werde ich mal mein Heil versuchen.«

»Soll ich Hilfestellung leisten?« fragte Fee spontan.

»Das ist liebgemeint, aber es sähe komisch aus«, erwiderte Katja. Sie blickte auf das schlafende Baby. »Ich würde ihn am liebsten behalten, aber ich kann es mir nicht leisten. Sie verstehen ja sicher, wie es ist, wenn man eine Praxis gerade erst eingerichtet hat und allein zurechtkommen muß. Wenn Anke bald einen Studienplatz bekommen sollte, was ich ihr wünschen muß, weiß ich nicht, was ich dann für eine Hilfe bekommen werde.«

»Mit Anke kommen Sie gut aus?« fragte Daniel.

»Bestens. Sie wird mal eine sehr gute Ärztin werden. Ja, eine ständige Hilfe von dieser Qualität wäre schon der absolute Glücksfall. Jedenfalls war es mit ihr ein sehr guter Beginn.«

Aber Probleme werden nicht ausbleiben, dachte Dr. Norden. Er kannte das ja. Als engagierter Arzt wurde man mit allen möglichen Schicksalen konfrontiert.

Katja Höller bekam jetzt eine Kostprobe davon. Sie mußte erst suchen, bis sie das Haus von Marian Höller fand.

Es lag als Flachbau versteckt hinter hohen Hecken. Dann war es ein seltsames Gefühl, den eigenen Namen zu lesen. Auf ihr Läuten kam eine Stimme durch die Sprechanlage. »Was wünschen Sie bitte?«

Lieber Gott, dachte Katja, wie wird man es nur verstehen, wenn ich meinen Namen nenne.

»Ich möchte Herrn Marian Höller sprechen. Mein Name ist Katja Höller.«

Nichts folgte als ein schnelles Atmen, dann surrte der automatische Türöffner. Als Katja den Weg zum Haus ging, drückte sie die Tragetasche mit dem Baby unwillkürlich an sich. Das Haus lag vor ihr, großzügig, ge­nial geschnitten, mit vielen Fenstern und warmen Holzverschalungen. Man spürte sofort, daß der Architekt ungewöhnliche Ideen hatte.

In der Tür stand eine schlanke, mittelgroße Frau mit silberweißem Haar. Ihr Anblick nahm Katja ein wenig von der beklemmenden Angst. Und dann sah sie auch etwas wie Angst in den warmen grauen Augen der Älteren.

»Sie sagten, daß Sie Katja Höller heißen?« fragte Ulrike Höller heiser.

»Dr. Katja Höller, Kinderärztin«, stellte sich Katja vor. »Eine zufällige Namensgleichheit, die mich allem Anschein nach in eine recht fatale Situation gebracht hat.«

»In welche? Ich bin die Mutter von Marian Höller. Mein Sohn ist zur Zeit noch nicht anwesend.«

»Dann werde ich besser später vorsprechen, oder…«

Doch in diesem Augenblick begann das Baby zu weinen. Ulrike Höller trat ein paar Schritte näher und warf einen verwunderten Blick in die Tragetasche. »Das ist ja ein Baby«, murmelte sie.

»Ja, es wurde heute in meiner Praxis zurückgelassen«, erwiderte Katja.

»Und warum kommen Sie hierher?« fragte Ulrike Höller erregt.

»Es lag ein Schreiben dabei, daß Marian Höller der Vater des Kindes sei.« Nun war es heraus, und Ulrike Höllers Augen weiteten sich. »Kommen Sie bitte herein«, sagte sie leise. »Das muß ich erst verdauen.«

Aber ihre Miene war keineswegs zornig oder abweisend. Katja folgte ihr. Nie zuvor hatte sie ein solches Haus gesehen, auch in der Innenausstattung nicht. Sie war fasziniert.

»Bitte, nehmen Sie Platz«, sagte Ulrike Höller. »Ich benachrichtige meinen Sohn, daß er kommt.«

Katja hatte zu einem Widerspruch keine Zeit, die Dame des Hauses war schon hinausgeeilt. Sie nahm das Kind in den Arm, und schon lachte der Kleine wieder.

*

Marian Höller hatte gerade eine geschäftliche Besprechung mit Hans Ebling, dem Ehemann der netten Rosmarie, der ebenfalls ein heiteres Naturell besaß. Marian mochte es, wenn man auch wichtige Dinge nicht so tierisch ernst behandelte. Er war in seiner Art lässig und doch irgendwie imponierend. Man sah ihm an, daß er viel Sport trieb, und er war auch sportlich gekleidet. Groß und breitschultrig war er, hatte dunkelbraunes Haar, dunkle Augen, eine schmale Nase und einen gutgeschnittenen Mund, der einen spöttischen Zug hatte.

Hans Ebling hatte einen guten Kontakt zu ihm gefunden, was nicht jeder von sich sagen konnte, mit dem Ma­rian Höller zu tun hatte.

»Darf ich Sie bei dieser Gelegenheit mal fragen, ob Sie mit Frau Dr. Höller verwandt sind?« fragte Hans.

»Wer ist denn das?« fragte Marian erstaunt.

»Unsere Kinderärztin. Sie hat sich vor ein paar Monaten hier niedergelassen. Eine reizende Frau. Katja Höller. Sie hat ihre Praxis in der Veilchenstraße.«

»Mir völlig unbekannt, aber ich habe ja keine Kinder.«

In diesem Augenblick klingelte das Telefon.

Hans verabschiedete sich schnell, als Marian ungeduldig sagte: »Ist es denn wirklich so dringend, Mama? Ich habe noch viel zu tun.«

Doch er vernahm, daß es außerordentlich dringend sei, und daß sie es ihm am Telefon nicht sagen könne. Es sei eine sehr private Angelegenheit.

Vielleicht wieder die liebe Verwandtschaft, die wegen Onkel Herberts Grundstück mauscheln wollen, dachte er, und an diesem Grundstück war ihm sehr viel gelegen.

»Erschrecken Sie bitte nicht, wenn mein Sohn explodiert«, sagte Ulrike Höller indessen zu Katja. »Er beruhigt sich auch sehr schnell wieder und läßt vernünftig mit sich reden.«

Aber Marian explodierte nicht. Er war starr vor Staunen, als er Katja mit dem Baby im Arm sah.

»Frau Dr. Höller«, stellte seine Mutter vor. »Leider nicht verwandt mit uns.«

»Gerade wurde ich gefragt, ob ich mit Ihnen verwandt sei«, brachte Marian etwas mühsam über die Lippen. »Komischer Zufall, daß Sie hier sind. Wollen Sie bauen?«

Ulrike konnte ein leises Lachen nicht unterdrücken, und Marian sah sie deshalb irritiert an.

»Das liegt doch nahe. Ich bin ja schließlich Architekt«, sagte er.

»Ich komme wegen des Kindes«, sagte Katja verlegen.

»Wieso?« fragte er konsterniert.

»Jemand behauptet, daß Sie der Vater sind«, erklärte sie.

»Ich?« Dann schwieg er und starrte sie sprachlos an. »Ich habe ja Humor«, brummte er, »aber der darf nicht zu weit gehen.«

»Dieses Baby wurde bei mir im Wartezimmer zurückgelassen. Die Mutter, oder sagen wir besser die Frau, die es gebracht hatte, war verschwunden. Aber es war dieser Brief in der Tasche, wenn Sie den bitte lesen wollen.«

Er sah seine Mutter an, fragend, verwirrt, irgendwie sehr jungenhaft wirkend.

»Ja, lies ihn nur«, sagte Ulrike ruhig. »Ich habe schon damit gerechnet, daß mal so was daherkommt.«

Er las den Brief. Plötzlich verfinsterte sich seine Miene.

»Na, was ist mit der Anita?« fragte seine Mutter ironisch.

»Ich möchte dies jetzt nicht erörtern. Ich will wissen, was man wegen des Kindes unternehmen kann. Man kann es mir doch nicht einfach ins Haus bringen.«

»Ich habe die Pflicht, Anzeige zu erstatten«, erklärte Katja. »Selbstverständlich müßte ich dann auch den Brief den Behörden übergeben. Deshalb dachte ich nach Rücksprache mit Herrn Dr. Norden, besser erst mit Ihnen selbst zu sprechen. Es ist ein reizender, gesunder Junge.«

»Ich kann nicht mit Kindern umgehen, mit einem Baby schon gar nicht«, sagte Marian heftig. »Ich bin nicht verheiratet und habe auch nicht die Absicht, mich in solches Joch zu begeben. Ich bin beruflich sehr viel unterwegs…«

»Aber du hast eine Mutter«, fiel ihm Ulrike ins Wort, »und die wird nicht gestatten, daß das Kind herumgestoßen wird.«

Jetzt sah Marian seine Mutter nahezu entsetzt an.

»Aber Mama, was fällt dir ein! Ich bin ja bereit, für das Kind zu zahlen, wenn es wirklich meines ist, was erst einmal festgestellt werden müßte.« Sein Blick wanderte zu Katja. »Das ist doch möglich nach den Erkenntnissen der modernen Medizin. Jedenfalls war die Anita, die ich im vorigen Urlaub in Griechenland mal flüchtig kennenlernte, kein Kind der Traurigkeit. Ich bin doch nicht blöd, ihr einfach ein Kind abzunehmen, weil sie keinen Dümmeren findet. Das Datum der Geburt müßte sich ja aus der Geburtsurkunde ergeben, und danach könnte man feststellen, ob ich als Vater überhaupt in Frage komme.« Seine Stimme klang jetzt eisig.

»Leider gibt es keine Geburtsurkunde, und nicht einmal den Namen des Kindes hat sie erwähnt«, sagte Katja.

»Daraus müßte eine intelligente Frau wie Sie, und als Ärztin müßten Sie ja intelligent sein, entnehmen, daß etwas faul ist«, platzte er zornig heraus.

Doch er fing einen mahnenden Blick seiner Mutter auf und entschuldigte sich sofort.

»Ich mache einen Vorschlag zur Güte«, sagte Ulrike Höller. »Wir behalten das Kind vorerst hier, und du wirst dich besinnen, wo diese Anita wohnte und wie sie mit dem Nachnamen heißt.«

»Ich weiß weder das eine noch das andere«, sagte er barsch. »Ich weiß nicht mal mehr, ob ich tatsächlich mit ihr geschlafen habe. Es ist ja bekannt, daß der griechische Wein manchmal eine fatale Wirkung hat.«

Seine Offenheit erstaunte und amüsierte Katja. Er war schon eine ganz besondere Art von Mann.

»Du könntest dich dezenter ausdrücken, Marian«, sagte seine Mutter.

»Ach was, eine Ärztin hört ganz andere Sachen. Du weißt, daß ich acht Tage verreisen muß, Mama. Meinetwegen tu deinen verdrängten großmütterlichen Gefühlen keinen Zwang an und hüte das Baby. Ich werde mich inzwischen mal bei meinen Freunden umhorchen, ob sie sich an eine Anita erinnern können und mehr von ihr wissen als ich. Ich denke nicht daran, daß ich mich zu einer Vaterschaft bekenne, für die es keinerlei Beweise gibt.«

»Schau ihn dir doch mal an«, sagte Ulrike, »Minchen wird hingerissen sein. Deine Wiege haben wir noch, und deine Babysachen habe ich auch aufgehoben. Es wird erst einmal reichen. Und vielleicht ist Frau Dr. Höller so freundlich und informiert mich ein bißchen, womit man heutzutage Babys füttert.«

»O heiliger Vater«, stöhnte Marian, »ich werde einfach überrollt!«

Doch Katjas Herz war bereits seiner Mutter zugeflogen. Sie fand diese Frau umwerfend.

»Sie sind sehr großherzig, Frau Höller«, sagte sie bewundernd.

»Sagen wir mal lieber tolerant, und das muß man bei so einem Sohn sein«, erwiderte Ulrike mit einem flüchtigen Lächeln, dem aber doch zu entnehmen war, daß sie ihrem Sohn nicht ernsthaft böse sein konnte.

»Sie ist großherzig«, sagte Marian. »Sie hätte einen besseren Sohn als mich verdient.« Er sah Katja durchdringend an. »Wir werden über diese Angelegenheit noch sprechen müssen, Frau Dr. Höller. Ich muß mich erst beruhigen und mit meiner Mutter reden. Darf ich Sie bitten, diese Angelegenheit nicht publik zu machen? Es wird wohl ausgehen wie das Hornberger Schießen, und dann wäre viel Lärm um nichts entstanden.«

Katja hatte sich erhoben, als Ulrike die Arme nach dem Baby ausstreckte.

»Ich werde Windeln und Babynahrung besorgen«, erklärte sie. »Wenn es Ihnen recht ist, komme ich dann zurück und bringe Ihnen eine Liste. Meinen Sie, daß Sie zurechtkommen?«

»Es ist zwar dreiunddreißig Jahre her, daß dieses Mannsbild ein Baby war, aber ich glaube nicht, daß ich alles vergessen habe«, sagte Ulrike mit einem feinen Lächeln.

»Ich werde jetzt unserem Minchen Bescheid sagen, daß sie die Sachen aus der Kammer holt.«

»Ich habe noch eine dringende Besprechung«, erklärte Marian unsicher.

»Geh nur, wir können uns heute abend in aller Ruhe unterhalten. Vielleicht hast du dein Gedächtnis dann aufgefrischt. Augenblicklich bist du überflüssig.«

»So fühle ich mich auch«, gab er brummig zurück, aber er begleitete Katja zur Tür.

In seinen Augen blitzte es spöttisch, als er sie ansah.

»Ich hoffe, daß Sie den Eindruck gewonnen haben, daß ich zum Vater nicht tauge, Frau Doktor«, sagte er heiser.

»Mit dieser Einstellung sollte man allerdings auch Sorge tragen, daß man nicht Vater wird«, erwiderte sie sarkastisch. Schnell setzte sie sich in ihren Wagen und fuhr davon, und er blickte ihr mit engen Augen nach.

Katja dachte an Ankes Bemerkung. Ja, er würde wohl umschwärmt sein von duften Bienen, ohne sich jedoch ernsthaft engagieren zu wollen. Aber sie konnte sich gut vorstellen, daß er eben unwiderstehlich auf Frauen wirkte, wenn es nicht um ernsthafte Probleme ging. Nun, seine Mutter war ihr um so sympathischer, und sie beeilte sich mit ihren Besorgungen, um wieder bei ihr zu sein, bevor Marian Höller heimkam. Und das gelang ihr auch.

Sie wurde von Minchen empfangen, einem rundlichen, freundlichen grauhaarigen Wesen, das sie mit strahlenden Augen anblickte.

»Sie sind die liebe Frau Doktor, die uns das Wutzerl gebracht hat«, sagte Minchen. »Mei, es ist ja so was lieb’s. Grad anschauen möchte man es immerzu.«

Und das Baby schien höchst zufrieden mit seiner neuen Umgebung zu sein. In einer hübschen geschnitzten Wiege brabbelte es schon munter vor sich hin.

»Sie haben sich aber beeilt«, sagte Ulrike Höller. Sie blinzelte ein bißchen. »Sie wollen Marian wohl aus dem Wege gehen?«

»Nun, so ist es nicht«, erwiderte Katja. »Ich möchte mich nur nicht mit ihm anlegen, bevor er nicht mit Ihnen gesprochen hat.«

»Er war immer ein eigensinniger Bursche«, sagte Ulrike Höller. »Aber als Mutter kann ich mich nicht über ihn beschweren, auch wenn er das sagt. Sein Vater hat ihn immer als einen Mutterhammel bezeichnet.«

Katjas Miene wurde nachdenklich. »Ja, man könnte seine Einstellung zu Frauen damit erklären, daß er keine findet, die Ihnen gleicht«, sagte sie.

»Und inwiefern?« fragte Ulrike mit leichtem Erstaunen.

»Eine Frau, die schön ist und doch herzenswarm, die sanft, aber auch energisch ist, die ihre Meinung sagt, aber auch tolerant ist.«

»Sie machen mir reizende Komplimente.«

»Es ist nur die Wahrheit. In Psychologie war ich immer ganz gut«, erwiderte Katja lächelnd.

»Als Kinderärztin muß das wohl auch sein«, sagte Ulrike. »Was Marian und das Kind anbetrifft, so bin ich mir nicht sicher, ob er wirklich der Vater ist, aber ich werde mich mit ihm eingehendst darüber unterhalten. Jedenfalls kann man solch ein kleines Würm­chen nicht einer verständnislosen Welt aussetzen, und da zu fürchten steht, daß Marian sich tatsächlich niemals zu einer Heirat entschließt, käme ich so wenigstens zu einem Enkelkind.«

»Sie wollen damit sagen, daß Sie das Kind behalten wollen?«

»Ja, selbstverständlich.«

»Und wenn es dadurch zu einem Krach zwischen Ihnen kommt?«

»Ich kenne Marian besser als jeder andere. Er hat mehr Gemüt, als er zeigen will, und er würde mir niemals einen Wunsch abschlagen. Ich muß ihm nur klarmachen, daß es mein Wunsch ist, das Kind zu behalten. Ich bin jedoch nicht von meinem Sohn abhängig, wenn wir auch über die finanzielle Seite sprechen wollen.«

»Sie würden eine große Verantwortung übernehmen«, sagte Katja nachdenklich.

»Dessen bin ich mir bewußt, und ich kann genauso eigensinnig sein wie mein Sohn. Wenn er meckert, nehme ich Minchen und das Kind und ziehe mich aufs Land zurück. So klein würde mein Sohn dann werden!« Sie deutete mit den Fingern eine winzige Größe an.

Immer tiefer wurde in Katja die Bewunderung für diese Frau. »Sie sind wirklich wundervoll«, sagte sie leise.

Ulrike seufzte leise. »Wenn Marian doch nur mal an eine Frau wie Sie geraten würde, Katja. Ich darf Sie doch mit dem Vornamen ansprechen? Es ist zu komisch, wenn man den eigenen Namen zu jemand anderen sagt. Aber vielleicht sind wir doch um einige Ecken miteinander verwandt. Wir müssen da mal nachforschen. Sie sind mir nämlich überhaupt nicht fremd.«

»Sie mir auch nicht.«

Sie hätte noch ewig mit dieser Frau plaudern können, aber sie hatte auch noch Hausbesuche zu machen. So erklärte sie Ulrike, wann das Kind gefüttert werden mußte und wie die Mahlzeiten zubereitet werden mußten.

»Er wiegt jetzt sechs Kilo. Geht man von einem Geburtsgewicht von drei Kilo aus, könnte er drei bis vier Monate alt sein. Seine Reaktionen lassen eher auf vier Monate schließen.« Sie machte eine kleine Pause. »Ich überlege nur, warum diese Frau das Kind jetzt erst hergibt.«

»Mir wäre es auch lieber, wenn ich die Tatsachen wüßte. Wir müssen dem Kind ja auch einen Namen geben.«

Katja überlegte. »Wie wäre es mit Ulrich? Ulli klingt doch sehr nett.«

Ulrikes Augen wurden feucht. »Darauf wäre ich nicht gekommen«, flüsterte sie.

»Es ist naheliegend, wenn ein Kind eine so wundervolle Großmama geschenkt bekommt«, sagte Katja leise.

»Haben Sie keine Mutter mehr?« fragte Ulrike stockend.

»Nein. Ich habe sie sehr geliebt«, flüsterte Katja.

»Bitte, kommen Sie doch oft zu mir, Katja, so oft es Ihnen möglich ist. Ich werde Sie bestimmt sehr oft brauchen.«

»Der Kleine ist sehr wund, das muß behandelt werden«, erklärte Katja »aber sonst fehlt nichts.«

»Hat er vielleicht besondere Kennzeichen? Marian hat ein Muttermal auf dem rechten Schulterblatt.«

»Nein, er hat keine besonderen Kennzeichen. Und wirkliche Ähnlichkeiten zeigen sich meist erst im späteren Alter.«

»Er hat dunkle Augen, aber sie sind anders als die von Marian. Ich werde Ihnen bei Gelegenheit auch mal Kinderbilder von Marian zeigen. Aber wer immer diese Frau auch sein mag, und ob es die Wahrheit ist, die sie niederschrieb, das Kind hat ein Zuhause. Allerdings wird es wohl einige Schwierigkeiten geben, bis er auch als lebendiges Menschlein registriert ist.«

Katjas Blick schweifte in die Ferne. »Er soll sich an Anita erinnern, heißt es in dem Brief«, sagte sie leise. »Irgendwie scheint es doch möglich zu sein, daß die Mutter Anita heißt, aber eine andere Frau das Kind in meine Praxis brachte. Ich muß einmal Frau Ebling fragen ob sie sich an die Frau erinnert. Sie war mit ihrem Jungen zuletzt im Wartezimmer, bevor Anke das Kind fand.«

»Ebling? Mein Sohn steht mit einem Mann dieses Namens in enger geschäftlicher Verbindung. Er hat eine Bauträgerfirma.«

»Frau Ebling war es, die mich fragte, ob ich mit Ihnen verwandt bin, sonst hätte ich noch länger rätseln müssen, wer Marian Höller ist und wo ich ihn finden kann. Aber Dr. Norden kennt Sie auch.«

»Der gute Dr. Norden, ja, auf den kann man sich auch verlassen. Er hat mich von meinem Heuschnupfen befreit. Viele Jahre habe ich mich damit herumgequält. Er wird uns auch helfen die Schwierigkeiten aus dem Wege zu räumen, und er wird auch ein emstes Wort mit Marian reden. Er kann nämlich genauso sarkastisch sein wie mein lieber Sohn. Sie haben manche Ähnlichkeit miteinander, nur hat Dr. Norden eben beizeiten die richtige Frau gefunden.«

»Eine bezaubernde Frau«, sagte Katja.

»Das sind Sie auch, Katja«, sagte Ulrike.

Katja errötete.

»Kein Vergleich mit Fee Norden«, sagte sie verlegen.

Das nicht«, meinte Ulrike lächelnd. »Sie haben braunes Haar und violette Augen, Fee hat blondes Haar und topasfarbene Augen. Vom Typ her verschieden, aber es darf schon gestattet sein zu sagen, daß jede sehr apart ist. Ärztinnen sind meist nicht so attraktiv, und wenn sie es doch sind, sehr arrogant. Sie beide sind das nicht. Haben Sie viel zu tun?«

»Sie erinnern mich daran, daß ich heute noch einiges tun muß«, erwiderte Katja rasch.

»Sehen wir uns morgen?«

»Wenn Sie es wünschen?«

»Ja, sehr«, erwiderte Ulrike. »Ich bin immer zu Hause. Und Marian fährt morgen weg.«

»Und du, Ulli, bist schön brav«, sagte Katja zu dem Baby.

Und der Kleine lachte.

*

Marians wichtige Besprechung war persönlicher Natur, und es war eine sehr attraktive Frau, mit der er jetzt eine ziemlich erregte Debatte führte.

»Nein, ich kann dich nicht mitnehmen nach Straßburg, Jana«, sagte er gereizt. »Es sind äußerst wichtige Konferenzen, und ich hätte nicht eine Minute Zeit für dich.«

»Du nimmst eine andere Frau mit«, stieß die schwarzhaarige Schönheit wütend hervor.

»Ich nehme gar keine Frau mit. Ich habe andere Sorgen«, sagte er. »Und damit du endlich Ruhe gibst, sollst du es auch wissen. Man will mir ein Kind anhängen.«

»Wer will das?« fragte sie.

»So eine Urlaubsbekanntschaft. Ich kann mich überhaupt nicht mehr an sie erinnern. Das Kind ist etwa drei Monate alt, und meine Mutter will es partout behalten. Nun weißt du Bescheid. Ich lasse mich nicht festnageln, von keiner Frau.«

Das klang hart, und sie zuckte zusammen. »Was heißt festnageln? Ich bin nicht versessen auf ein Kind. Ich finde es auch albern, daß ein Mann in deinem Alter am Rockzipfel der Mutter hängt, um das einmal gesagt zu haben.«

Seine Augenbrauen schoben sich zusammen. »Du hast es gesagt, das genügt. Und jetzt werde ich dir mal etwas sagen! Es gibt keine Frau, die meiner Mutter auch nur das Wasser reichen könnte. Sie wäre heilfroh, wenn ich ihr mal eine Frau ins Haus brächte, aber ich habe dafür noch keine für würdig befunden. Ist das deutlich genug?«

Ihre Augen sprühten wütende Blitze. »Ja, das war sehr deutlich. Scher dich zum Teufel, Marian!«

Er drehte sich um und ging, und damit hatte Jana Frey nicht gerechnet. Sie hatte geglaubt, ihn schon ganz fest in den Händen zu haben, jetzt war sie dieser Illusion beraubt.

»Eine wie die andere«, murmelte Marian, als er sich ans Steuer seines Wagens setzte. Und damit war auch Jana für ihn erledigt.

Katja machte ihre Hausbesuche. Anke hatte die Adressen gewissenhaft aufgeschrieben, denn manche kannte Katja noch nicht. Und ein Name war dabei, der ihr noch ganz unbekannt war. »Wacker, Kind hat Fieber«, hatte Anke geschrieben.

Katja bekam Gewissensbisse. Um ein fieberndes Kind hätte sie sich eher kümmern müssen als um das Baby. Jetzt fuhr sie sofort dorthin.

Es war die moderne Wohnanlage, die nicht so recht in das Bild des Vorortes paßte, wie Katja wieder feststellte. Aber diese Wohnsilos schossen wie Pilze aus der Erde, weil der Boden knapp und teuer war.

Sie suchte den Namen Wacker und fand ihn im obersten, dem siebten Stockwerk. Sie drückte auf die Klingel. Die Tür öffnete sich summend. Der Lift war unten. Im siebten Stockwerk stand eine schmale Frau in einer offenen Tür. Ihr verweintes Gesicht versetzte Katja in einen heillosen Schrecken.

»Dr. Höller«, sagte sie, »ich konnte leider nicht früher kommen.« Doch diese Entschuldigung kam nur zögernd über ihre Lippen.

»Susi hat Fieber«, flüsterte die junge Frau, zu der der Name Wacker gar nicht passen wollte. Sie wirkte wie ein Häufchen Unglück.

Die Wohnung war hübsch. Das Kinderzimmer einfach, aber zweckmäßig eingerichtet. Das kleine Mädchen, etwa drei Jahre alt, lag mit fieberheißen Bäckchen im Bett und begann gleich zu weinen, als Katja nach ihrer Hand griff.

»Brauchst keine Angst zu haben«, sagte Katja. »Ich will doch nur mal schauen, was dir fehlt.«

»Will zu Omi. Omi soll nicht im Himmel sein«, flüsterte das Kind.

Ein trockenes Schluchzen schüttelte die junge Frau Wacker. Katja drehte sich zu ihr um.

»Wir haben doch nicht gedacht, daß ein so kleines Kind sich das so zu Herzen nehmen würde«, flüsterte sie. »Mein Mann ist zu seiner Mutter gefahren.«

»Aber sie soll wiederkommen«, schluchzte Susi. »Meine liebe Omi soll nicht tot sein.«

Eine kleine Erkältung und dazu ein großer seelischer Kummer hatten das Fieber verursacht. Katja war das schnell klar. Gegen die Erkältung gab es bald Hilfe, aber gegen den Kummer? Manchmal vergaßen Kinder gar nicht so schnell, wie man allgemein annahm.

»Die Omi war doch sehr krank«, sagte Frau Wacker leise.

»Sie war immer lieb und hatte kein Fieber«, sagte die Kleine.

»Aber wenn sie sehr krank war, hatte sie auch große Schmerzen«, sagte Katja behutsam, »und das wollte der liebe Gott nicht. Deshalb hat er sie dann zu sich genommen.«

»Damit sie keine Schmerzen mehr hat?« fragte die Kleine.

»Ja, deshalb«, erwiderte Katja. »Und jetzt schaut sie vom Himmel herab und wäre sehr traurig, wenn du nicht bald gesund wirst, Susi. Dann macht sich die Mami nämlich auch Sorgen und wird auch noch krank.«

Vielleicht hatte sie die richtigen Worte gefunden. Susi sah sie nachdenklich an.

»Ich will nicht, daß die Mami krank wird«, sagte sie. »Will endlich ein Brüderchen haben.«

»Ja, dann mußt du ganz besonders lieb zu deiner Mami sein und darfst nicht weinen. Wenn man ein Brüderchen haben will, muß man fröhlich sein.«

»Aber das Brüderchen hat keine Omi mehr.«

»Dafür hat es eine liebe große Schwester. Wie alt bist du denn schon, Susi?«

»Bald vier Jahre, und alle Kinder im Kindergarten haben Brüder oder Schwestern, bloß ich nicht.«

Katja sah Frau Wacker an und las in ihren Augen tiefste Verzweiflung. Sie faßte sich ein Herz und sagte: »Jetzt, wo die Omi im Himmel ist, wird sie den lieben Gott bitten, daß du bald ein Brüderchen bekommst, Susi. Sie will doch nicht, daß du traurig bist.«

»Weißt du das genau?« fragte das Kind.

»Ja, das weiß ich genau. Du nimmst jetzt brav die Tropfen, und dann schläfst du schön. Und wenn ich morgen wiederkomme, bist du wieder gesund.«

»Versprichst du es?«

»Du mußt schon mithelfen, Susi. Wenn du weinst, dauert es länger mit dem Gesundwerden.«

Susi beruhigte sich. »Kommst du morgen bestimmt wieder?« fragte sie.

»Ja, ganz bestimmt. Gleich morgen früh.«

»Dann sagst du zur Mami, daß sie auch nicht mehr weinen soll, gell?«

»Das sage ich ihr gleich.«

Susi schluckte brav ihre Tropfen, nahm ihren Teddy in den Arm und drehte sich zur Seite. »Wiedersehen«, murmelte sie.

»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll, Frau Doktor«, sagte Heidi Wacker, als sie das Kinderzimmer verlassen hatten. »Jetzt weiß ich, daß ich das Kind erst recht traurig gemacht habe mit meiner Heulerei. Aber Sie müssen wissen, daß ich mich mit meiner Schwiegermutter wunderbar verstanden habe. Das ist doch so selten, und ausgerechnet sie muß so früh sterben.«

»Es liegt alles in Gottes Hand«, sagte Katja leise.

Heidi Wacker nickte. »Ein zweites Kind wünschen wir uns schon lange, aber ich hatte schon zwei Fehlgeburten. Jetzt bin ich wieder schwanger und habe nur Angst, daß ich durch die Aufregungen das Kind wieder verliere.«

»Dann denken Sie an das Kind und daß Sie es behalten wollen, Frau Wacker«, sagte Katja. »Gehen Sie zu Dr. Norden. Er wird Ihnen noch besser raten können als ich. Ich habe mich wirklich ausschließlich auf Kinder konzentriert.«

»Haben Sie selbst welche?« fragte Heidi Wacker.

»Nein, und ich werde auch keine bekommen. Sehen Sie, das war für mich die Entscheidung, allein bleiben zu wollen. Aber Sie haben schon ein Kind. Ich weiß nicht, warum Sie die Fehlgeburten hatten.«

»Immer durch die Herumzieherei. Mein Mann wurde dauernd versetzt. Er ist so ein Computerfachmann. Ich verstehe davon überhaupt nichts. Heinz macht sich keine Gedanken. Für ihn ist alles erklärbar. Die Materie hat ihre Gesetze und die Natur auch. Wenn ich eine Fehlgeburt hatte, sagte er nur, daß es eben nicht sein sollte.«

»Vielleicht ist das sogar eine gesunde Einstellung«, sagte Katja.

Heidi blickte zu Boden. »Und als seine Mutter starb, sagte er, daß ich darüber nicht weinen solle. Ihr sei vieles erspart geblieben, da sie ein entbehrungsreiches Leben hatte. Er sieht alles so schrecklich nüchtern.«

»Vielleicht wollte er Sie nur auf seine Art trösten«, sagte Katja. »Manche Männer geben sich ganz anders als sie denken.«

Und seltsamerweise kam ihr dabei Marian Höller in den Sinn.

»Sie verstehen es besser zu trösten, Frau Doktor«, sagte Heidi Wacker. »Halten Sie mich bitte nicht für wehleidig, aber wenn so etwas daherkommt…«

»Ich verstehe das sehr gut, Frau Wacker. Und das Kind fühlt, wie traurig Sie sind, deshalb ist es für Susi auch besonders schlimm. Mit dem Fieber wird es morgen wieder besser sein. Und Sie melden sich bitte einmal bei Dr. Norden an, er wird sehr viel Verständnis für Ihre Sorgen zeigen und Ihnen bestimmt helfen.«

»Wenn Sie es sagen! Es ist so schwer, den richtigen Arzt zu finden. Verstehen Sie es bitte nicht falsch, aber ich habe schlechte Erfahrungen gemacht.«

»Das tut mir leid«, erwiderte Katja. »Ich bedaure es sehr, wenn Kollegen sich nicht das Vertrauen ihrer Patienten erwerben können. Das bringt unseren Beruf jetzt immer öfter in ein schiefes Licht.«

»Sie haben mir jedenfalls sehr geholfen, und das in jeder Beziehung«, sagte Heidi Wacker.

Die anderen Hausbesuche verliefen problemlos. Katja war froh, daß sie sich dann ausruhen konnte. Aber ihre Gedanken wanderten zu dem kleinen Ulli, zu Ulrike Höller und das liebe Minchen.

Marian wollte sie ausschließen, aber ganz gelang ihr das nicht. Immer wieder fragte sie sich, wie wohl die Unterredung zwischen Mutter und Sohn verlaufen würde.

*

Seiner Mutter gegenüber benahm sich Marian allerdings immer ritterlich. Ulrike wunderte sich, daß er so früh heimkam, denn sie hatte richtig vermutet, daß er sich mit einer Frau getroffen hätte. Mit irgendeiner Frau, denn es herrschte ein Tabu über Ma­rians Damenbekanntschaften. Er sprach nie darüber, erwähnte nie einen Namen und hatte seiner Mutter auch noch niemals ein weibliches Wesen vorgestellt. Es war bezeichnend für ihn und seine Einstellung zu Frauen, daß auch das Haus tabu für diese war.

Ulrike wußte nichts von Jana und von keiner anderen vor ihr. Manchmal kam ihr das lächerlich vor, aber nur einmal hatte sie gewagt, Marian eine diesbezügliche Frage zu stellen, dann nie wieder, denn er hatte knapp und klar gesagt, daß diese Episoden ihr gemeinsames Leben nicht be­rühren würden und sollten.

Das Baby schlief satt und zufrieden, und Marian schien den Gedanken zu hegen, daß es nicht mehr im Hause sei.

»Hat sie es wieder mitgenommen?« fragte er beiläufig.

»Wer sie?« fragte Ulrike unwillig zurück.

»Diese Ärztin.«

»Du scheinst schon jegliches Unterscheidungsvermögen verloren zu haben«, sagte Ulrike anzüglich.

»Wie meinst du das?«

»Katja ist eine gebildete Frau.«

»Habe ich das bestritten, Mama?«

»Sprich bitte nicht in abwertendem Ton von ihr«, sagte sie ruhig.

Er runzelte die Stirn. »Sie ist also ganz nach deinem Geschmack. Aber gib dir keine Mühe, sie mir auch schmackhaft zu machen.«

»Ich werde mich hüten. Sie wäre viel zu schade für einen so flatterhaften Mann wie dich«, sagte Ulrike gelassen. »Und sie hat auch nicht das geringste Interesse an dir. Sie wird nur kommen, wenn du nicht da bist, das haben wir schon verabredet.«

Auf eine ihm unerklärliche Weise traf ihn das hart, aber er zuckte mit keiner Wimper.

»Das Kind ist also hier. Man hört es gar nicht«, brummte er.

»Es schläft.«

»Es wird nicht immer schlafen«, maulte Marian.

»Natürlich nicht. Es ist ein gesundes Kind.« Sie ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Sie wußte, daß es völlig falsch sein würde, auf ihn einzureden oder ihm gar Vorwürfe zu machen.

»Das ist wirklich eine fatale Geschichte, Mama, aber ich werde sie klarstellen und in Ordnung bringen. Du hättest nicht solche Andeutungen vor Frau Dr. Höller machen sollen.«

»Was für Andeutungen meinst du denn?«

»Meine Weibergeschichten. Sie muß ja denken, daß ich ein Blaubart bin.«

»Und das wäre dir wohl doch peinlich«, meinte sie amüsiert.

»In solcher Situation steht man dämlich da.«

»Allerdings, wenn man sich nicht einmal an die Namen der Frauen erinnert, mit denen man sich amüsiert hat«, meinte Ulrike gleichmütig. »Und dabei kann es dann zu solchen Folgen kommen. Ich habe dir nie hineingeredet, aber ich meine doch, daß es an der Zeit wäre, daß du mal vernünftiger würdest.«

»Man braucht schließlich einen Ausgleich«, murmelte er.

Sie warf ihm einen schrägen Blick zu. »Hast du nie vor einer Frau Respekt gehabt?« fragte sie nachdenklich.

»Natürlich gibt es welche. Mit denen fängt man doch keinen Flirt an, und die anderen machen es einem eben leicht.« Er schlug sich an den Kopf. »Anita, das war eine Betriebsnudel, wenn ich mich recht erinnere. Ich glaube, Arndt ist öfter mit ihr herumgezogen.«

»Arndt? Er ist verheiratet und hat zwei Kinder«, sagte Ulrike bestürzt. Die Rede war von ihrem Neffen Arndt Höller, und in ihren Augen war er ein durch und durch seriöser Mann.

»Meine Güte, auch Ehemänner wollen sich mal amüsieren«, sagte Marian. »Und schließlich ist er mit mir verreist, weil er Tapetenwechsel brauchte. Ralf und Frank waren auch dabei. Warum soll es ausgerechnet an mir hängenbleiben? Du darfst es nicht als Tatsache betrachten, Mama.«

»Immerhin regt es dich an, darüber nachzudenken, welchen Gefahren ein Junggesellenleben ausgesetzt ist, noch dazu, wenn man ziemlich betucht ist.«

»Bisher haben alle meine Gspusis meine Lebenseinstellung akzeptiert. Ich habe keiner was versprochen oder vorgegaukelt. Bei mir herrschen gewisse Spielregeln, und die Damen halten sich daran.«

»Bis auf Anita, und ich verstehe eine Frau, daß sie von der Wut gepackt wird, wenn sich ein Mann überhaupt nicht rührt.«

»Wieso hätte ich mich rühren sollen? Ich kannte weder ihren Nachnamen noch ihre Adresse. Das ist die Wahrheit, ich habe dich nie belogen.«

»Nein, du hast dich immer nur in diskretes Schweigen gehüllt. So weit, so gut. Vielleicht ist sie plötzlich in eine Notlage gekommen. Sie schreibt ja, daß sie kein Geld hat.«

»Himmelherrgott noch mal, warum hat sie sich dann nicht direkt an mich gewandt?«

»Vielleicht dachte sie, daß Katja mit dir verwandt oder gar deine Frau ist.«

»Und sie wollte gleichzeitig Rache nehmen«, sagte er. »Wenn alles stimmt, muß ich besoffen gewesen sein.«

»Ich kann es mir schlecht vorstellen, wie du dich in einem solchen Zustand benimmst«, sagte Ulrike sehr kühl, »aber reden wir jetzt über das Kind. Ich werde es adoptieren.«

Er riß die Augen auf. »Das geht zu weit«, stieß er heiser hervor. »Ich verbiete es dir, das einzuleiten, bevor die ganze Angelegenheit geklärt ist!«

»Du hast mir gar nichts zu verbieten! Ich habe dir deine Weibergeschichten auch nicht verboten. Jeder Mensch muß nach seiner Fasson selig werden und so handeln, wie er es für richtig befindet. Und was ich für richtig befinde, verantworte ich auch. Es ist ein liebes, süßes Kind und ich habe endlich etwas, woran ich mich herzlich freuen kann. Um es deutlich zu sagen, Marian, ich habe es satt, mir Gedanken über dich und deine Weiber zu machen. Für heute habe ich genug gesagt. Denk darüber nach, wenn du jetzt abwesend bist.«

»Du willst ein Kind akzeptieren, dessen Mutter sich mit einer x-beliebigen Urlaubsbekanntschaft einläßt?« fragte er erregt.

»Dazu gehören immer zwei, und in diesem Fall könntest du die x-beliebige Bekanntschaft gewesen sein, die von der Frau auch nicht höher eingeschätzt wurde, als du sie einschätztest. Und jetzt hast du einen Denkzettel bekommen. Recht geschieht dir.«

Ein Zucken lief über sein Gesicht. »Mama, kein Mensch kennt mich so gut wie du«, sagte er verhalten.

»Eben, und deshalb will ich nicht glauben, daß du ein Kind verleugnen würdest, dessen Vater du bist.«

Er lief im Zimmer umher. »Gut, ich werde dazu stehen, wenn es bewiesen ist, vorher aber nicht. Ich werde Arndt und meine lieben Freunde Ralf und Frank in die Zange nehmen.«

»Aber das Kind bleibt hier. Merk es dir«, sagte sie. »Und wenn du dich auf die Hinterbeine stellst, gehe ich mit dem Baby und Minchen in mein Haus zurück, und du kannst sehen, wie du zurechtkommst.« Und dies alles sagte sie ruhig und in ihrem liebenswürdigen Ton, ohne jede Erregung oder Aggressivität.

Marian wurde blaß. Er wußte genau, was die Glocke geschlagen hatte, wenn sie so bestimmt sprach. Er wußte es von Kindheit an. Sie hatte ihn nie geschlagen. Blicke und Worte hatten genügt, um ihm die Grenzen zu weisen.

Dann hörten sie das Weinen des Kindes. Er zuckte zusammen, seine Mutter sprang auf. »Ulli muß die Flasche bekommen und umgewindelt werden«, sagte sie.

»Ulli?« staunte Marian.

»Den Namen hat Katja vorgeschlagen «

»Ihr scheint ja schon direkt intim zu sein«, knurrte er.

»Ich fände es komisch, Frau Höller zu ihr zu sagen.«

»Jetzt fehlt bloß noch, daß wir mit ihr verwandt sind.«

»Mich würde es nur freuen. Mal eine liebe Verwandte täte mir ganz gut.«

Dann eilte sie hinaus. Aber Minchen hatte die Flasche schon zubereitet und wiegte den Kleinen in ihrem Arm.

»So was liab’s«, murmelte sie immer wieder.

*

»Ich bin gespannt, was Katja erreicht hat«, sagte Fee Norden am nächsten Morgen. Daniel sollte es bald erfahren, denn Katja rief ihn an.

»Herr Höller wird es wohl auf eine Vaterschaftsfeststellung ankommen lassen«, meinte sie, »aber seine Mutter ist einzigartig. Sie war sofort bereit, das Baby zu behalten.« Und dann sprach sie noch über Frau Wacker und bat Daniel, ihr Mut zu machen, wenn sie zu ihm kommen würde.

»Das tue ich nur, wenn es sinnvoll erscheint«, erwiderte er. »Ich bin nicht dafür, nutzlose Hoffnungen zu wecken.« Er machte eine Pause. »Einen Augenblick bitte, Frau Kollegin, Loni ruft mir gerade etwas zu!« Und dann erfuhr Katja, was Loni ihm zugerufen hatte. Marian Höller war nämlich in der Praxis erschienen.

*

»Sie ahnen sicher schon, weswegen ich komme, Dr. Norden«, erklärte Marian ohne Vorrede. »Sie wissen ja Bescheid, was mir da ins Haus geschneit ist.«

»Geschneit kann man nicht sagen«, lächelte Daniel Norden. »Wir haben den schönsten Frühling seit vielen Jahren.«

»Das Wetter kann so trügersich sein wie Frauenherzen«, sagte Ma­rian. »Welche Möglichkeiten gibt es, festzustellen, ob ich der Vater dieses herzigen Babys bin, in das meine Mutter bereits vernarrt ist. Ich bin bei ihr abgemeldet.«

»Beleidigt?« fragte Daniel Norden mit einem versteckten Lächeln.

»Unser ganzes Familienleben wird durcheinandergebracht.«

»Sie sollten bedenken, daß Sie sehr viel unterwegs sind«, sagte Daniel, »und Ihre Mutter ist sehr viel allein.«

»Ihr gefiel es doch so. Sie wollte keine Geselligkeiten. Sie hockt am liebsten zu Hause und liebt auch ­keinen Trubel um sich herum. Aber für das Baby reißt sie sich die Beine aus.«

»Ein Baby erfreut nun mal das Herz von guten Müttern«, sagte Dr. Norden. »Aber kommen wir zur Sache. Natürlich können wir mittels einer DNA-Analyse eine Vaterschaft feststellen.«

Marian starrte grimmig vor sich hin. »Sollte ich mich noch jemals mit einer Frau einlassen, werde ich zuerst ihre genauen Personalien feststellen«, knurrte er. »Aber reden Sie doch mal mit meiner Mutter. Schildern Sie ihr, wie sich ein Kind später entwickeln kann und welche Erbanlagen es haben könnte.«

»Und Sie meinen, daß dies etwas nützen würde? Auch die eigenen Kinder entwickeln sich manchmal ganz anders, als die Eltern erhoffen. Und ich weiß aus Erfahrung, daß Adop­tivkinder ganz in eine Familie hineinwachsen können und den Personen, an denen sie hängen, ähnlich werden. Wir haben ja einen Adoptivsohn in der Familie.«

»Sie?« staunte Marian.

»Mein Schwiegervater und seine Frau. Mario ist ein adoptiertes Kind, von einfachen Eltern stammend, die italienische Gastarbeiter waren. Er ist ein hochintelligenter Junge, und niemand in unserer Familie möchte ihn missen. Ich habe ihn mal aus dem Wasser gefischt, nachdem seine Eltern schon ertrunken waren. Er war nichts als ein hilfloses Kind, das überleben wollte und Hilfe brauchte. Wenn jemand Ihrer Mutter ausreden soll, das Kind zu behalten, sind Sie bei mir an der falschen Adresse, Herr Höller.«

»Sie sind wohl auch schon von meiner Namensschwester beeinflußt«, sagte Marian grimmig. »Na gut, wir werden den Dingen seinen Lauf lassen. Einfach so lasse ich mir kein Blut abzapfen. Außerdem kenne ich meine Blutgruppe. Sie ist Null, und mein Muttermal hat der kleine Bursche nicht aufzuweisen.«

Dr. Norden sah ihn nachdenklich an. »Haben Sie sich noch nie ein Kind gewünscht?« fragte er.

»Nein.«

»Und wenn Sie die richtige Frau finden würden, würden Sie sich dann auch keins wünschen?«

»Es gibt keine Frau, mit der ich auf die Dauer auskommen könnte«, erwiderte Marian. »Und ich hasse Konflikte. Eine Ehe ist keine Lovestory auf Lebenszeit. Ich erlebe das täglich in meinem Bekanntenkreis. Und der meiste Krach entsteht durch die Kinder. Wenn meine Mutter mit meinem Vater nicht einer Meinung war, dann auch nur meinetwegen. Von ihm bezog ich nämlich Schläge, was sie mißbilligte. Ich wäre überhaupt nicht fähig, ein Kind zu schlagen.«

»Sie gleichen Ihrer Mutter mehr, als Sie denken«, sagte Dr. Norden.

»Solche Frauen wie meine Mutter gibt es heutzutage nicht mehr«, sagte Marian.

»Ich muß protestieren. Ich kenne einige, die so sind. Meine Frau zum Beispiel.«

»Sie haben Mordsglück«, sagte Marian. »Ihre Frau würde ich auch sofort nehmen.«

»Da würden wir aber ganz heftig aneinandergeraten«, meinte Daniel mit leisem Lachen. »Es gibt auch andere.«

»Fangen Sie bloß nicht auch mit dieser emanzipierten Frau Doktor an, die der Engel in Person zu sein scheint. Sie kann nämlich ganz schön giftig sein. Ich muß jetzt starten, denn ich werde in Straßburg erwartet. Kümmern Sie sich um Mama, damit sie sich nicht so sehr übernimmt.«

Und schnell verabschiedete er sich. Kopfschüttelnd blickte ihm Dr. Norden nach. Wenn man aus dem Burschen nur klug werden würde, dachte er.

*

Mit verbissener Miene fuhr Marian nach Straßburg. Im Hotel angekommen, führte er gleich mehrere Telefongespräche.

Das erste jedoch führte er mit seiner Mutter. Er sei gut angekommen, und ob es ihr gutgehe, wollte er wissen. Er konnte nicht sehen, wie zufrieden sie lächelte. Ja, ihr gehe es gut und dem Baby auch.

Nun, seinetwegen hätte sie das nicht zu betonen brauchen, aber er machte keine Bemerkung darüber.

»Ich denke doch nur an dich«, sagte er.

»Bis eine schwarzhaarige Schöne dein Händchen hält«, sagte sie anzüglich.

»Wieso schwarzhaarig?«

»Ich kenne deinen Typ zur Genüge. Mach dir um uns keine Sorgen. Uns geht es bestens. Jetzt kommt auch Katja gerade.«

»Na, dann will ich nicht länger stören«, murrte er.

»Dummer Bub!« murmelte sie, als sie den Hörer aufgelegt hatte.

Katja bekam ein liebes Lächeln geschenkt. »Sie sehen müde aus, Katja«, sagte Ulrike Höller.

»Es war ein anstrengender Tag«, erwiderte die junge Ärztin.

»Dann trinken wir Tee«, schlug Ulrike vor. »Einverstanden?«

»Ich nehme dankend an«, sagte Katja. »Wie geht es Ulli?«

»Prächtig. Er trinkt und schläft. Anscheinend hat er turbulente Zeiten hinter sich, von denen er sich ausruhen muß.«

»Ich habe mit Frau Ebling gesprochen«, sagte Katja. »Sie schildert die Frau, die das Kind brachte, als schmal und blond.«

»Nicht Marians Typ«, stellte Ulrike fest.

»Wie würden Sie seinen Typ bezeichnen?«

»Dunkel, exotisch, flott!«

»Das träfe auf die Frau zu, die sich schnell von der Gartentür entfernte, als ich ausstieg«, sagte Katja.

Ulrikes Augenbrauen hoben sich leicht. »Es war niemand bei mir, und es hat auch niemand geläutet.«

»Sie ging zu einem grünen Sportwagen, der weiter entfernt parkte«, sagte Katja.

»Soso, aber ich kenne Marians Umgang nicht. Abgesehen von den Schulfreundinnen wurde mir nie eine vorgestellt. Nachgelaufen sind sie ihm alle. Er scheint eine enorme Anziehungskraft zu besitzen. Aber wechseln wir das Thema. Ihm würde es schon gar nicht gefallen.«

»Hat er jetzt eine andere Einstellung zu Ulli gewonnen?« fragte Katja.

»Nein, das nicht, aber wohl zu den Frauen. Es war ein heilsamer Schock, wie ich meine«, erwiderte Ulrike lächelnd. »Gehen wir zu Ulli, damit Sie sehen, daß ich alles richtig mache.«

Katja konnte sich überzeugen, daß Ulli schon nicht mehr so wund war.

»Das ist ja fast ein Wunder«, sagte sie.

»Wir windeln ihn auch alle zwei Stunden. Manchmal wacht er gar nicht auf dabei«, erwiderte Ulrike stolz.

»Sie dürfen ihn aber nicht zu sehr verwöhnen.«

»Schauen Sie ihn doch an, Katja, wie friedlich er schläft. Er fühlt sich wohl. Minchen würde ihn natürlich am liebsten die ganze Zeit schaukeln, aber das habe ich ihr verboten. Ich denke, daß er bisher in einer sehr lauten Umgebung war und die Ruhe genießt. Er muß wohl viel Schlaf nachholen.«

»Das könnte möglich sein«, gab Katja zu.

»Ich habe übrigens die Kinderbilder von Marian zurechtgelegt. Und Ulli habe ich auch fotografiert. Wenn ich die Bilder habe, können wir ja vergleichen. Aber ich muß gestehen, daß ich bisher nicht viel Ähnlichkeiten feststellen konnte. Marian war schon mit sechs Wochen so ein Brocken.«

»Wieviel wog er bei der Geburt?« fragte Katja.

»Acht Pfund. Er hat mir ziemlich zu schaffen gemacht, aber damals machte man nicht solch Getöse. Es wurde nichts davon gesagt, was man essen oder nicht essen dürfe. Auch nicht davon, wieviel das Kind wiegen solle bei der Geburt. Und Ultraschall und so was gab es schon gar nicht. Vielleicht ist das jetzt gar nicht so gut, was alles gemacht wird. Meinen Sie nicht, daß die werdenden Mütter verunsichert werden?«

»So möchte ich das nicht sagen«, sagte Katja. »Man kann beizeiten feststellen, ob ein Kind möglicherweise nicht normal entwickelt ist und dann noch eine Geburtenunterbrechung vornehmen.«

Ulrike sah sie ernsthaft an. »Ich frage mich dann nur, warum immer noch geschädigte Kinder oder gar Totgeburten auftauchen. Ich bin der Meinung, daß sich die Natur nicht ins Handwerk pfuschen läßt und manches eher schadet als nützt. Es kommt aber wohl auch immer auf den Arzt an, wie gewissenhaft er ist.«

»Sie sagen es«, erwiderte Katja.

Und dann läutete es.

»Minchen ist beim Kochen«, sagte Ulrike. »Entschuldigen Sie bitte.«

Sie ließ aber die Tür offen, und Katja hörte, wie eine helle Frauenstimme sagte: »Mein Name ist Jana Frey. Kann ich bitte Marian sprechen?«

»Mein Sohn ist verreist«, erwiderte Ulrike.

»Wenn das stimmt, können wir uns bei dieser Gelegenheit einmal kennenlernen, Frau Höller. Ich bin schon seit einiger Zeit mit Marian befreundet und habe es sehr bedauert, daß wir einander noch nicht vorgestellt wurden.«

»Wenn Marian das unterlassen hat, wird er wohl seine Gründe dafür gehabt haben«, erwiderte Ulrike in einem so eisigen Ton, wie Katja ihn bei dieser Frau nicht für denkbar gehalten hätte.

»Vielleicht war er auch nur besorgt, daß wir einander nicht verstehen würden«, sagte Jana.

»Das kann möglich sein. Ich habe jetzt keine Zeit.«

»Sind Sie vielleicht mit Marians neuer Freundin beschäftigt?« fragte Jana dreist. »Ich sah vorhin, wie sie das Haus betrat. Aber Sie können Ihrem Sohn sagen, daß man mich so leicht nicht los wird. Und ich lege nicht den geringsten Wert darauf, mich mit Ihnen gut zu stellen. Ich habe gewisse Rechte.«

Ulrike schnappte nach Luft. Das konnte Katja freilich nicht sehen.

»Falls Sie auch noch mit einem Kind daherkommen, bitte schön«, sagte Ulrike dann aber geistesgegenwärtig. »Ich kann aber meinen Sohn nicht veranlassen, Sie deshalb zu heiraten. Ein Kind haben wir schon, und um dieses muß ich mich kümmern, wie auch die Ärztin, die Sie wohl irrtümlich als Freundin meines Sohnes bezeichnet haben. Aber ich werde das Datum des heutigen Tages in meinem Kalender anmerken, damit später mögliche Zweifel nicht aufkommen können. Wie war doch Ihr Name? Jana Frey, wenn ich richtig hörte.«

»Genau«, sagte Jana mit einem frivolen Lächeln. »Sie werden mich bestimmt noch näher kennenlernen, Frau Höller.«

»Das bezweifle ich. Ich bestimme nämlich, wen ich näher kennenlernen möchte, nicht mein Sohn.« Und dann begann Ulli laut zu schreien, so, als wüßte er, daß er sich bemerkbar machen müsse.

»Tatsächlich ein Baby«, sagte Jana konsterniert. »Ich dachte, das wäre mal wieder so ein Gag von ihm.«

»Nun wissen Sie Bescheid«. sagte Ulrike. Und da kam Dr. Norden.

»Dr. Norden«, flötete Jana mit liebenswürdigster Miene. »Welche Überraschung!«

Auch für den Arzt war es eine, wenn anscheinend auch keine angenehme.

Jana war vor noch nicht langer Zeit als Patientin zu ihm gekommen, mit einer Lappalie, für die sie keinen Arzt gebraucht hätte. Er ahnte jetzt den Grund. Aber sie mußte sich wohl oder übel verabschieden, und Ulrike atmete auf, als sie die Tür hinter ihr zumachen konnte.

»Ihnen ist diese Dame also auch bekannt«, stellte sie spöttisch fest.

»Sie suchte mich vor ein paar Wochen auf, empfohlen von Herrn Höller«, erwiderte er. »Angeblich litt sie unter Magenverstimmung, und sie erkundigte sich auch beiläufig nach Ihrem Befinden, Frau Höller.«

»Was Sie nicht sagen! Hoffte sie, daß ich im Sterben liege?« fragte Ulrike drastisch. »Ich erinnere mich, daß ich eine Grippe hatte und Marian recht besorgt war.«

»Sie wollte mich ausfragen«, erklärte Dr. Norden, »sie tat sehr mitfühlend.«

»An ihr wird Marian wohl noch zu knabbern haben«, sagte Ulrike ironisch. »Aber sie wird auch nicht mehr erreichen als andere vor ihr. Sein Vater war übrigens genauso, aber ich muß sagen, daß er ein guter und treuer Ehemann wurde.«

»Er hat die richtige Frau gefunden«, sagte Dr. Norden lächelnd.

»Ich hoffe, daß Marian auch die richtige Frau findet«, sagte sie gedankenvoll. Sie blickte nach oben und gab ihm einen Wink, ihr ins Wohnzimmer zu folgen.

»Katja ist hier«, flüsterte sie.

Er lächelte hintergründig. »Und Sie meinen, daß sie die Richtige wäre?«

»Sie haben es erfaßt.«

»Sie ist keine so diplomatische Eva wie Sie, Frau Höller.«

»Das weiß ich«, sagte Ulrike seufzend. »Für mich wäre es die richtige Tochter. Solch eine Tochter habe ich mir gewünscht.«

»Dann wäre der Sohn zu kurz gekommen«, bemerkte Dr. Norden.

»Es hätte ihm sicher gutgetan.«

»Da muß ich widersprechen.«

»Warum?«

»Weil er Sie sehr liebt, sonst wäre er wohl schon einer berechnenden Frau auf den Leim gekrochen. Lassen Sie ihm nur Zeit. Er ist jetzt ein gestandener Mann und hat seine Erfahrungen gesammelt. Er weiß, daß Sie sich jetzt auf das Baby konzentrieren und ist sicher irgendwie eifersüchtig. Aber er kennt die Frauen und wird nicht aus Trotz in eine Falle tappen. Versteifen Sie sich aber nicht auf Katja. Sie ist ganz in ihrem Beruf engagiert.«

»Und von Marian gar nicht beeindruckt«, murmelte Ulrike.

*

Momentan war Katja von Zorn auf Marian erfüllt. Das also war die Sorte Frauen, die er bevorzugte. Die Art, wie Jana geredet hatte, genügte ihr. Wenn er solche Frau heiratete, würde er sich nie zu dem Kind bekennen, da konnte es seine Mutter noch so gut meinen. Aber vielleicht war diese Anita genauso gewesen und hatte ihm das Kind tatsächlich nur unterschieben wollen. Das gab es schließlich öfter.

Sie betrachtete den Kleinen, der jetzt nackt auf dem Wickeltisch lag und keck sein Köpfchen hob. Sie konnte nicht begreifen, daß eine Mutter sich eines so hübschen, gesunden Kindes entledigen konnte.

Wenn eine Frau, die verzweifelt, allein und arm war, ihr Kind schon kurz nach der Geburt aussetzte, war das eher zu verstehen. Und es blieb die Frage, warum sie Marian das Kind erst jetzt gebracht hatte, warum man es ihr in die Praxis brachte.

Nun kamen Dr. Norden und Ulrike Höller. »Hallo, Kollegin«, sagte Da­niel heiter.

»Hallo, Kollege«, lächelte sie.

»Der Kleine macht sich ja prächtig«, fuhr Daniel fort. »Ich würde sagen, daß er vier Monate alt sein müßte.«

»Das würde mit dem Urlaub hinkommen«, erklärte Ulrike, und Katja mußte wieder ihre Gelassenheit und Offenheit bewundern.

»Er kann schon richtig lachen«, sagte Katja, und das tat Ulli dann auch sofort. Und dann brabbelte er und gab die ulkigsten Töne von sich.

»Frau Wacker war übrigens schon bei mir«, erklärte Dr. Norden dann beiläufig. »Ich habe sie zu Dr. Leitner geschickt und er bestätigt, daß eigentlich alles in Ordnung sei. Sie dürfte nur nicht so ängstlich sein.«

»Ich werde ihr gut zureden«, sagte Katja. »Vielleicht sollte man auch mal mit Herrn Wacker sprechen, daß er alles nicht gar zu realistisch betrachtet.«

Minchen brachte Ullis Fläschchen, und Dr. Norden verabschiedete sich. Er mußte auch noch ein paar Krankenbesuche machen. Katja konnte noch bei Ulrike bleiben, und da wurden dann die Kinderbilder von Marian betrachtet.

Ein bildhübscher kleiner Junge war er gewesen, und schon als Einjähriger zeigte er reichlich Selbstbewußtsein.

»Er hat sich nie gern fotografieren lassen und immer gleich die Stirn gerunzelt und die Lippen zusammengepreßt«, sagte Ulrike lächelnd.

Ihre größere Aufmerksamkeit widmete Katja jedoch den Babyfotos. Sie konnte jedoch keine direkte Ähnlichkelt mit Ulli feststellen und fragte sich dann ernsthaft, ob sie nach Gründen suchte, Marian aus der Verantwortung zu entlassen.

»Wie werden Sie sich verhalten, wenn es bewiesen wird, daß er nicht der Vater ist?« fragte sie nachdenklich.

»Das wird wohl ziemlich lange dauern«, erwiderte Ulrike, »und bis dann wird Ulli ganz zu uns gehören.«

»Sie sind sehr zuversichtlich«, meinte Katja skeptisch.

»Ich habe halt auch meine Marotten, und wahrscheinlich wird nie genau bewiesen werden, wer Ullis Vater ist und wer für ihn zu sorgen gedenkt.«

»Es sei denn, seine Mutter besinnt sich und will das Kind zurückhaben oder gar nach einer gewissen Zeit die Heirat damit erzwingen.«

»Dazu wird sich Marian niemals bereitfinden, und ich denke, daß solche Frauen mit Geld zu beschwichtigen sind.«

Ein paar Minuten herrschte Schweigen, dann fragte Ulrike zusammenhanglos: »Würden Sie mir ein wenig von Ihrer Kindheit erzählen, Katja?«

Katja blickte auf die Uhr. »Es ist schon ziemlich spät geworden«, erwiderte sie ausweichend. »Ich muß noch ein paar kleine Patienten besuchen. Wenn ich jetzt nicht aufbreche, rede ich mich fest.«

Sie scheint etwas nicht sagen zu wollen, überlegte Ulrike später. Besteht da vielleicht doch eine Verwandtschaft, über die sie nicht sprechen will? Sie überlegte, wer von ihres Mannes Brüdern oderinm Frage kommen könnte, aber alle, die sie kannte, waren recht ordentlich verheiratet, wenngleich nicht ganz nach ihrem Geschmack. Sie ließ solchen Gedankengängen nicht viel Spielraum, als ihr in den Sinn kam, wieviel Höllers es geben mochte, mit denen sie gewiß nicht verwandt waren. Allein im Telefonbuch waren an die zwanzig zu finden.

*

Mit einem Höller hatte sich Marian für den nächsten Tag verabredet. Er hatte seine geschäftlichen Besprechungen in Straßburg schnell hinter sich gebracht. Sie waren ohnehin nicht nach seinem Geschmack verlaufen.

Dr. Arndt Höller, seines Zeichens Syndikus eines Großunternehmens. war gern bereit, seinen Cousin Marian zu treffen, auch wenn er dazu nach Baden-Baden fahren mußte. Er vermutete, daß Marian mal wieder dem Spielcasino einen Besuch abstatten wollte, und da Marian meistens Glück im Spiel hatte. war Arndt nicht abgeneigt, es ihm gleichzutun. Außerdem herrschte in seiner Ehe mal wieder dicke Luft, weil er sich geweigert hatte, die Pfingstferien bei seinen Schwiegereltern zu verbringen. Er war von allen Höllers, die verwandt miteinander waren, Marian am ähnlichsten, sechs Jahre älter als dieser, aber auch ein gutaussehender Mann. Seine Frau Hella stand solcher Ähnlichkeit aber von Anfang an miß­trau­isch gegenüber, was auch zu gewissen Spannungen in einer an sich recht harmonischen Ehe führte.

Arndt wollte nur nicht bei jeder Gelegenheit zu den Schwiegereltern fahren, die die beiden Kinder dann so maßlos verwöhnten, daß denen für wenigstens vierzehn Tage nicht mehr Herr zu werden war, und das Endergebnis bestand dann darin, daß Hella von ihm mehr Autorität verlangte.

Daß Marian nicht nach einem Spielbankbesuch zumute war, erfuhr Arndt jedoch sehr schnell. Er schnappte nach Luft, als Marian ihn fragte, ob er sich an Anita erinnere.

»Anita? Du willst doch nicht sagen, daß du noch in Verbindung mit ihr stehst, daß möglicherweise was Ernstes daraus geworden ist?« fragte er konsterniert.

»Ich weiß nicht mal ihren Nachnamen, geschweige denn, wo sie wohnt«, erklärte Marian. »Ich dachte, du könntest mir weiterhelfen.«

»Warum, wenn ich fragen darf?«

»Das erzähle ich dir später. Hattest du was mit ihr?«

»Ich? Bist du wahnsinnig? Ich verbringe zwar gern mal ein paar Tage ohne Frau und Kinder, aber ich lasse mich doch nicht mit einem Partygirl ein. Da wird man schneller aufs Kreuz gelegt, als man denkt «

»Mich will sie aufs Kreuz legen«, knurrte Marian. Und dann erzählte er Arndt die Geschichte mit dem Baby.

Dem blieb die Luft weg. »Das ist ein Ding!« stöhnte er. »Und deine Mutter macht da einfach mit? Bei uns wäre die Hölle los«

»Du bist ja auch verheiratet und hast schon zwei Kinder. Ich will das doch nicht auf dich abwälzen, Arndt. Ich will nur wissen, woran du dich erinnerst.«

»Daß sie eine flotte Biene war, daran kann ich mich erinnern, aber Frank und Ralf können das wohl besser. Sie hatte doch so eine Freundin dabei, ein ziemlich farbloses Mädchen. Erinnere dich doch, oder hast du solchen Verschleiß, daß alles weggewischt ist?«

»Mit Urlaubsbekanntschaften hatte ich es nie«, erwiderte Marian. »Laß mich mal nachdenken. Hieß dieses Mauerblümchen nicht Anna?«

»Genau. Anita und Anna. Anna, die Gouvernante, hatte Frank sie getauft, aber nachher hat er sich gut mit ihr verstanden. Und Ralf hat sich mit Anita amüsiert, während du mit einer Amerikanerin geflirtet hast, die einen eifersüchtigen Mann hatte.«

»Das war doch gar nichts«, sagte Marian wegwerfend. »Aber ich hatte auch nichts mit dieser Anita.«

»Manchmal hast du Alleingänge unternommen, Marian«, stellte Arndt nachdenklich fest. »Definitiv kann ich mich nur erinnern, daß die beiden nach Frankfurt geflogen sind, zumindest mit der Maschine, die Frankfurt als Ziel hatte. Frank und Ralf haben sie zum Airport gebracht. Nach unserem Abschiedsabend! Du warst ziemlich benebelt, und es ging dir nicht gut. Ich hatte dich ins Bett geschleppt, erinnerst du dich nicht? Liebe Güte, wie könntest du dich erinnern!«

»Ich war nie im Leben so betrunken«, sagte Marian.

»Frank und Ralf hatten gewettet, daß sie es schaffen würden. Sie haben dir Whisky in den Wein geschüttet. Ich war der Einzige, der einigermaßen nüchtern war.«

»Whisky in den Wein geschüttet, das werden sie büßen«, sagte Marian wütend. »Ich werde sie in die Zange nehmen. Vielleicht haben sie auch gewettet, daß sie mir das Kind anhängen können.«

»Das ginge wohl doch zu weit«, sagte Arndt empört.

»Ich habe lange nichts von beiden gehört«, überlegte Marian. »Früher sind sie öfter mal nach München gekommen, seit dem Urlaub nicht mehr.«

»Frank war lange in England, das weiß ich, und Ralf hat die Niederlassung in Rom übernommen. Geschäftlich telefoniere ich öfter mal mit ihm. Er ist auf dem Karrieretrip, und außerdem schwerverliebt in eine Römerin.«

»Das soll mir wurscht sein. Ich werde schon herausfinden, wer mir den Streich gespielt hat und möglicherweise der Vater von Ulli ist.«

Amdt starrte ihn an. »Ulli? Wieso Ulli?«

»Frau Dr. Katja Höller hat diesen Namen für richtig befunden.«

Amdt schüttelte konsterniert den Kopf. »Eine Verwandte, die mir nicht bekannt ist, oder hast du etwa geheiratet, ohne uns davon in Kenntnis zu setzen?«

»Das fehlte mir noch. Dieses kleine Biest hat Mama um den Finger gewickelt. Ulli und Katja zählen mehr als ich.«

»Und wer ist denn diese Katja Höller?«

»Die Kinderärztin, bei der das Baby hinterlegt wurde. Bedauerlicherweise trägt sie auch noch den gleichen Namen wie wir.«

»Wie gräßlich. Ist sie auch gräßlich?«

»Quatsch, dann hätte sie bei Mama doch nicht so einen Stein im Brett. Sie ist eine ansehnliche Person, aber mich behandelt sie wie Abfall. Ich werde ihr schon beweisen, daß ich nicht Ullis Vater bin. Es wäre ja gelacht, wenn es an mir hängenbleiben würde. Du schwörst also, daß du mit Anita nichts gehabt hast?«

»Dazu bin ich viel zu feige, Ma­rian. Mir langt es außerdem wirklich, wenn ich meinen ehelichen Pflichten genüge, und zwei Kinder langen mir auch. Immerhin hast du erreicht, daß ich doch die Pfingstferien en famille verbringen werde, damit Hella ja nicht auf den Gedanken kommt, daß ich fremdgehen könnte, wenn ich mich mal wieder in die Einsamkeit zurückziehe. Eine Ehe bringt schon gewisse Annehmlichkeiten mit sich, und Hella ist ja auch nicht zu verachten.«

»Und sie könnte auch auf den Gedanken kommen, nach einem anderen Mann Ausschau zu halten, wenn du deinen ehelichen Pflichten nicht genügst«, spottete Marian.

»Nie, das würde sie mir nie antun«, sagte Arndt.

»Weiß man es? Weißt du, manchmal denke ich schon, daß wir Männer uns besondere Privilegien zubilligen.«

»Und das sagst du?« staunte Arndt. »Wer hat diese Wandlung bewirkt? Das Baby oder die Kinderärztin?«

»Mama mit ihrer geradezu unheimlichen Toleranz.«

Arndt lächelte spöttisch. »Und eines Tages wirst du genau die Frau heiraten, die sie für gut befindet«, sagte er.

»Ich heirate nie. Du siehst ja, daß ich auch so zu einem Kind komme«, erwiderte Marian.

»Gib mir jetzt die Adressen von Frank und Ralf.«

Arndt seufzte abgrundtief. »Dann aber nehmen sie mich in die Zange, weil ich von der Wette erzählt habe.«

»Davon werde ich nichts sagen. Das verspreche ich dir. Und falls du doch Ullis Vater sein solltest, nehme ich es lieber auf mich, um deine Ehe nicht zu gefährden.«

»Ich bin froh, ein reines Gewissen zu haben«, sagte Arndt. »Schließlich bleibt so was nicht in den Kleidern hängen, das geht unter die Haut. Gehn wir jetzt ins Casino?«

»Du hast Nerven«, sagte Marian. »Ich scheine mich in einer Pechsträhne zu befinden.«

»Riskieren wir fünfhundert«, schlug Arndt vor. »Das ist zu verschmerzen.«

»Okay.«

Schon zwei Stunden später verließen sie das Casino mit je fünfzehntausend Euro in der Tasche, denn Arndt hatte auch immer die gleichen Zahlen gesetzt wie Marian.

»Glück im Spiel, Unglück in der Liebe«, brummte Marian.

»Meinen Gewinn bekommst du für das Baby, falls du es vor die Tür setzt«, sagte Arndt.

»Mama wird mir was husten. Und wenn ich es recht bedenke, ist es gar nicht so schlecht, Vater zu sein. Damit hält man sich gewisse Dämchen vom Leibe. Aber ich kann mich darauf verlassen, daß du über diese Sache schweigst.«

»Ich werde mich hüten, auch nur ein Wort darüber zu verlieren. Übrigens fällt mir gerade jetzt ein, daß die Gouvernante mit Nachnamen ­Baecker hieß.«

»Wieso fällt es dir jetzt ein?« fragte Marian.

»Schau mal da hinüber. Pension

Baecker steht da über der Tür.«

Marian atmete tief durch. »Warte ein paar Minuten«, stieß er hervor und lief über die Straße. Aber tatsächlich kam er nach wenigen Minuten zurück.

»Eine Anna Baecker gibt es da nicht. Blöd angeschaut haben sie mich«, erklärte er atemlos.

»Baeckers gibt es bestimmt noch mehr als Höllers«, sagte Arndt seufzend. »Du tust mir leid, Marian. Es wird nicht leicht sein, eine Anna ­Baecker zu finden oder eine Anita, an deren Nachnamen ich mich wirklich nicht erinnern kann.«

»Aber ich weiß die Adressen von Ralf Esser und Frank Degato. Ich fahre jetzt nach Köln.«

»Mitten in der Nacht?«

»Ich werde schon irgendwo ein Bett finden.«

»Aber bitte nicht bei einer Anita«, lästerte Arndt.

»Du wirst es nicht glauben, aber nach Frauen steht mir nicht der Sinn und nach Wein mit Whisky erst recht nicht. Ich habe zwei Mokka getrunken, wie du bemerkt haben dürftest, und ich bin topfit.«

»Dann toi, toi, toi!«

»Und dir schöne Pfingstferien mit Familie.«

»Alter Spötter!«

»Vielleicht werden sie wirklich schön nach dem Schreckschuß. Es hätte ja sein können, daß…«

»Hör bloß damit auf! Immerhin, zu deiner Erinnerung, ich bin Jurist, falls du so einen brauchst.«

*

Kurz vor Köln hatte Marian in einem Motel ein paar Stunden geschlafen. Aber so wild hatte er in seinem ganzen Leben nicht geträumt. Ein ganzer Reigen von Frauen war an seinen Augen vorübergezogen, ein turbulenter Film, der ihm Schweißausbrüche verursachte. Eine kalte Dusche nach dem Erwachen schien dann alles auszulöschen. Er fühlte sich als ein fremder Mensch, jäh ernüchtert, um Jahre gealtert.

Beim Frühstück, er hatte trotz allem gewaltigen Hunger, saß ihm eine attraktive schwarzhaarige Schönheit am Nebentisch gegenüber. Er nahm nur flüchtig Notiz von ihr, obgleich samtweiche dunkle Augen auf ihn gerichtet waren.

Ihr könnt mich alle mal, dachte er, ich falle auf euch nicht mehr herein, aber plötzlich konnte er sich an Anita erinnern. Sie hatte auch schwarzes Haar gehabt und dunkle, brennende Augen. Ein Puppengesicht! Warum war er eigentlich immer auf den gleichen Typ Frau hereingefallen? War er überhaupt mal allein mit Anita gewesen?

Ein Bild aus dem Traum schien Wirklichkeit zu werden. Am Strand hatte er mit ihr gelegen. »Frankfurt ist doch nicht so weit von München. Wir könnten uns mal treffen, Marian«, schien eine Stimme zu sagen. »Ich heiße Anita List«.

Er verschluckte sich fast, als ihm der Name ganz plötzlich in den Sinn kam. Er sprang auf und lief eilig hinaus. Der Ober folgte ihm sogleich, sagte ihm, was er zu zahlen hätte. Er drückte ihm einen Geldschein in die Hand.

Ebenso schnell bezahlte er die Rechnung für das Zimmer, und schon saß er wieder in seinem Wagen.

Köln war nicht mehr weit und die Adresse von Frank Degato hatte er.

Er mußte sich durchfragen und kam zu einem Neubauviertel. Billig sah es da nicht aus. Die Terrassenwohnungen verrieten, daß die Besitzer ziemlich betucht sein mußten, aber Frank Degato war nicht anwesend. Der Hausmeister sagte es ihm.

»Er ist auf Hochzeitsreise und kommt erst in vier Wochen zurück.«

»Auf Hochzeitsreise? Kennen Sie seine Frau?« fragte Marian hastig.

»Ja, freilich. Eine nette Frau. Hat die Wohnung eingerichtet.«

»Heißt sie Anita?«

»Nein, nicht Anita, Anna heißt sie. Frank und Anna Degato sind die Besitzer der Wohnung. Gekauft hat sie Anna Baecker.«

»Baecker, Sie sind sicher, daß sie mit Mädchennamen Baecker hieß?« fragte Marian erregt.

»Da bin ich ganz sicher, aber ich will nicht, daß sie Unannehmlichkeiten bekommt. Sie ist eine sehr nette Frau, und sie sind sehr glücklich. Falls Sie ein Verehrer von ihr sein sollten…«

»Gott bewahre mich, ich habe andere Sorgen. Ich hinterlasse eine Nachricht für das Ehepaar Degato, das wird doch gestattet sein. Wissen Sie, wohin sie gefahren sind?«

»Keine Ahnung, wer sagt denn schon, wohin er seine Hochzeitsreise macht?«

»Ich möchte ihnen ein Geschenk schicken«, sagte Marian geistesabwesend.

»Das hat doch Zeit, bis sie zurück sind«, meinte der Mann gemächlich.

Langsam ging Marian zu seinem Wagen zurück. Diesen Weg hatte er also auch umsonst gemacht. Nein, nicht ganz umsonst, denn er hatte erfahren, daß Frank diese Anna Baecker geheiratet hatte, eine Urlaubsbekanntschaft! Warum hatte er ihm davon nichts mitgeteilt, warum hatte er sich überhaupt in Schweigen gehüllt und Ralf Esser ebenfalls? Gut, sie hatten sich immer nur von Zeit zu Zeit getroffen, sporadisch und ohne vorher Verabredungen zu treffen, aber nach diesem Griechenlandurlaub war Schweigen im Walde gewesen.

Jetzt blieb also noch Ralf, aber nach Rom fahren wollte Marian denn doch nicht, ohne sich vorher zu vergewissern, daß er Ralf dort auch tatsächlich antreffen würde.

Marian versuchte, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Es war wohl kaum anzunehmen, daß Anna das Kind in der Arztpraxis zurückgelassen hatte. Sie befand sich auf der Hochzeitsreise. Vielleicht war jener Tag sogar der Hochzeitstag gewesen. Aber sie war mit Anita befreundet, zumindest mit ihr befreundet gewesen. Anita List! Der Name war ihm eingefallen, aber was nützte ihm das?

Doch, es konnte etwas nützen. Er konnte sich auf dem Einwohnermeldeamt erkundigen, ob sie in Köln wohnhaft war. Und wenn nicht, konnte er in Frankfurt das gleiche versuchen.

Hier in Köln bekam er eine abschlägige Antwort. Eine Anita List war zu keiner Zeit gemeldet gewesen. Er fuhr weiter nach Frankfurt, doch dort konnte er an diesem Tag überhaupt nichts mehr erreichen, da das Amt bereits geschlossen hatte.

Es nützte ihm auch nichts, seinem Unwillen darüber Ausdruck zu geben, daß nachmittags keine Öffnungszeit war.

Er suchte ein gutes Restaurant auf, das er von früheren Besuchen kannte und in dem er wenigstens ein anständiges Essen bekam. Dann erst beschäftigte er sich mit dem Telefonbuch, aber eine Anita List war darin nicht zu finden.

So entschloß er sich, bis zum nächsten Tag zu bleiben. In einem komfortablen Hotelzimmer ruhte er sich erst einmal aus und ließ sich alles nochmals durch den Kopf gehen. Dann entschloß er sich, Ralf Esser in Rom anzurufen, unter der Nummer, die Arndt ihm gegeben hatte. Und diesmal hatte er Glück. Er konnte mit Ralf sprechen, der sich zuerst sehr überrascht über den Anruf zeigte, dann aber noch viel überraschter war, als Marian ihm berichtete, daß Frank Anna geheiratet hätte.

»Was soll man dazu sagen!« rief Ralf aus. »Ich habe schon ewig nichts mehr von ihm gehört. Er hat auch nichts verlauten lassen, daß er Kontakt zu ihr gehalten hätte. Aber sicher ist das eine sehr bequeme Frau. Meine Kragenweite wäre sie nicht gewesen.«

»War vielleicht Anita eher deine Kragenweite?« fragte Marian.

Ralf lachte schallend. »Du lieber Himmel, nein, da war doch nichts dahinter. Wieso fragst du überhaupt nach ihr?«

»Ich würde mich gern mit ihr über einiges unterhalten«, erwiderte Ma­rian.

»Ich bin jetzt in Frankfurt. Weißt du ihre Adresse?«

»Nein, wohnt sie überhaupt in Frankfurt? Menschenskind, wenn du dich amüsieren willst, gibt es dort doch eine Masse von der Sorte, und bestimmt viel schönere. Komm doch nach Rom. Hier gibt es wirklich Klassemädchen.«

»Bist du in festen Händen?« fragte Marian.

»Bisher nicht, aber es gibt eine, für die ich meine Freiheit aufgeben würde. Daß Frank an dieser farblosen Anna hängen geblieben ist, will mir gar nicht in den Sinn. Hat er ihr etwa ein Kind angehängt?«

Ja, das war der Ton, der zwischen ihnen üblich gewesen war, doch plötzlich widerte Marian alles an.

»Ich weiß so wenig wie du«, sagte er, und von Ulli sagte er nichts. Er war plötzlich überzeugt, daß Ralf es bestimmt nicht zugeben würde, wenn er der Vater des Kindes sein sollte.

Ralf sagte dann noch, daß Marian doch nach Rom kommen solle, und daß er hoffe, eingeladen zu werden, falls er sich in Ehefesseln begeben würde.

»Da ist nichts drin«, erwiderte Marian fast zornig, und dann beendete er das Gespräch, das auch nichts gebracht hatte. Später rief er seine Mutter an. Er hörte ihre Stimme, er hörte aber auch das Brabbeln des Babys. Er hatte ein flaues Gefühl im Magen und ein leeres im Kopf, aber nachdem auch dieses Gespräch beendet war, dachte er zum ersten Male darüber nach, daß ein unschuldiges Kind letztendlich der Leidtragende sein wüde, wenn seine Mutter, eine großherzige, gütige Frau, sich seiner nicht angenommen hätte.

Ob diese Katja Höller es auch getan hätte? Aber vielleicht gab es in ihrem Leben einen Mann, der dagegen protestiert hätte, der sich eigene Kinder wünschte und sich so wenig zum Lückenbüßer oder Sündenbock stempeln lassen wollte wie er.

Gewiß würde diese Katja mit ihren moralischen Anschauungen nur einen ganz seriösen Partner akzeptieren, wahrscheinlich doch nur einen Arzt, der auch ihre beruflichen Interessen teilte. Unwillig fuhr er sich über die Augen. Warum dachte er überhaupt darüber nach? Was ging es ihn denn an, wie Katja lebte und mit wem sie lebte! Sein Typ war sie doch nicht.

Sein Typ, Widerwillen stieg in ihm empor. Seine Mutter hatte völlig recht, daß sie von diesem Umgang nichts hielt. Was hätte sie mit diesen Frauen auch reden sollen, die doch nur Amüsement im Sinn hatten.

Und er dachte weiter. Es mußte seiner Mutter weh getan haben, daß er seine Zeit so verplemperte. Für völlig gefühllos mußte sie ihn halten.

Marian ging hart mit sich zu Gericht. Er forschte in seiner Erinnerung, ob ihm eine Frau jemals ernsthaft etwas bedeutet hätte, aber außer seiner Jugendliebe Marianne konnte er keine finden. Marian und Marianne, ja, das hatte ihm damals gefallen. Er war zwanzig, sie achtzehn, und sie waren unzertrennlich gewesen. Und dann war Marianne mit ihren Eltern weggezogen von München. Zuerst hatte sie ihm oft geschrieben, aber er war kein Briefschreiber. Er hatte studiert und sein Studium sehr ernst genommen. Ja, das war es. Eigentlich hatte er nur seinen Beruf ernstgenommen. Da hatte er sich keine Eskapaden geleistet. Mit der Zeit hatte Marianne immer seltener geschrieben, und dann hatte sie ihm mitgeteilt, daß sie ihre große Liebe gefunden hätte.

Dabei hatte sie ihm doch oft gesagt und auch geschrieben, daß sie ihn liebe, nur ihn. Und er hatte sich zu diesem Zeitpunkt gerade entschlossen gehabt, sie zu besuchen.

Sie hatte ihn vergessen, sie hatte bei einem anderen Mann ihre große Liebe gefunden, das war ein Tiefschlag gewesen.

Große Liebe, hatte er gehöhnt, geheiratet werden wollte sie. Es gab keine beständige Liebe, es gab nur Gewohnheit. Gefühle verliefen im Sande, also brauchte man keine zu verschwenden. Das hatte er dann zu seiner Lebensphilosophie gemacht. Er hatte seinen Beruf, er hatte seine Mutter.

Mit diesem Gedanken schlief er dann ein, und er hatte eine ganze Menge Schlaf nachzuholen. Die Träume, die diesen Schlaf bewegten, hatte er am Morgen, beim Erwachen, vergessen. Er ließ sich das Frühstück bringen. Dafür nahm er sich nicht viel Zeit, zahlte seine Rechnung und fuhr zum Einwohnermeldeamt. Diesmal bekam er eine Auskunft. Ja, eine Anita List war gemeldet gewesen, bis vor fünf Monaten, dann war sie verzogen nach einem kleinen Ort in Oberbayern.

Ob er sie dort finden würde? Vor fünf Monaten! Wegen der bevorstehenden Geburt? Was immer sich auch herausstellt, ich muß es herausfinden, dachte er. Sonst finde ich keine Ruhe.

*

Katja hatte an diesem Tag noch keine Zeit gefunden, bei Frau Höller vorbeizuschauen, und sie ahnte auch schon, daß sie nicht pünktlich aus der Praxis wegkommen würde.

Rosmarie Ebling hatte auch um ihren Besuch gebeten, ziemlich dringend und sogar aufgeregt, was sie gerade von ihr gar nicht gewohnt war. Aber Katja konnte nicht weg, solange noch Patienten im Wartezimmer saßen, darunter auch Frau Wacker mit Susi. Sie waren zuletzt gekommen.

Susi ging es wieder ganz gut, da hätte sich Katja nicht lange aufhalten müssen, aber Heidi Wacker wollte erzählen, was Dr. Norden und Dr. Leitner festgestellt hatten, und Katja wußte ja nun, wie empfindlich die junge Frau reagieren konnte, wenn sie sich unverstanden fühlte. Aber sie war jetzt zuversichtlicher und lebhafter und bedankte sich immer wieder bei Katja für die guten Ratschläge, die ihr doch sehr geholfen hätten.

Heinz Wacker war auch wieder zu Hause, und Susi war so abgelenkt, daß sie nicht mehr nach ihrer Oma weinte.

Endlich konnte Katja nun ihre Hausbesuche machen, und zuerst fuhr sie gleich zu den Eblings. Nun erfuhr sie schnell, weshalb sich Rosmarie Ebling so aufregte, denn der kleine Maxi hatte viele rote Pünktchen im Gesicht, und die junge Mutter fürchtete, es könnten die Röteln sein. Als werdende Mutter war solche Sorge durchaus berechtigt, und Rosmarie konnte nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob sie als Kind schon die Röteln gehabt hätte.

Während Katja den Kleinen untersuchte, am Körper aber keine Rötungen entdecken konnte, fragte sie, was er denn gegessen hätte. Nun, nichts anderes als sonst, meinte Rosmarie, und schließlich war es der Kleine selbst, der eine Erklärung gab, als Katja die Pünktchen mit der Lupe betrachtete. »Balli sucht, immer kiekiek macht«, plapperte er.

»Das hat er schon ein paarmal gesagt«, meinte Rosmarie, »aber ich weiß nicht, was er meint.«

»Garten«, sagte Maxi strahlend.

»Ja, er war im Garten«, bestätigte seine Mutter.

»Dann zeig mir mal, wo es kiekiek gemacht hat, Maxi«, forderte ihn Katja auf.

Halbnackt, wie er noch war, wollte er gleich hinauslaufen, aber dann ließ er sich doch ankleiden. Und schon trabte er dann auch los, auf die dichte Tannenhecke zu.

»Halt«, sagte Katja energisch, als er sich auf den Boden setzte und darunter kriechen wollte.

»Kiekiek, immer kiekiek«, sagte er.

»Da haben wir die Erklärung«, sagte Katja, die Tannenzweige befühlend. »Sehr stachlige Nadeln, die hat er ins Gesicht bekommen. Zum Glück keine Röteln, Frau Ebling.«

»Da bin ich aber sehr erleichtert, wenn Maxi auch so scheckig aussieht.«

»Das wird bald wieder besser sein. Ich verschreibe eine Salbe, die Sie dann auftragen.«

»Sie verstehen aber schon, daß ich mir schreckliche Sorgen gemacht hatte«, sagte Rosmarie. »Ein behindertes Kind möchte ich nicht haben. Man liest ja so viel, und es passiert ja auch genug.«

»Ja, leider«, erwiderte Katja.

Etwas anderes hatte Rosmarie aber auch noch auf dem Herzen. »Was ist nun eigentlich mit dem Baby, das man bei Ihnen in der Klinik zurückgelassen hat?« fragte sie. »Stimmt es, daß Frau Höller es zu sich genommen hat?«

»Wer sagt das?« fragte Katja leicht bestürzt.

»Die Schölers wohnen da doch nebenan, und ich bin mit Renate Schöler befreundet. Sie hat Sie dort schon ein paar Mal hineingehen sehen, und ab und zu hört man auch ein Baby weinen. Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, wenn ich danach frage, es ist nicht bloß Neugierde. Wir haben gute Bekannte, die gern ein Kleinkind adoptieren würden. Marian Höller ist doch gar nicht verheiratet, und für eine ältere Dame ist es sicher nicht so einfach, sich auf ein Baby einzustellen.«

»Oh, Frau Höller kommt damit sehr gut zurecht«, sagte Katja, »und ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn darüber nicht viel gesprochen würde. Immerhin steht doch Ihr Mann in geschäftlicher Verbindung mit Herrn Höller, und es wäre mir unangenehm, wenn er dadurch ins Gerede gebracht würde.«

»Er ist ja eigentlich ein sehr netter Mann, aber als Vater könnte ich ihn mir schwerlich vorstellen«, sagte Rosmarie. »Ein irrer Typ, aber ich möchte mit so einem Mann nicht verheiratet sein. Da käme ich aus der Eifersucht gar nicht mehr heraus, so sehr sind die Frauen hinter ihm her.«

»Jedenfalls hat er eine reizende Mutter«, sagte Katja ablenkend. »Und ihr macht es Freude, das Baby zu betreuen.«

»Wie sind Sie nur auf Frau Höller gekommen?« fragte Rosmarie nun doch sehr neugierig.

Die Fragen waren Katja alles andere als angenehm, aber sie blieb gelassen.

»Durch Dr. Norden«, erwiderte sie geistesgegenwärtig. »Ich hätte es ja nicht behalten können.«

»Vorübergehend hätte ich es auch genommen«, erklärte Rosmarie.

»Sie haben ja diesen lebhaften kleinen Burschen zu beaufsichtigen, und er scheint schon sehr unternehmungslustig zu sein.«

»Aber für so ein armes Würmchen muß man doch etwas tun«, meinte Rosmarie.

»Er ist jetzt wirklich bestens aufgehoben, und an eine Adoption durch irgendwen wäre gar nicht zu denken, solange die Mutter nicht gefunden ist«, erklärte Katja, um das Gespräch darüber zu beenden. »Und nun muß ich weiter, Frau Ebling.«

»Sie halten mich hoffentlich nicht für aufdringlich«, sagte die andere nun verlegen.

Katja überlegte einen Augenblick. »In diesem Zusammenhang eine Frage, Frau Ebling. Meinen Sie, daß Sie diese junge Frau wiedererkennen würden, die das Kind brachte?«

»Möglich ist das schon, aber es war nichts Auffälliges an ihr. Wie vom Lande kam sie mir vor. Ich habe sie auch nur kurz gesehen. Ja, wenn ich vorher gewußt hatte, was sie vorhat, hätte ich sie mir schon ganz genau angeschaut. Aber mehr, als ich schon sagte, weiß ich tatsächlich nicht. Es ist allerhand, was so alles passiert. Da werden Kinder aus einem abgestellten Kinderwagen entführt oder gar mitsamt diesem, und andere setzen ihre Kinder aus.«

Nun verabschiedete sich Katja aber doch rasch, bevor Rosmarie Eblings Redefluß wieder nicht mehr zu stoppen war. Aber etwas sagte diese dann doch noch, worüber Katja auch schon nachdachte. Zumindest solle man mit einem Anwalt über diese Geschichte sprechen. »Sonst könnten Sie auch noch Unannehmlichkeiten bekommen, Frau Doktor.«

*

Mit seinem Anwalt sprach Marian Höller zu dieser Zeit über das Kind. Ob man da nicht lieber gleich die Polizei eingeschaltet hätte, meinte der, nachdem er seine Fassung wiedergewonnen hatte.

»Dann bekäme ich es mit meiner Mutter zu tun«, erklärte Marian. »Sie will das Kind unbedingt behalten. Ich habe auch nicht die Absicht, die Geschichte publik zu machen. Ich möchte sie nur geklärt wissen.«

»Dann sollten Sie persönlich im Hintergrund bleiben und einen Privatdetektiv mit den Nachforschungen nach der Mutter beauftragen«, meinte Dr. Spingler. »Allzu schwer dürfte das doch gar nicht sein, da Sie den Namen und ein paar Adressen haben.«

»Ich werde es mit meiner Mutter besprechen«, erklärte Marian.

»Auf keinen Fall dürfen Sie die Vaterschaft anerkennen, bevor nicht die ganze Sachlage geklärt ist.«

»Das brauchen Sie mir nicht extra zu sagen«, meinte Marian grimmig. »Ich gewinne immer mehr die Überzeugung, daß man mich hereinlegen will. Vielleicht soll ich auch nur unmöglich gemacht werden.«

»Aber es ist eine Tatsache, daß Ihnen diese Anita persönlich bekannt war«, sagte der Anwalt.

»Ja, leider, aber vorerst habe ich genug von den Frauen.«

Mal sehen, wie lange, dachte Dr. Spingler ein wenig ironisch, aber er wußte sehr gut, daß die Frauen es waren, die Marian nachrannten und er sich keineswegs um die Gunst irgendeiner bemühen brauchte.

Nun wollte es der Zufall, daß Marian und Katja zusammentrafen, als sie endlich ihren täglichen Besuch bei Ulrike Höller machen konnte. Als sie Marian gewahrte, wäre sie am liebsten wieder in ihren Wagen gestiegen, doch er schien das zu ahnen und trat schnell auf sie zu.

»Sie werden doch vor mir nicht die Flucht ergreifen wollen«, sagte er spöttisch. »Ich beiße nicht. Ich denke, es wäre an der Zeit, daß wir uns auch mal vernünftig unterhalten.«

»Worüber?« fragte sie kühl.

»Über das Kind, über meine Mutter, über meine Einstellung zu dieser Geschichte.«

»Ihre Einstellung kenne ich bereits«, erwiderte Katja.

»Ich könnte sie ja ändern«, sagte er ruhig.

Ungläubig blickte sie ihn an. »Sie wollen sich zu dem Kind bekennen?«

»Das habe ich nicht gesagt, aber wir brauchen uns nicht hier draußen zu unterhalten. Meine Mutter erwartet Sie sicher schon.«

Das stimmte, aber vorerst war Ulrike überrascht, daß ihr Sohn schon von der Reise zurück war.

»Ich möchte diese Angelegenheit nicht auf die lange Bank schieben«, sagte er. »Vielleicht hat Frau Dr. Höller so viel Zeit, daß ich erklären kann, was ich bisher festgestellt habe.«

Ulrike tauschte einen kurzen Blick mit Katja. »Das kannst du gleich. Ulli schläft. Katja hatte anscheinend einen langen Tag, und ein kleiner Imbiß wird ihr guttun. Minchen hat Pasteten gebacken.«

Marian lächelte flüchtig. »Mögen Sie die auch, Frau Doktor?« fragte er hintergründig. »Mit mir hat man ja hier noch nicht gerechnet.«

Ulrike zuliebe nahm sich Katja zusammen, sonst hätte sie ihm schon eine gepfefferte Antwort gegeben. Aber dann benahm er sich als vollendeter Gentleman, und sie war ganz froh, ihn nicht zu Aggressionen herausgefordert zu haben.

Die Pasteten waren delikat, ebenso die Salate, und dann hatte Minchen auch noch eine appetitliche kalte Platte hergerichtet.

Marian erzählte von seiner Rund­reise. Arndt erwähnte er jedoch nur nebenbei. »Er verbringt die Pfingstferien mit Familie bei den Schwiegereltern«, sagte er.

»Ist alles in Ordnung in der Ehe?« fragte Ulrike.

»Bestens«, übertrieb Marian ein wenig, um dann über Franks Heirat zu sprechen. »Nie und nimmer habe ich gedacht, daß er solch ein unbedeutendes Mädchen heiraten würde.«

»Wie willst du beurteilen, ob sie unbedeutend ist, wenn du kaum mit ihr gesprochen hast«, sagte seine Mutter anzüglich. »Innere Werte werden nicht zur Schau gestellt, und in mancher schönen Hülle sitzt ein fauler Kern.«

Er ging nicht darauf ein. »Jedenfalls muß ich vier Wochen warten, bis sie von der Hochzeitsreise zurück sind und ich diese Anna über Anita befragen kann, falls ich ihre Spur nicht vorher finde. Aber da Ralf deutlich zu verstehen gab, daß er von Anita überhaupt nichts hielt, wird es an mir hängenbleiben. Den letzten beißen die Hunde.«

»Ich habe mich mit dem Gedanken vertraut gemacht«, sagte Ulrike.

»Ich nicht«, begehrte Marian auf, »ihr wißt nichts von der Wette.«

Davon erzählte er dann auch, und da wurde seine Mutter allerdings sehr nachdenklich, während Katja ihn nahezu entsetzt anblickte. »Whisky und Wein, das ist wirklich kein Spaß mehr«, sagte sie empört. »Vielleicht sind sich Ihre seltsamen Freunde dessen später bewußt geworden und haben darüber kein Wort verlauten lassen. Immerhin müssen Sie eine gute Leber haben.«

»Ich bin kein Trinker«, sagte Marian unwillig. »Und ich bin auch kein Unmensch. Aber Sie müssen doch auch zugeben, daß einiges dagegen spricht, daß ich Ullis Vater bin, Frau Doktor.«

Für ihren Geschmack betonte er den Titel etwas zu sehr, aber sie wollte dazu jetzt nichts sagen. Seine Offenheit verblüffte und beeindruckte sie sehr. Er hatte jetzt auch einen ganz anderen Ausdruck im Gesicht und in den Augen. Klang seine Stimme auch meist ironisch, so erreichte der Spott doch seine Augen nicht.

»Ich will Ihnen gewiß nichts unterstellen, was nicht beweisbar ist«, sagte sie zurückhaltend.

»Ob überhaupt etwas beweisbar sein wird, weiß ich nicht«, erklärte er ruhig. »Wenn meine Mutter den Jungen aber behalten will, soll sie es tun. Ich werde mich schon daran gewöhnen.«

»Das höre ich gern!« rief Ulrike freudig aus.

»Es bedeutet aber nicht, daß ich die Vaterschaft ohne weiteres anerkenne«, sagte Marian sehr bestimmt.

Dann herrschte für eine Zeit Schweigen, bis Ulrike wieder die Stimme erhob. »Übrigens war diese Jana Frey hier, um sich zu überzeugen, ob wirklich ein Baby vorhanden ist.«

»Sie schreckt vor nichts zurück«, sagte Marian kalt. »Aber du brauchst mich nicht strafend anzusehen, Mama. Mit diesen Geschichten ist Schluß, ein für allemal. Ich habe die Nase restlos voll. Ich bin nicht erpreßbar, in keiner Beziehung. Das sei gesagt.«

Nun war Ullis Stimme zu vernehmen, noch recht dezent, aber man wußte schon, daß er auch lauthals schreien konnte.

Katja sprang auf. »Ich kümmere mich um ihn.«

»Nicht alle Frauen sind gleich«, sagte Ulrike leise.

»Du magst recht haben, Mama. Manche kümmern sich um fremde Kinder, andere setzen die eigenen aus. Und am meisten wurmt mich, daß man nicht mal das genaue Geburtsdatum des Kindes kennt. Das ist doch ungeheuerlich.«

»Unverständlich«, sagte sie nachdenklich. »Jedenfalls muß das Kind irgendwo registriert sein.«

»Ich werde einen Privatdetektiv engagieren«, erklärte Marian. »Mit Dr. Spingler habe ich auch schon gesprochen. Immerhin wird mancher Tratsch nicht zu vermeiden sein, hast du das bedacht?«

»Was geht es mich an«, erwiderte sie. »Was hat Arndt gesagt?«

»Er weist einen Ehebruch weit von sich. Hella hat ihn wohl ganz hübsch an der Kandare. Nun, er weiß die Vorteile einer Ehe zu schätzen.«

»Hella ist doch auch eine reizende Frau. Daß sie an ihren Eltern hängt, kann man ihr nicht verdenken.« Sie erhob sich. »Willst du dir Ulli nicht mal richtig anschauen, Marian?«

»Später«, erwiderte er brummig, und sie wußte, daß er dabei nicht von Katja beobachtet werden wollte.

Dennoch verabschiedete er sich sehr höflich von Katja und begleitete sie sogar bis zur Gartentür.

»Ich hoffe, Sie bleiben jetzt nicht fern, da ich wieder im Lande bin«, sagte er. »Meine Mutter würde es bestimmt sehr bedauern.«

*

Der nächste Tag brachte neue Aufregungen für Katja. Es fing gleich morgens damit an. Anke hatte auf dem Weg zur Praxis eine junge Frau gesehen, die an einer Hauswand lehnte und sich vor Schmerzen krümmte. Der weite Mantel, den sie trug, konnte nicht verbergen, daß sie hochschwanger war, und Anke hatte sie mit in die Praxis gebracht.

Katja war zwar Kinderärztin, aber soviel verstand sie doch von der Gynäkologie, daß sie feststellen konnte, wie bald die Geburt schon zu erwarten war. Die Preßwehen hatten schon eingesetzt. An einen Weitertransport war jetzt nicht zu denken.

»Rufen Sie Dr. Norden an, Anke, allein schaffe ich es nicht«, drängte Katja, und schnell tat Anke, wie ihr geheißen. Aber auch sie bewies, wie ernsthaft sie sich mit der Medizin befaßte. Sie hielt die Hände der jungen Frau, die jetzt Schmerzensschreie ausstieß, und redete beruhigend auf sie ein. Und da hielt Katja das Kind auch schon zwischen ihren Händen, staunend, erregt und doch beglückt. Zum ersten Male erlebte sie das Wunder einer Geburt direkt, und es war glücklicherweise eine glatte Geburt.

Und schon kam Dr. Norden, gleich zum Scherzen aufgelegt, als er das zappelnde Kind betrachtete.

»Eigentlich könnten wir uns gleich zusammentun«, sagte er, während er das Kind geschickt abnabelte. »Kümmern Sie sich um den Kleinen, ich nehme mich der Mutter an. Wir lassen sie dann mit dem Baby am besten in die Leitner-Klinik bringen.«

»Ich habe kein Geld«, flüsterte die Frau unter Tränen, »auch keinen Krankenschein.«

»Darum machen Sie sich jetzt mal keine Sorgen. Sie können unmöglich aufstehen und mit dem Kind auf und davon gehen«, sagte Dr. Norden. »Es ist ein gesundes Kind, freut Sie das nicht?«

»Es ist zu früh«, flüsterte die Frau.

»Dafür ist er aber ganz mobil«, sagte Katja. »2600 Gramm, neunundvierzig Zentimeter, gut entwickelt.«

»Vielleicht wird dann doch noch alles gut«, flüsterte die Frau, und dann schwand ihr Bewußtsein.

»Da haben wir wohl wieder mal ein Sorgenkind«, murmelte Dr. Norden. »Hat sie Papiere bei sich?«

»Keine Ahnung«, antwortete Katja, »es ging alles so schnell, ich konnte auch keine Fragen stellen.«

»Die Tasche liegt da drüben«, sagte Anke.

»Schauen Sie mal hinein, ob ein Paß drin ist«, sagte Dr. Norden.

Ein Personalausweis befand sich darin, auf den Namen Gerda Bruck lautend, siebenundzwanzig Jahre, wohnhaft in Graz.

»Wir bringen sie in die Klinik, alles andere kann später geklärt werden«, sagte Dr. Norden. »Daß sie sich ausgerechnet von Graz hierher verirren muß, ist schon merkwürdig. Sie scheinen eine besondere Anziehungskraft zu haben, Katja.«

»Wenn ich nur nicht wieder einen Vater suchen muß«, gab diese zurück.

Der Krankenwagen kam, ein paar Leute standen neugierig herum, die Mütter, die schon mit ihren Kindern da waren, hielten sich jedoch zurück, was Katja ihnen hoch anrechnete, aber gefragt wurde sie dann doch von jeder, was geschehen sei. Vor allem von Heidi Wacker, die mit Susi auch wiedergekommen war, weil diese sich jetzt beim Spielen den Finger gequetscht hatte.

»Ein Baby haben wir bekommen«, erklärte Katja lächelnd, denn daraus brauchte sie kein Geheimnis zu machen.

»Ein richtiges?« fragte Susi. »Einen Bruder?«

»Einen kleinen Buben.«

»Können wir den mitnehmen, Tante Doktor? Dann brauchen wir nicht mehr warten«, meinte Susi.

»Der gehört einer anderen Mami«, erklärte Katja.

»So plötzlich«, murmelte Heidi Wacker. »Mir dürfte das nicht passieren.«

»Warum denn nicht? Mutter und Kind sind wohlauf.«

Das konnte Dr. Hans-Georg Leitner bestätigen. Und die junge Mutter war nun auch wieder bei Bewußtsein. Mit glücklichen Augen betrachtete sie das kleine Wesen, das man ihr jetzt in den Arm legte. Man ließ sie in Ruhe. Sie sollte sich erst ausschlafen.

Am Nachmittag erfuhren die beteiligten Ärzte dann wieder eine dramatische Geschichte.

Gerda Bruck hatte vor zwei Jahren schon ein Kind zur Welt gebracht. Da war die Geburt aber nicht so glatt gegangen.

Das Kind kam tot zur Welt, und sie schwebte eine ganze Woche in Lebensgefahr.

»Da hat mein Mann gesagt, daß er das nicht wieder mitmachen würde«, sagte sie leise. »So habe ich ihm verheimlicht, daß ich wieder schwanger war. Er wurde hierher versetzt, und ich blieb in Graz. Er war böse, weil ich nicht zu ihm kommen wollte, aber ich wollte erst das Kind zur Welt bringen. Und dann bekam ich gestern einen Brief, daß er sich scheiden lassen würde, wenn ich nicht endlich zu ihm käme. Da bin ich losgefahren. Im Zug war mir schon so elend. Ich muß kurze Zeit ohnmächtig geworden sein, und da hat mir jemand die Geldbörse gestohlen.«

»So eine Gemeinheit!« entfuhr es Katja.

»Ich stand da und konnte mir kein Taxi nehmen. Ich weiß nicht, wie lange ich gelaufen bin, aber die Fabrik habe ich doch nicht gefunden, und dann ging es eben los.«

Dann erfuhren sie noch, daß der Ehemann Korbinian Bruck hieß und in welcher Fabrik er beschäftigt war. Bis zu dieser wäre es noch ein ganzes Stück Weges gewesen, aber die Ärzte wußten nun, wo er zu erreichen war, und sie erreichten ihn auch sofort.

Der Automechanikermeister Bruck versprach, sofort in die Klinik zu kommen. Und bevor sie ihm noch sagen konnten, daß er Vater geworden sei, hatte er schon aufgelegt. Aber darüber war seine Frau ganz froh.

»Hoffentlich ist er mir nicht mehr böse«, flüsterte sie.

»Dann würde er wohl kaum so rasch kommen«, meinte Katja tröstend. Sie konnte sich Gedanken machen, welche Verwicklungen und Irrungen es im menschlichen Leben geben konnte, als Korbinian Bruck kreidebleich in die Klinik gestürzt kam.

Doch bald herrschte nur noch große Freude. Zwei glückliche Menschen umarmten sich. Dann nahm der Vater seinen Sohn in den Arm.

»Du hättest es mir sagen müssen, Gerda«, brummte er.

»Du wolltest es doch nicht noch mal mitmachen«, flüsterte sie, »aber ich wollte das Kind.«

»Man sagt so viel in der Aufregung, was man gar nicht so meint. Und es war auch blöd von mir, mit Scheidung zu drohen, aber ich wollte, daß du endlich kommst. Es hätte ja auch sein können, daß du gar nicht mehr kommen wolltest. Wenn ich mir vorstelle, daß wir dadurch dieses wonnige Kerlchen hätten verlieren können…«

»Denken Sie daran nicht, Herr Bruck«, warf Dr. Leitner ein. »Es ist alles gutgegangen, nur das zählt.«

»Und warum bist du herumgelaufen, anstatt mich anzurufen, Gerda?« fragte Bruck.

»Mir haben sie im Zug den Geldbeutel gestohlen«, erwiderte sie kleinlaut. »Ich kann doch nicht fremde Leute anpumpen.« Sie seufzte. »Es war doch alles Geld, was ich noch hatte, Korbi.«

»Eine Gemeinheit ist es, aber wichtiger ist, daß ich dich wiederhabe, daß ich euch habe«, sagte er, und das war der Zeitpunkt, an dem auch Katja sich zurückzog, froh, daß es wenigstens da keine Probleme mehr gab.

Mit Dr. Norden verließ sie die Klinik. »Sie haben es mir ja angekündigt, was ich so alles erleben werde«, sagte sie nachdenklich. »In dieser kurzen Zeit war es schon eine ganze Menge.«

»Und es wird noch einiges dazukommen, Katja.«

»Ein paar Tage länger dürfte es schon ruhiger sein«, meinte sie. »Aber tausend Dank, daß Sie immer so schnell zur Stelle sind.«

»Hilfsbereiten Menschen hilft man gern«, erwiderte er. »Besuchen Sie uns doch mal wieder. Meine Frau würde sich freuen.«

Dann gingen sie wieder an die Arbeit, und an diesem Abend fand Katja wirklich keine Zeit, zu Ulli zu gehen. Sie rief dort nur an.

Ulrike hatte Verständnis für die so beanspruchte junge Ärztin.

»Kommt sie meinetwegen nicht?« fragte Marian leicht gereizt.

»Unsinn, sie hat viel zu tun.«

»Und wahrscheinlich deshalb keine Zeit zum Heiraten. Hat sie eigentlich einen Freund?«

Oh, là, là, dachte Ulrike und mahnte sich zur Vorsicht. »Darüber haben wir nicht gesprochen. Ich könnte mir schon vorstellen, daß sie ernsthafte Bewerber hat. Sie bringt alle Voraussetzungen mit, einen Mann glücklich zu machen, vor allem hat sie Charakter. Sie würde bestimmt keinem Mann nachlaufen. Um solch eine Frau muß man sich schon bemühen.«

Er ging hinaus und brummelte dabei vor sich hin, und dann merkte sie, daß er zum Kinderzimmer ging und lächelte.

»Er sieht ja wirklich niedlich aus«, stellte Marian nach langer Begutachtung fest, »aber man weiß ja nie, wie sich so ein Kind herauswächst. Babys sollen ja immer niedlich sein.«

»Na, ich weiß nicht recht. Dein Vater war da anderer Meinung, aber wir haben ja neulich festgestellt, daß du ein besonders hübsches Baby warst.«

»Wir?« fragte er.

»Katja und ich. Sie gibt sich wirklich Mühe, deinen Zweifeln gerecht zu werden und vergleicht das Baby und dich.«

»Wie reizend«, sagte er spöttisch. »Aber lassen wir das jetzt. Du willst das Baby behalten, also werden wir einen Weg finden müssen. Dr. Spingler hat mich aufgeklärt, welche Auflagen gemacht werden für eine Adoption. Du bist nicht mehr jung genug für die Behörden, Mama, und ich bin nicht verheiratet. Man würde uns aber wohl zubilligen, Ulli als Pflegekind zu behalten, da die äußeren Voraussetzungen bestens sind. Das kann ja wohl niemand bestreiten.«

»Lieb von dir, daß du dich damit befaßt, aber ich sehe keine Schwierigkeiten. Schließlich ist uns das Kind sozusagen überlassen worden, und das können wir schriftlich belegen. Die Behörden sind zum Stillschweigen verpflichtet, also könnte dein Ruf nur durch die Frey gefährdet werden. Es war ungeschickt von dir, zu ihr über das Baby zu sprechen, das muß ich leider sagen.«

»Ich gebe es zu, Mama. Ich wollte sie damit abschrecken. Aber heutzutage ist man ja nicht mehr so pingelig mit außerehelichen Kindern. Emanzipierte Frauen präsentieren ihre Sprößlinge geradezu stolz wie ein Reklameschild, und sie werden dafür noch bewundert.«

»Und es gibt einige, die so diskret sind, den Namen des Vaters zu verschweigen«, bemerkte Ulrike.

Marian lachte auf. »Oder sie kennen den Namen gar nicht«, sagte er sarkastisch. »Emanzipation schützt auch vor Torheit nicht. Und wenn du meine Meinung über die Ehe ohne Trauschein wissen willst, die ja auch so oft betont wird, dann muß ich sagen, entweder – oder. Wenn man sich für einen Partner entscheidet, dann sollte man konsequent sein, schon der Kinder wegen, die doch total verunsichert werden, wenn der Vater Herr Baum genannt wird und die Mutter Frau Strauch.«

Ulrike lachte auf. »Das ist ein netter Vergleich«, stellte sie fest. »Du hast deinen Humor wiedergefunden.«

»Noch nicht ganz. Um es noch einmal zu sagen, Mama, ich finde es schandbar, ein Kind auszusetzen, ohne sein Geburtsdatum bekanntzugeben, ohne einen Namen, ohne den Mut zu haben, dem Mann, den man als Vater bezeichnet, ins Gesicht zu schauen.«

»Aber es wurden keine finanziellen Forderungen gestellt, Marian.«

Er kniff die Augen zusammen. »Wenn man bedenkt, was ein Kind im Laufe seines Lebens kostet, genügt es wohl auch, wenn man die Kosten auf einen anderen abwälzt.«

»Aber du darfst nicht vergessen, daß auch ein unehelicher Vater zu Unterhaltszahlungen verpflichtet wer­den kann.« Sie sah ihn ernst an. »Vielleicht wollte die Mutter darum nicht prozessieren, vielleicht war sie in einer solchen Notsituation, daß sie sich keinen anderen Rat wußte. Daß sie es dann bei Katja ließ, womöglich wegen des gleichen Namens. Wir müssen das nicht immer durchkauen. Natürlich wäre es mir auch lieber, wenn ich die Wahrheit kennen würde.«

»Und mir erst«, brummte er.

*

Dieses Thema beschäftigte auch Fee und Daniel Norden. »Nehmen wir einmal an, daß Marian Höller nicht der Vater des Kindes ist«, überlegte Fee, als sie nach dem Abendessen beisammen saßen, »und die Nachforschungen nach der Mutter erfolgreich verlaufen, welche Folgen würde das haben?«

»Guter Gott, ich sehe da nur Schwierigkeiten«, sagte Daniel. »Das größte Problem aber wäre, daß man Frau Höller dann das Kind wohl wegnehmen würde, und wie es aussieht, ist sie nicht bereit, es sich wieder nehmen zu lassen. Aber wir sollten uns jetzt den Kopf nicht darüber zerbrechen, Fee. Wir drehen uns dabei nur im Kreise. Das war kein spontaner Entschluß, sondern wohl überlegt. Man wollte alle Spuren verwischen. Wie sollte man feststellen, wo ein Säugling, von dem man nichts weiß, registriert ist? Vielleicht ist er sogar im Ausland zur Welt gekommen.«

Was Marian inzwischen in Erfahrung gebracht hatte, wußte er noch nicht. Und dieser hat nach langem Überlegen den Entschluß gefaßt, doch keinen Privatdetektiv zu beschäftigen, sondern selbst weitere Nachforschungen zu machen, um diese verzwickte Angelegenheit möglicherweise auf dem Toleranzwege lösen zu können. Seiner Mutter zuliebe, die bereits mit so zärtlicher Liebe an dem Kleinen hing.

Als er ihr das am nächsten Morgen erklärte, sah sie ihn liebevoll an. »Das ist mein Marian, wie ich ihn mir wünsche«, sagte sie weich.

Aber beide erlebten sie eine Überraschung, als Katja am Abend kam. Sie hatte ihre eigenen Überlegungen angestellt.

Ganz ruhig sagte sie, daß sie es am Wochenende übernehmen würde, in dem Gebirgsort Nachforschungen nach Ullis Mutter anzustellen, wenn Marian damit einverstanden wäre.

Damit brachte sie vor allem ihn aus der Fassung. »Ich habe mal ein freies Wochenende und wollte sowieso ein bißchen hinausfahren«, erklärte sie mit einem flüchtigen Lächeln, »und bei dieser Gelegenheit könnte ich mich doch umschauen. Sie sagten doch gestern, daß Ihnen der neue Wohnsitz von Anita List genannt wurde.«

»Sie haben sehr aufmerksam zugehört«, bemerkte Marian.

»Ja, selbstverständlich. Ich bin ja nicht unbeteiligt.«

»Es ist doch nicht gesagt, daß sie noch dort wohnt«, meinte er.

»Aber es ist möglich. Ich halte es nicht für gut, einen Privatdetektiv einzuschalten.«

»Davon bin ich bereits abgekommen. Ich wollte selbst nachforschen, aber ich hätte nichts dagegen, wenn Sie mich begleiten würden. Dann könnte möglicherweise gleich an Ort und Stelle die Sachlage geklärt werden und Sie von dem Verdacht befreit werden, mit mir verwandt zu sein.«

Bei diesen Worten hielt Ulrike den Atem an, aber Katja zeigte keine Bestürzung, sondern versank in Nachdenken.

»Es wäre zu überlegen«, sagte sie ruhig. »Im Interesse Ihrer Mutter wäre es wohl auch, wenn die Ungewißheit so bald wie möglich geklärt würde.«

»Schön wäre es ja«, warf Ulrike ein. »Es ist sehr lieb von Ihnen, Katja, daß Sie auch Ihre Freizeit opfern wollen.«

»Mir geht es vor allem darum, daß kein Tauziehen um das Kind beginnt. Wenn erst das Vormundschaftsgericht eingeschaltet wird, geht es nur nach Paragraphen, und da rennt man manchmal gegen Mauern.«

»Immerhin bliebe letztendlich doch noch die Möglichkeit, daß ich mich zur Vaterschaft bekenne«, sagte Marian, und da blickten ihn beide Frauen staunend an.

»Na ja, was könnte ich sonst wohl tun, um ein Tauziehen zu verhindern«, erklärte er. Er legte den Arm um seine Mutter. »Ich will dich nicht traurig sehen, Mama. Du warst immer nachsichtig mit mir. Es ist an der Zeit, daß ich dir beweise, daß ich kein gefühlloser Egoist bin.«

Dann warf er Katja einen schrägen Blick zu. »Begraben wir das Kriegsbeil?« fragte er.

Sie errötete und reichte ihm spontan die Hand. »Wann fahren wir?« fragte sie.

»Früh? Vielleicht gegen acht Uhr?«

»Mir soll es recht sein. Ich bin Frühaufsteherin.«

»Dann hole ich Sie ab«, sagte Ma­rian.

»Es ist besser, wenn ich herkomme«, sagte sie verlegen. »Ich habe eine Mietwohnung, und man ist neugierig. Wir wollen doch jeden Klatsch vermeiden.«

Seine Augenbrauen schoben sich zusammen, aber Ulrike sagte rasch: »Ich gebe Katja recht. Du bist sehr bekannt, Marian.«

»Und genieße einen zweifelhaften Ruf«, sagte er ironisch.

»Als Architekt genießen Sie einen ausgezeichneten Ruf«, bemerkte Katja, »aber es gibt sehr neugierige Mütter, die sich abwegigen Vermutungen hingeben würden, die vermeidbar sind.«

»Wer vertritt Sie eigentlich, wenn ein Notfall vorliegt?« fragte Marian.

»Dr. Norden. Es ist auch mein erstes freies Wochenende, seit ich die Praxis eröffnet habe. Es wurde mir direkt aufgezwungen. Nun ist es ja ganz willkommen.«

»Wenn du jetzt noch ein Wort gegen sie sagst, werde ich wirklich böse«, sagte Ulrike, nachdem Katja gegangen war.

»Ich sage ja gar nichts«, erwiderte Marian rauh. »Du hast ihr Herz gewonnen. Für dich würde sie wohl alles tun.«

»Die Sympathie beruht auf Gegenseitigkeit«, erwiderte Ulrike.

*

Katja war sehr pünktlich. Marians Wagen stand schon auf der Straße, und er sagte ihr, daß sie ihren doch in die Garage fahren solle. Dort würden ihn dann keine neugierigen Augen sehen. Er sagte es keineswegs spöttisch.

Aber sogar das wurde beobachtet. Renate Schöler konnte es vom Fenster des Kinderzimmers aus beobachten, und sie hatte es sehr eilig, dies auch ihrer Freundin Rosmarie zu berichten.

Hans Ebling wurde wütend. »Diese Klatschbase«, brauste er auf, »hat sie nichts anderes zu tun, als am Fenster zu stehen und Höller zu beobachten? Ich komme glänzend mit ihm aus, und ich möchte nicht, daß sich das ändert durch diese Herumtratscherei.«

»Sei doch nicht gleich so böse«, lenkte Rosmarie ein. »Renate hat es doch auch nicht so gemeint.«

»Wie denn? Meinst du, du bist die einzige, der sie diese Neuigkeit steckt? Morgen wird dann schon darüber geredet, daß Höller mit seiner Namensschwester ein Verhältnis hat. Ich kenne doch diese Ratschereien. Jeder macht was dazu. Aber du hältst dich da heraus, Rosi, sonst kracht es.«

Marian und Katja hatten zu dieser Zeit ihr Ziel schon fast erreicht. Kaum ein Wort hatten sie gewechselt. Es war auch ziemlich viel Verkehr und Ma­rian mußte aufpassen, um nicht die verkehrte Richtung einzuschlagen, denn es gab einige Umleitungen, über die er unwillige Bemerkungen machte. Das war aber auch alles, was er sagte. Und dann lag der Gebirgsort vor ihnen, lieblich anzusehen im Scheine der hellen Morgensonne.

»Trinken wir erst noch einen Schluck?« fragte er. »Wir wollten uns auch die Strategie überlegen. Haus für Haus können wir ja nicht absuchen.«

»In solchen Orten kennt doch jeder meistens jeden«, sagte Katja. »Ich werde es mal in einem Lebensmittelgeschäft versuchen.«

»Ein guter Gedanke. Ich erkundige mich, ob hier irgendwo ein Entbindungsheim ist.«

»Die Idee ist noch besser«, gab Katja zu. »Aber sollte das der Fall sein, werde besser ich es aufsuchen. Als Ärztin wird man da wohl nicht so schief angeschaut wie ein Mann.«

Er lächelte, und mit diesem Lä­cheln schlug er eine Brücke, so warm war es.

»Wir kommen uns ja schon näher«, sagte er verhalten. »Vielleicht werden wir eines Tages noch Freunde, Katja. Damit würden wir Mama wohl die größte Freude bereiten.« Er legte seine Hand auf ihre Schulter. »Jetzt gehen wir erst mal getrennte Wege, dann treffen wir uns dort in dem Gasthof. Er sieht recht einladend aus. Einverstanden?«

Sie nickte. Er blickte ihr noch nach, wie sie langsam die Straße hügelan ging. Die Sonnenstrahlen setzten goldene Fünkchen in ihr kastanienbraunes Haar. Dann verschwand sie hinter einer Ecke.

Er ging zum Gasthof, denn er hatte Durst. Seine Kehle war trocken, wohl auch von der inneren Erregung, die ihn gefangen hielt.

Katja hatte ein Textilgeschäft entdeckt, und rasch kam ihr der Gedanke. daß man für ein Baby Kleidung und Windeln brauchte. Und im Schaufenster entdeckte sie dann ein Strampelhöschen, wie Ulli eines getragen hatte.

Sie atmete tief durch, bevor sie das Geschäft betrat. Eine rundliche ältere Frau, die recht gemütlich ausschaute, stand an der Kasse. Durch dicke Brillengläser wurde Katja forschend gemustert.

»Sie wünschen?« fragte die Frau.

Katja hatte sich umgeblickt und konnte keine weitere Person entdecken. »Ein paar Babysachen möchte ich kaufen«, sagte sie.

»Für welches Alter?«

»Etwa ein halbes Jahr.«

Recht nette Sachen wurden ihr vorgelegt, und sie wählte auch ein paar aus. Dann fragte sie: »Vielleicht können Sie mir weiterhelfen. Ich suche eine junge Frau, die ich einmal kennenlernte. Sie heißt List, Anita List.«

»Nicht Anita, Maria«, erwiderte die Frau unbefangen. »Das arme Ding.«

»Was ist denn mit ihr?« fragte Katja, ihre Erregung kaum noch verbergen könnend.

»Das Haus ist doch abgebrannt vor ein paar Wochen. Im Bett hat er immer rauchen müssen, der alte List, und das war sein Ende. Aber die Maria muß es halt büßen. Hat eh nichts vom Leben gehabt. Und dann nicht mal mehr ein Dach über dem Kopf.«

»Und wo ist sie nun? Ich würde ihr gern helfen«, sagte Katja.

»Weggegangen ist sie wohl, sich eine Stellung suchen, und das Pflegekind wollte sie wohl nun in ein Heim bringen. Was sollte sie sonst auch machen, wo sie selbst nichts mehr zu beißen hatte. Er war ja nicht mal versichert.«

»Das tut mir für die Maria leid«, sagte Katja. »Ihre Adresse haben Sie nicht?«

»Nein, aber vielleicht weiß die alte Kreszenz mehr. Die haben’s ins Altersheim gebracht. Das war wohl am ärgsten für die Maria, wo die Kreszenz doch für sie wie eine Mutter gesorgt hat. Aber getaugt hat der alte List nix, gar nix.«

Du lieber Himmel, was werden wir da noch alles erfahren, dachte Katja. Aber sie erfuhr wenigstens, in welchem Altersheim die Kreszenz lebte und mit Nachnamen Scheidhuber hieß. Sie kaufte dann noch einige Sachen, um sich der Geschäftsinhaberin dankbar zu erweisen, und die sagte, daß es wohl eine große Freude für die Maria wäre, wenn sich jemand noch um sie kümmern würde.

»Das werde ich gern tun, wenn ich sie finde«, versicherte Katja.

Sie brauchten nicht weiter zu forschen. Sie ging zu dem Gasthof, und dort saß Marian mit dem Wirt am Tisch, der sich aber sofort erhob, nachdem er Katja nach ihren Wünschen gefragt hatte.

»Ich denke, wir werden essen«, erklärte Marian. »Es duftet schon verlockend aus der Küche.«

»Die Herrschaften werden zufrieden sein«, sagte der Wirt. »Wär’ der Hasenrücken angenehm?«

Damit war auch Katja einverstanden, nicht ahnend, welche Riesenportionen sie vorgesetzt bekommen würden.

»Haben Sie etwas erreicht?« fragte Marian.

Sie nickte und schaute sich um, ob ihnen auch niemand zuhören könnte.

»Ich auch«, sagte Marian leise. »Es gibt ein Entbindungsheim, so zehn Kilometer entfernt. Da fahren wir nachher hin.«

Sie erzählte, was sie erfahren hatte, aber dann konnten sie sich das köstliche Essen schmecken lassen.

»Jetzt müßten wir eigentlich die zehn Kilometer laufen«, sagte Katja seufzend, »aber gut war’s!«

Wie natürlich sie ist, dachte Ma­rian. »Ein andermal«, sagte er leichthin, und verlegen fügte er hinzu: »Ich hoffe es wenigstens, daß sich zu anderer Zeit Gelegenheit zu einem Ausflug bieten wird mit Mama.«

»Mit dem Kinderwagen über Stock und Stein«, lächelte Katja.

»Mir war das am liebsten. Mama hat es jedenfalls immer erzählt. Holterdipolter mußte es bei mir gehen. Na, vielleicht ist mir davon was geblieben.«

Nun mußte sie lachen. »Ich hatte das auch sehr gern, wie meine Mutter zu erzählen wußte. Aber das mögen wohl die meisten Kinder.«

»Sie hatten bestimmt auch eine liebe Mutter«, sagte Marian leise.

»Ja, eine sehr liebe.«

»Und Sie würden auch eine liebevolle Mutter sein.«

»Um das zu umgehen, wurde ich Kinderärztin«, erwiderte Katja. Etwas in ihrem Tonfall warnte Marian, das Thema fortzuführen. Und die Zeit verging ohnehin viel zu schnell.

Sie fuhren zu dem Entbindungsheim. Es war ein hübsches Häuschen, wahrhaftig nicht groß.

»Die Hebamme heißt Rittner«, sagte Marian. »Sie nimmt nur ledige Mütter. So wurde es mir gesagt. Es gibt anscheinend noch welche, die sich verstecken.«

»Mehr als Sie denken«, sagte Katja. »Dann werde ich mal starten.«

»Toi, toi, toi«, sagte er.

»Drücken Sie den Daumen«, erwiderte Katja.

Die Rittner-Resi, so stand es an der Tür, war eine knorrige Frau, aber sie machte keineswegs einen abschreckenden Eindruck. Die hellen Augen blickten freundlich, obgleich Katja sich abschätzend gemustert fühlte.

Und daß die Resi eine gute Menschenkenntnis besaß, verriet sie mit den Worten: »Um Aufnahme kommen Sie aber net.«

Als Katja sich als Ärztin vorstellte, wurde sie schon ein bißchen skeptischer. Ob sich denn jemand über sie beschwert hätte, fragte sie.

Katja verneinte es. »Ich möchte Ihnen aus ganz bestimmten Gründen nur eine vertrauliche Frage stellen, Frau Rittner«, sagte sie vorsichtig. »Ich befinde mich in einer sehr prekären Situation.«

»Abtreibung gibt’s bei mir nicht«, bekam sie zur Antwort.

»Darum handelt es sich auch nicht, sondern um ein Baby, das mir sozusagen vom Himmel in die Praxis fiel.«

»Ein Baby, das was mit mir zu tun haben sollte?« fragte Resi Rittner aufgeregt, »das darf es doch gar nicht geben. Das müssen Sie mir schon genau erklären.«

»Es handelt sich um das Kind, das eine gewisse Anita List zur Welt gebracht hat«, sagte Katja ruhig.

Alles Blut wich aus Resi Rittners Gesicht, und ihre Hände hoben sich abwehrend.

»Nein, das nicht, das doch nicht«, stammelte sie. »Was ist mit dem Kind?«

»Bitte, beruhigen Sie sich, Frau Rittner, dem Kind geht es gut. Ich möchte Sie nur fragen, was Sie mir darüber sagen können.«

»Was soll ich dazu sagen?« flüsterte Resi mit einem trockenen Aufschluchzen

»Wann es geboren ist, welchen Namen es bekam und welche Angaben Anita List möglicherweise über den Vater gemacht hat.«

Resi starrte vor sich hin, dann faltete sie die Hände. »Ich habe sie doch nur der Maria zuliebe aufgenommen«, murmelte sie. »Maria hat mir hier öfter ausgeholfen. Personal bekommt man ja kaum, und verschwiegen sollen sie halt auch sein. Wissen Sie, hier kommen die Mädchen aus gutem Hause her, von denen niemand erfahren soll, daß sie ein Kind bekommen. Und ich vermittele dann auch die Adoption. Alles reell, Frau Doktor, das müssen Sie glauben. Jetzt muß ich erst einen Tee trinken. Möchten Sie auch einen?«

»Gern«, erwiderte Katja, die froh war, daß sich diese Frau nicht in Schweigen hüllte. Aber ihr schien die Angst um ihre Existenz im Nacken zu sitzen.

Katja blickte sich um. Alles war blitzsauber, und hübsch eingerichtet waren die Räume auch, die sie bisher gesehen hatte. Nun hörte sie ein Baby weinen.

Resi kam mit dem Tee zurück. »Ich muß nur erst nach dem Kleinen sehen«, sagte sie, »entschuldigen’s vielmals, Frau Doktor.«

»Kann ich Ihnen helfen? Ich bin Kinderärztin.«

»Ja, bei dem Kleinen hätte ich schon gerne einen Rat«, erwiderte Resi zugänglich. »Er spuckt so viel. Aber bittschön nicht in die Zimmer schauen, wo die Mütter liegen.«

In dem Säuglingszimmer standen vier Bettchen. Drei waren belegt. Zwei Babys schliefen und ließen sich durch das Weinen des dritten nicht stören. Das war ein sehr zartes Kind.

»Ein bissel zu früh ist er gekommen, aber die Mutter hat genug Milch«, sagte Resi leise.

»Vielleicht bekommt ihm gerade Muttermilch nicht, oder die Mutter ist zu nervös«, sagte Katja.

»Nervös ist sie schon arg. Weg will sie so schnell wie möglich, aber grad wegen dem Milchfluß kann ich sie noch nicht weglassen.« Katja gewann mehr und mehr den Eindruck, daß Resi äußerst gewissenhaft war.

»Pumpen Sie die Milch ab, und geben Sie sie dem Kleinen in der Flasche«, schlug Katja vor. »Dann bekommt sie ihm vielleicht besser. Manche Mütter haben keine Geduld, und das überträgt sich auf das Baby. Außerdem ist das Zungenbändchen angewachsen, und das ist dem Baby hinderlich. Haben Sie die Instrumente da, dann kann ich es beheben.«

»Aber passieren darf dem Kind nichts«, sagte Resi.

»Ganz gewiß nicht. Kommt denn kein Arzt her?«

»Doch schon, aber zur Zeit ist er im Urlaub. Mußte mal ausspannen, und seine Vertretung wollte ich nicht herholen.«

Alles gut und schön, dachte Katja, aber es könnte doch einmal nicht gutgehen, wenn kein Arzt zur Stelle ist. Wie mochte Resi Rittner wohl mit Komplikationen fertig werden?

Sie beschäftigte sich mit dem Kleinen, während Resi wohl der Mutter die Milch abpumpte, dann kam sie mit einem Fläschchen wieder.

»Die geborene Amme wär’ das, aber gerade solche Frauen sind oft so schwierig«, murmelte Resi. »Am liebsten hätte sie das Kind gar nicht ansehen wollen, nur weil die Milch so schnell eingeschossen ist, hab’ ich sie überreden können. Aber sie mag den Kleinen einfach nicht.«

Das Baby trank jetzt geradezu gierig. »Sind alle Frauen, die zu Ihnen kommen, entschlossen, ihr Kind wegzugeben?« fragte Katja.

»Ja, zuerst alle, aber manche behalten es dann doch, wie die Anita. Darüber reden wir dann. Mir wird auch wohler sein, wenn ich das nicht herumschleppen muß, schon wegen der Maria.«

Nun war das Baby satt und ruhig. Behutsam legte es Resi ins Bettchen und deckte es zu.

»Wird einen guten Platz bekommen«, sagte sie mehr zu sich selbst. »Und wenn die Mutter erst weiter ist, bin ich froh.«

»Ich werde Ihnen ein Mittel sagen, das den Milchfluß stoppt.«

»Man sollte der Natur immer seinen Lauf lassen«, brummte Resi.

»Viele Frauen wollen in den Beruf zurück, und dann können sie ihr Kind nicht mehr stillen«, sagte Katja.

»Ich habe ja für vieles Verständnis«, meinte Resi, »vor allem für die, die von dem Kindsvater sitzengelassen werden und erst dann begreifen, was auf sie zukommt, aber die Mutter von dem Kleinen ist nur aufs Geld aus, was ihr geboten wurde. Da bin ich erst später draufgekommen. Das ist so eine Geschichte für sich, aber mehr sag’ ich nicht darüber.«

»Ich möchte eigentlich auch nur mehr über Anita erfahren«, sagte Katja freundlich.

»Ja, das war so. Die kam erst kurz vor der Geburt her. Die Maria hat sie gebracht. Ein hübsches Ding, das muß man schon sagen. Sie hat auch heiraten wollen, aber der Mann sei im Ausland, hat sie gesagt. Und erst müßte das Kind ja auf der Welt sein, bevor sie die weite Reise antreten könnte.«

Der Tee war inzwischen abgekühlt, aber mit dem Zitronensaft war er sehr erfrischend. Hastig trank Resi eine Tasse, dann stand sie wieder auf und holte ein Buch.

»Alles hab’ ich ja nicht im Kopf«, murmelte sie. Aber lange zu suchen brauchte sie nicht, bald hatte sie die Eintragung gefunden, die sie suchte.

»Da haben wir es ja«, sagte sie erleichtert. »Der Bub ist am dritten Februar geboren. Narrisch kalt war es da, und viel Schnee hatten wir. Sechs Pfund hat er gewogen und fünfzig Zentimeter war er lang. Und die Namen Ralf Frank Marian sollte er bekommen. So ist es auch eingetragen. Aber den Vater hat sie nicht genannt. Nur gekichert hat sie dabei, als wär’s eine Gaudi. Das hat mir nicht gefallen. War eine Cousine von der Maria, eine ganz flotte. Hat wohl keiner damit gerechnet, daß sie so schnell sterben würde.«

Jetzt wurde Katja blaß. »Sie lebt nicht mehr?« fragte sie heiser.

»Deshalb hat ja die Maria das Kind genommen. Es sollte nicht in fremde Hände kommen.«

Katja zwang sich zur Ruhe. »Woran ist Anita gestorben?« fragte sie bebend.

»Nicht an der Geburt. Das ging alles glatt, war bestens in Ordnung. Mit dem Auto ist’s dann passiert. Sie hatte ja eins. Geld hatte sie wohl auch. Nach Italien wollte sie fahren, aber nicht weiter als nach Innsbruck ist sie gekommen. Es war ja noch Schnee und glatt. Sie war auch selber schuld. Das Baby war auf dem Hof bei Maria. Der ist dann aber abgebrannt. Maria hat das Kind gerettet, aber alles war hin. Ich verstehe nur nicht, daß sie nicht zu mir gekommen ist mit dem Kleinen. Können Sie es mir sagen?«

»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen, Frau Rittner. Aber Sie waren offen, und ich will es auch sein.« Und dann erzählte Katja, wie sie zu dem Kind gekommen war. Aber sie erwähnte nichts von Marian. Eine Erklärung dafür gab sie nicht.

Resi Rittner schüttelte den Kopf immer wieder.

»Maria fährt nach München und läßt das Kind in einer Arztpraxis zurück. Das paßt nicht zu ihr«, sagte sie rauh.

»Sie war sicher in einer Notlage.«

»Es paßt nicht zu ihr. Sie muß ganz durcheinander gewesen sein. Erst Anitas Tod, dann der Brand und der Tod des Vaters. Mei, er war so ein Versager, aber sonst schon ein gutmütiger Kerl. Sonst hätt’ er ja auch das Kind nicht geduldet. Aber Sie können mir das Kind ruhig bringen. Ich finde schon auch für ihn einen guten Platz.«

»Den habe ich schon gefunden, darum müssen Sie sich keine Gedanken machen. Jetzt möchte ich nur Maria finden.«

»Sie ist ein gutes Mädchen, ein sehr gutes, halt nur nicht so eins, das einen Mann findet.«

Aber auch die gute Resi Rittner war so verwirrt, daß sie gar keine Fragen stellte, wieso Katja auf sie gekommen sei, und darüber war Katja froh. Sie dachte jetzt an Marian. Er hatte schon lange warten müssen.

»Werden Sie mir Bescheid geben, wenn Sie etwas über Maria erfahren?« fragte Resi, als sie sich verabschiedete.

»Dasselbe möchte ich Sie auch bitten, Frau Rittner. Hier ist meine Karte.«

»So was ist mir noch nie passiert, das dürfen Sie mir glauben, nein, so was noch nicht.«

»Ich wünsche Ihnen alles Gute«, sagte Katja herzlich.

»Vielleicht geb’ ich das nun doch bald auf«, murmelte Resi. »Früher war alles anders.«

Katja eilte schon den Hang hinunter, als sie noch vor sich hin murmelte, daß die Welt und die Menschen sich verändert hätten, und in was für eine Zeit die Kinder jetzt hineingeboren würden!

*

Marian verlor kein Wort darüber, daß es so lange gedauert hatte, obgleich er voller Unruhe gewartet hatte.

Katja wäre ihm fast in die Arme gefallen, so schnell war sie dann zum Schluß gelaufen.

»Es gibt viel zu erzählen«, sagte sie außer Atem.

»Wir müssen jetzt noch zum Altersheim, das ist auch ein ganzes Stück. Sonst müssen wir womöglich noch hier übernachten«, sagte Ma­rian.

»Es ist erst halb fünf«, sagte Katja. »Jedenfalls sind wir schon ein großes Stück weiter. Ulli ist am dritten Februar geboren, und er hat die Namen Ralf Frank Marian bekommen.«

»Das ist stark«, stieß Marian hervor. »Da bleibt mir die Spucke weg. Was hat sich Anita dabei gedacht?«

»Das werden wir wohl nie erfahren. Sie lebt nicht mehr.«

Gut, daß sie sich bereits auf ebener Straße befanden, und kein Wagen ihnen folgte, so abrupt trat er auf die Bremse.

»Ich wollte es Ihnen ja wohldosiert beibringen«, sagte Katja kleinlaut. »Aber das war das Wichtigste, was ich erfahren habe.« Dann sagte sie ihm noch, daß Anita mit dem Auto verunglückt sei. »Und wir wollen doch gern am Leben bleiben«, fügte sie mahnend hinzu.

Eine Weile herrschte nun wieder Schweigen. Dann mußte er anhalten, um sich nach dem Weg zum Altersheim zu erkundigen. Es lag glücklicherweise an der Straße, die nach München führte, ein alter grauer Bau.

»So möchte ich nicht mein Leben beschließen«, sagte Marian.

»Sie brauchen es ja nicht, aber manche wären froh, wenigstens so einen Platz zu bekommen.«

»Ich bekomme eine Lektion nach der anderen«, sagte er. »Ich weiß schon, daß ich viel zuwenig über Werden und Vergehen nachgedacht habe.«

»Jetzt haben Sie wieder Zeit zum Nachdenken«, meinte Katja. »Diesmal werden Sie aber nicht so lange zu warten brauchen.«

Rasch ging es aber auch nicht, bis sie das Vertrauen der alten schwerhörigen Kreszenz errungen hatte. Erst als Katja ihr eindringlich sagte, daß sie Maria eine gute Stellung verschaffen könne, wurde Kreszenz mitteilsamer.

»Grad gestern habe ich einen Brief von ihr bekommen«, sagte sie. »Schreibt nicht viel, das Dirndl. Da, auf dem Vertiko liegt er. Weiß ja nicht, was sie in der Großstadt will, aber es wird wohl wegen dem Kind sein.«

Katja las den Brief, der in Druckbuchstaben geschrieben war, wohl damit Kreszenz ihn lesen konnte.

Das Butzerl habe ich vorerst in ein Heim gegeben, hatte sie geschrieben. Es geht ihm gut. Und ich habe jetzt auch ein Unterkommen. Brauchst mir nicht schreiben, ich besuche Dich mal, Zenzi. Laß es Dir gutgehen.

Schnell schrieb sich Katja die Adresse auf, die auf der Rückseite des Kuverts stand.

»Schreiben konnte ich noch nie gut«, murmelte Kreszenz, »und jetzt wollen die Hände gar nimmer. Aber wenn Sie die Maria finden, dann sagen Sie ihr bitt schön, daß sich die Kreszenz über einen Besuch freuen tät.«

»Das werde ich gern ausrichten. Vielen Dank«, erwiderte Katja.

*

Diesmal kam Marian ihr rasch entgegen. »Ich habe die Adresse«, freute sich Katja.

»Und nun?« Seine Miene war eher düster zu nennen.

»Ich bin gar nicht mehr gespannt. Ich glaube auch nicht, daß Anita ihr die Wahrheit gesagt hat. Jedenfalls wird der Junge weder Ralf, Frank oder Marian heißen. Er heißt Ulli und dabei bleibt es.«

Das beschäftigte ihn also. »Das wird sich schon machen lassen«, meinte Katja.

»Sie müssen eine tolle Meinung von meinen Freunden und mir haben«, sagte er tonlos.

»Nun, ich denke, daß Anita die Abwechslung liebte«, sagte Katja ironisch.

»Aber sie ist kein Einzelfall. Es gibt eine ganze Menge Frauen, die sich die gleichen Freiheiten nehmen wie die Männer. Die Heimchen am Herde sind selten geworden.«

»Und die Karrierefrauen sind im Kommen. Eines Tages werden sie die Männer überrollt haben.«

»Solche Gedanken gefallen Ihnen wohl gar nicht«, meinte Katja neckend.

»Es tut der Weiblichkeit doch ziemlichen Abbruch. Das brauchen Sie aber nicht auf sich zu beziehen, Katja. Augenblicklich stehe ich mit aller Weiblichkeit auf Kriegsfuß. Und von Freunden will ich auch nichts wissen.«

»Also ein moralischer Kater«, lä­chelte Katja.

»Sie machen sich wohl über mich lustig.«

»Aber nein. Mir kommt da so eine Weisheit in den Sinn. Ich glaube, sie stammt von Grillparzer. Moral ist der Maulkorb für den Willen, die Logik der Steigbügel für den Geist. Denken wir einmal logisch. Vielleicht hat Anita ihnen allen einen Streich spielen wollen. Oder sie hatte auch mit jemanden gewettet, daß sie einem von Ihnen das Kind anhängen wollte. Vielleicht sogar mit dem richtigen Vater des Kindes.«

»Sie schließen also nicht aus, daß ein anderer als ich der Vater bin.«

»Nein, das schließe ich nicht aus.«

»Mir hatten sie Whisky in den Wein geschüttet, vielleicht, um mit den beiden Mädchen den Abend allein zu verbringen.«

»Durchaus möglich«, erklärte Katja gelassen. »Aber was wäre geschehen, wenn Ihre Mutter ganz anders reagiert hätte? Ich kann mir sehr gut vorstellen, daß es nicht viele Frauen von ihrer Toleranz gibt.«

»Wie tolerant sind Sie?« fragte er.

»Ich habe keinen erwachsenen Sohn«, konterte sie. »Ich kann da gar nicht mitreden.«

»Nehmen wir doch mal an, Sie würden sich in einen Mann von meiner Machart verlieben, oder Sie wären es, und dem würde ein Kind präsentiert.«

»Es wäre wohl ein Schock«, gab sie zu.

»Und Sie würden dem Mann den Laufpaß geben?«

»Das ist schwer zu sagen.«

»Nehmen wir mal weiter an, ich würde Sie fragen, ob Sie meine Frau werden wollen, würden Sie dann wegen des Kindes nein sagen? Oder wegen meines bisherigen Lebenswandels?«

»Darüber zerbreche ich mir nicht den Kopf. Sie werden diese Frage nicht stellen, und ich brauche keine Antwort zu geben.«

»Sind Sie da ganz sicher, Katja?« fragte er.

Ein Unterton schwang da mit, der sie irritierte. Aber sie wollte sich keine Gedanken darüber machen.

»Machen Sie Ihren Läuterungsprozeß durch«, sagte sie gleichmütig. »Ich habe mich dafür entschieden, überhaupt nicht zu heiraten, sonst hätte ich ja nicht diesen Beruf ergreifen brauchen. Ich liebe nämlich meinen Beruf.«

»Und da kann kommen wer will, Sie würden immer nein sagen?«

»Da kann kommen wer will.«

»Haben Sie schon oft nein gesagt?«

»Sie sind aber gründlich!«

»Zum ersten Male. Ich habe bisher nie tiefsinnige Gespräche mit Frauen geführt. Wäre auch nutzlos gewesen, weil ihnen das Hirn fehlte. Sie können mir alles vorwerfen, aber nicht, daß ich nicht ehrlich wäre.«

»Ihre Ehrlichkeit hat mich verblüfft, das gebe ich zu, und deshalb glaube ich auch, daß wir gute Freunde werden können, Marian«, erwiderte Katja leise.

»Darf ich Ihnen wenigstens sagen, daß Sie neben Mama die zweite Frau sind, die ich bewundere?«

»Wofür? Es war ein interessanter Tag. Ich habe neue Erkenntnisse gewonnen, Sie haben das Bild, das ich mir anfangs von Ihnen machte, zurechtgerückt. Wenn Ihre Mutter Ulli nicht schon so lieb hätte, würde ich es bedauern, daß Ihnen der Schwarze Peter zugespielt wurde.«

»Danke für dieses Wort, Katja«, sagte er ernst, »aber ich werde mich sehr bemühen, Ulli ein guter Vater zu werden.«

»Das meinen Sie ernst?« fragte sie atemlos.

»Ein bißchen sollten Sie mich aber schon kennen!«

*

Ulrike merkte bald, daß sich zwischen ihnen etwas verändert hatte, und eine tiefe Freude erfüllte sie.

Bei den Eblings läutete wieder das Telefon. »Stell dir vor, Rosmarie, sie sind gerade zusammen zurückgekommen. Sie waren den ganzen Tag weg«, sprudelte es von Renate Schölers Lippen.

»Laß mich mit diesem Klatsch zufrieden«, erwiderte Rosmarie. »Oder willst du bei uns einen Ehekrach heraufbeschwören? Verbrenn dir bloß nicht die Zunge. Wenn du Frau Dr. Höller ins Gerede bringst, ist es aus mit unserer Freundschaft. Hast du eigentlich nichts anderes zu tun, als am Fenster zu liegen?«

Das war eine schöne Abfuhr, an der Renate Schöler noch zu knabbern hatte, denn von ihrem Mann hörte sie ähnliches und noch anderes.

»Dauernd jammerst du mir vor, daß du zuviel Arbeit im Haushalt und mit den Kindern hast«, knurrte der, »und doch bist du bestens informiert, was in der Nachbarschaft vor sich geht. Ich möchte wenigstens am Wochenende meine Ruhe haben. Bei uns im Betrieb wird genug getratscht.«

Da schwieg sie lieber auch, aber sie hätte doch zu gern gewußt, ob Dr. Katja Höller nun die neue Freundin von Marian Höller war.

»Schließlich kann es ja sein, daß sie verwandt sind«, äußerte sie sich nach einer Weile.

»Na und, was geht es uns an?«

»Darum braucht man doch kein Geheimnis zu machen«, sagte Renate.

»Machen Sie denn eins? Frag doch Frau Höller, wenn du es genau wissen willst.«

»Zu Rosmarie hat sie doch gesagt, daß es nur eine Namensgleichheit ist.«

»Aber deine Neugierde läßt dir keine Ruhe«, seufzte er. »Ich werde mir einen Stammtisch suchen.«

Das war allerdings ein Schreckschuß. »Männer halten ja immer zusammen, und Frauen sollten es auch tun«, sagte sie.

»Vielleicht solltest du dir eine Halbtagsstellung suchen, damit du abends richtig müde bist. Halt jetzt deinen Mund, ich will fernsehen.«

Nebenan brauchte man solche Zuflucht nicht. Da wurden ernste Gespräche geführt, und zwischendurch bekam Ulli seine Nachtmahlzeit. Aber dazu zog sich Ulrike nicht in das Kinderzimmer zurück. Sie brachte ihn mit in den Wohnraum.

»So langsam soll er doch merken, daß er eine Familie hat und nicht nur Minchen und mich«, sagte sie. »Und vielleicht bekomme ich mal einen Schnupfen, dann muß Marian ihm auch mal die Flasche geben.«

»Dann kann ich es ja gleich mal unter ärztlicher Aufsicht probieren«, sagte Marian lächelnd.

Katja war sprachlos, aber Ulli ­schien dies eher belustigend zu finden. Er lachte glucksend, als er in Marians Arm gelegt wurde.

»Na, siehst du, wir werden uns schon verstehen, Ulli. Nun wird aber nicht gelacht, sondern gefuttert, damit du groß und stark wirst und der Omi viel Freude machst.«

Katja sah, daß Ulrikes Augen feucht wurden. Verstohlen nickte sie ihr zu, und ihr Gesicht war gelöst und von innen durchleuchtet.

»Ich werde jetzt gehen«, sagte sie leise.

»So warten Sie doch, Katja, ich bringe Sie selbstverständlich heim«, sagte Marian.

»Ich habe doch meinen Wagen hier. Morgen vormittag habe ich noch allerhand zu tun.«

»Bitte, kommen Sie zum Mittagessen, Katja«, bat Ulrike.

»Vielleicht zum Kaffee«, erwiderte sie. »Ja, ich komme gern.«

Ulli hatte die Flasche schon ausgetrunken. »Nimm ihn mal, Mama, er fühlt sich feucht an«, sagte Marian. »Ich begleite Katja hinaus.«

Nun wird er doch vernünftig, dachte Ulrike glücklich.

Wie schön wäre es – aber weiter wollte sie nicht denken, und Katja erlebte indessen, daß Ma­rian ihr die Hand küßte.

Nun sieh zu, Katja Höller, ob du deinen Grundsätzen treu bleiben kannst, sagte sie laut, als sie Gas gab.

*

Sie verbrachte eine ziemlich unruhige Nacht, die von wirren Träumen erfüllt war. Und früh war sie auf den Beinen. Sie wollte nichts auf die lange Bank schieben. Sie wollte auch mit Maria List sprechen, und der Adresse, die sie aufgeschrieben hatte, war zu entnehmen, daß sie in einem nördlichen Vorort von München lag, ziemlich weit entfernt von ihrer Wohnung.

Um neun Uhr verließ sie das Haus. Sie hörte noch das Telefon läuten, aber sie kehrte nicht mehr um.

»Sie scheint nicht zu Hause zu sein«, sagte Fee Norden zu ihrem Mann.

»Oder sie schläft noch, Liebes. Es ist ja noch ziemlich früh.«

»Ich hätte sie gern eingeladen, mit uns einen Ausflug zu machen«, sagte Fee.

»Vielleicht hat sie bereits etwas Besseres vor«, meinte er schmunzelnd. »Es wird ein herrlicher Tag.«

Daran dachte Katja nicht, als sie durch die Stadt fuhr. Der Gegenverkehr war stark. Die Sonnenhungrigen strömten an die Seen. Und schon heulten auch die Sirenen der Funkstreifenwagen.

Wie viele werden nicht heimkehren, ging es Katja durch den Sinn, wie Anita!

Ihre Gedanken wanderten zwischen Ulrike, Marian und Ulli hin und her, und sie mußte auch über Marians Freunde nachdenken. Sie hatte andere Männer kennengelernt, solche, die am Leben vorbeigingen, die sich nur in ihre Arbeit verbohrten. Auch der einzige Mann, für den sie ein ernstes Interesse hegte, war so gewesen. Er hatte sie als Frau nur am Rande wahrgenommen. Ja, er hatte sie heiraten wollen, aber was wäre das für eine Ehe geworden? Sie dachte jetzt anders als vor sechs Jahren.

Es war gut, daß ich damals nein gesagt habe, und ich werde wieder nein sagen, ging es ihr durch den Sinn. Ich werde mir nicht diese Probleme schaffen, mit denen ich nun tagtäglich konfrontiert werde.

Aber kamen nicht auch glückliche Ehefrauen und Mütter zu ihr? Und was war Fee Norden für eine Frau, und nicht nur sie. War nicht auch diese kleine Frau Wacker jetzt glücklich, und dann Rosmarie Ebling mit ihrem Maxi, von Gerda Bruck ganz zu schweigen.

Dann sah sie Marian vor sich, wie er dem Kind die Flasche gab und diese Worte sagte, die ihr jetzt wieder in den Ohren klangen.

Dann aber mußte sie sich konzentrieren, denn die Gegend, in der Maria List eine Zuflucht gefunden hatte, kannte sie gar nicht, und es wurde elf Uhr, bis sie das Haus gefunden hatte, das auf der Adresse angegeben war.

Eine Gastwirtschaft befand sich darin, die nicht gerade einladend aussah. Und obgleich es erst Vormittag war, kamen ein paar Betrunkene herausgetorkelt.

Hier soll sie sein? So eine kann sie doch nicht sein, dachte Katja. Nach allem, was sie über Maria gehört hatte, konnte sie nicht annehmen, daß sie so tief gesunken sein könnte. Aber es gehörte Mut, sehr viel Mut dazu, dieses Haus zu betreten. Es roch muffig, die Wände waren verschmiert. Katja stieg drei Treppen empor, ohne den Namen Maria List an einer Tür zu finden. Sie stieg die Treppen auch wieder hinunter.

Dann nahm sie nochmals allen Mut zusammen und betrat das Lokal, das man wirklich nur als eine Kneipe bezeichnen konnte. Und da brauchte sie sich nicht lange umzuschauen. Sie sah ein blasses, verhärmtes Geschöpf an der Theke stehen und Bier einschenken.

»Dumme Kuh, lernst du es denn nie!« schrie ein dicker Mann sie an. Katja wurde von einem anderen angepöbelt. Aber entschlossen trat sie auf die Theke zu. »Maria«, sagte sie. Das Mädchen zuckte zusammen. »Sie kommen jetzt mit«, sagte Katja entschlossen.

»Was bilden Sie sich ein! Sie bleibt hier!« schrie der dicke Mann. »Sie ist hier angestellt.«

»Haben Sie einen Arbeitsvertrag mit ihr gemacht?« fragte Katja. »Sie kommt mit, oder ich rufe die Polizei.«

Ein paar junge Burschen traten auf sie zu und packten sie an den Armen. Katja wurde bewußt, in welche Gefahr sie sich begeben hatte, aber geistesgegenwärtig sagte sie: »Ich werde draußen erwartet und Maria auch.«

»Laßt die Finger weg«, sagte der Dicke, »ich will keinen Ärger haben. Dann hau doch ab, du dummes Luder!«

Katja griff nach Marias Hand und zerrte sie zum Ausgang. Höhnisches Lachen folgte ihnen, aber keiner griff nach ihnen. Und Katja atmete erst auf, als sie beide im Wagen saßen. Das Mädchen war von einem haltlosen Schluchzen geschüttelt. »Mußte das wirklich sein, Maria?« fragte Katja leise. »Ausgerechnet so eine Kneipe!«

»Ich habe doch nichts anderes gefunden«, schluchzte Maria. »Büroarbeiten kann ich doch nicht.«

»Und du wolltest dich verstecken«, sagte Katja, unwillkürlich das Du gebrauchend. »Erkennst du mich?«

Maria schüttelte den Kopf. »Ich bin Katja Höller, die Ärztin, zu der du das Kind gebracht hast.«

»Wie haben Sie mich gefunden?« schrie Maria auf.

»Das erzähle ich dir später. Jetzt beruhige dich erst mal. Ich bin heilfroh, daß wir so davongekommen sind.«

»Ich habe aber noch meine Sachen da.«

»Auf die kannst du wohl verzichten. Das Wertvollste hattest du ja schon bei mir zurückgelassen. Das Kind!«

Und nun strömten erst recht die Tränen, aber Katja ließ sie weinen. Sie ahnte, daß Maria in diesen Tagen die Hölle durchlebt hatte.

Es dauerte lange, bis Maria sich beruhigt hatte. Da waren sie schon fast bei Katjas Wohnung angelangt.

»Ich wußte doch nicht wohin«, schluchzte Maria. »Ich hatte kein Zuhause mehr und kein Geld.« Sie blickte auf. »Sie haben gesagt, ich hätte das Wertvollste zurückgelassen. Sehen Sie das so?«

»Ja, ich bin froh, daß du das Kind bei mir gelassen hast, Maria, und über alles andere werden wir in Ruhe sprechen.«

»Aber Sie bringen mich nicht zur Polizei? Ich will alles sagen, aber nicht eingesperrt werden.«

»Du wirst nicht eingesperrt!«

*

Katja hatte ein Bad eingelassen. Sie hatte Kleidung für Maria herausgesucht, die zwar noch dünner war als sie, aber etwa die gleiche Größe hatte. Sie machte ein paar Dosen auf und bereitete ein Essen zu.

Als Maria noch immer nicht aus dem Bad kam, machte sie besorgt die Tür auf, aber da stand sie, bereits angekleidet.

»So schöne Sachen habe ich noch nie gehabt«, sagte sie schüchtern.

»Anita schon«, sagte Katja mit einem Anflug von Bitterkeit, »und sie konnte auch Reisen machen.«

»Sie war ja auch im Büro«, sagte Maria. »Sie hat gut verdient. Ich mußte mich doch um Vater kümmern.«

»Und dann um das Kind. Aber du wirst mir alles der Reihe nach erzählen, Maria. Jetzt ißt du erst mal. Ich war nicht darauf vorbereitet, aber du wirst schon satt werden.«

»Und Sie essen nichts?« fragte Maria schüchtern.

»Ich habe gestem zuviel gegessen«, erwiderte Katja. »Im Gasthof zum Bock. Da, wo du zu Hause warst.«

»Sie haben mich gefunden. Wie denn bloß?«

»Das ist eine ziemlich lange Geschichte.«

Und da läutete das Telefon. Katja meldete sich.

Es war Marian.

»Wollen Sie nicht doch zum Essen zu uns kommen, Katja?« fragte er.

»Es geht nicht, ich habe einen Gast.«

»Ach so, dann will ich nicht stören«, sagte er.

»Es ist Maria List, Marian. Aber ich möchte erst mit ihr allein sprechen. Fragen Sie Ihre Mutter, ob ich sie später mitbringen darf.«

»Soll ich nicht lieber kommen?« fragte er hastig.

»Nein.«

»Natürlich können Sie sie mitbringen.«

»Danke. Wir müssen ihr weiterhelfen «

Dann legte sie den Hörer auf. Maria starrte sie an. »Sie sagten Ma­rian.«

»Ja, ich habe eben mit Marian Höller gesprochen, dem angeblichen Vater eines namenlosen Kindes.«

»Er ist nicht Ihr Mann?« fragte Maria.

»Nein, wir sind nicht mal verwandt.«

»Das wußte ich nicht. Ich habe alles falsch gemacht.«

»Manches«, sagte Katja, »aber nicht alles. Zumindest hast du das Kind in gute Hände gegeben.«

»Wo ist es?«

»Das erfährst du noch. Zuerst möchte ich mal deine Geschichte hören. Die ganze Geschichte, von Anita angefangen. Ich weiß schon eine Menge. Ich will dir helfen, Maria, aber nur, wenn du nicht lügst und nichts beschönigst.«

Sie wußte selbst nicht, warum sie so sprach, aber gerade dieser Ton verfehlte seine Wirkung nicht.

»Ich will ja alles sagen«, flüsterte Maria. »Ich bin Ihnen so dankbar, daß Sie mich da herausgeholt haben.«

»Wie alt bist du, Maria?« fragte Katja.

»Dreiundzwanzig.«

»Wie alt war Anita?«

»Fünfundzwanzig. Sie ist tot.«

»Ja, ich weiß. Du erzählst mir jetzt, wann du von dem Kind erfuhrst.«

»Vier Wochen vor der Geburt. Anita kam zu uns. Wir hatten sie lange nicht gesehen. Ihre Eltern waren früh gestorben, und sie war dann weggegangen von uns, als sie erst siebzehn war. Aber sie hatte gleich eine gute Stellung bekommen. Später hat sie auch manchmal Sachen geschickt und mir geschrieben, daß ich doch auch nach Frankfurt kommen soll. Sie war sehr hübsch, und einmal war sie auch mit einem Freund bei uns. Sie hat gesagt, daß sie heiraten wollen. Aber den hat sie dann doch nicht geheiratet. Sie hat eine Stellung in einem Reisebüro bekommen und konnte ­jedes Jahr anderswohin fahren in den Urlaub. Letztes Jahr war sie dann in Griechenland mit einer anderen Kollegin. Da hat sie dann auch gleich ein paar Männer kennengelernt, die sie ganz toll fand. Davon hat sie mir dann genau erzählt.«

»Ralf, Frank und Marian«, sagte Katja.

»Und noch einer. Vier waren es nämlich. Der hieß Arndt. Eigentlich wollte sie den Kleinen nämlich Arndt nennen. Der Name hat ihr am besten gefallen. Sie hat so komisch geredet.«

»Und dann hat sie gesagt, daß Marian Höller der Vater des Kindes ist.«

»Nein, nicht so genau. Sie hat nur gesagt, daß ihr der am besten gefallen hätte, aber daß das kein Mann zum Heiraten wäre. Und der Arndt hat ihr gesagt, daß er verheiratet ist und zwei Kinder hat. Sie hat halt davon geträumt, daß sie mal so einen Mann kriegen würde.«

»Wie den Marian«, sagte Katja.

»Oder den Arndt.«

»Und was hat sie von Frank und Ralf erzählt? Du weißt doch, daß sie dem Buben drei Namen gegeben hat.«

»Ja, da hat sie gelacht. Es wäre so eine schöne Erinnerung, hat sie gesagt. Sie war immer lustig und zu Späßen aufgelegt. Und sie hat auch gesagt, daß sie das Kind auch allein durchbringen würde, aber dann ist sie ja verunglückt. Damit hat doch niemand gerechnet. Sie wollte doch nur den Ralf in Rom besuchen. Den hatte sie nämlich zufällig im Reisebüro mal wiedergetroffen.«

Mein Gott, ist das eine Story, hoffentlich kann ich mir alles merken, dachte Katja.

»So, den wollte sie besuchen«, sagte sie.

»Eine Gaudi würde das werden, wenn sie ihm von dem Kind erzählen würde, hat sie gesagt, aber die hätten ja alle Sinn gehabt für Humor. Und vielleicht würden sie dann bei dem Kleinen auch alle vier Paten sein.«

»Anita hatte wirklich Humor«, sagte Katja rauh.

»Aber sie war nicht schlecht, bestimmt nicht, Frau Doktor. Sie hatte das Kind lieb.«

»Und von Frank hat sie nichts gesagt?«

»Der hatte sich doch mit der Anna getroffen, und sie wollten heiraten. Da hätte Anita doch keinen Wurm reingebracht.«

»Und wie bist du dann, nach allem, was du wußtest, auf den Gedanken gekommen, daß Marian Höller der Vater sein könnte?«

»Manchmal hatte die Anita wirklich einen ganz verklärten Blick, wenn sie das Baby in ihrem Arm hielt. Schön wär’s, wenn er Höller heißen würde, hat sie gesagt. Aber sie wüßte ja nur, daß der Marian in München wohnt.«

»Sie wußte, daß der Marian in München wohnt«, wiederholte Katja nachdenklich.

»Aber vielleicht könnte er ja auch verheiratet sein, hat sie gesagt. Sie müssen es mir glauben, eine Ehe wollte sie nicht kaputtmachen. So war sie nicht. Sie wäre überall durchgekommen, wenn sie nicht verunglückt wäre. Aber dann hat es bei uns gebrannt, und alles war fort, und ich stand mit dem Kind da und wußte nicht wohin. Er ist doch so ein liebes Büberl. Und da dachte ich halt, daß er es gut haben soll.«

Du liebe Einfalt, ging es Katja durch den Sinn, aber sie konnte diesem armen Geschöpf nicht böse sein, wie es so hilflos dasaß. »Dann hast du also den Marian Höller gesucht«, sagte sie leise.

»Und bin auf die Ärztin gekommen im Telefonbuch. Und ich habe gedacht, daß eine Ärztin was Besonderes ist und so ein Würmchen nicht gleich in ein Heim stecken würde. Und ich dachte auch, daß Sie mit dem Marian Höller verwandt wären.«

»Recht hast du getan, Maria«, sagte Katja.

Mit staunenden Kinderaugen blickte Maria sie an. »Das sagen Sie, daß ich richtig gehandelt habe?«

»Ein Schutzengel muß dich und Ulli begleitet haben«, sagte Katja gedankenvoll.

»Ulli? Wer ist das?« fragte Maria.

»Wir nennen den Kleinen Ulli, weil wir seine richtigen Namen ja noch nicht kannten, aber davon werden wir zwei streichen lassen.«

»Welche denn?« fragte Maria.

»Frank und Ralf. Marian wird den Jungen adoptieren.«

»Hat er denn eine Frau?« fragte Maria stockend.

»Nein, aber er hat eine wundervolle Mutter. Und bei ihr ist Ulli. Und du wirst jetzt mit mir dorthin fahren.«

»Muß ich dann alles noch mal erzählen?«

»Wir werden uns ergänzen, Maria.«

»Aber Sie haben mir noch nicht gesagt, wie Sie mich gefunden haben.«

»Das werden Sie später erfahren. Alles brauchen wir ja nicht zweimal zu erzählen.«

»Und wohin soll ich dann?« fragte Maria.

»Sie bleiben bei mir.«

»Jetzt brauchen Sie aber nicht gleich Sie zu mir zu sagen«, flüsterte Maria.

»Ich dachte, du wärest ein Stück erwachsener, aber ich bleibe gern beim Du.«

»Ich sag einstweilen herzlichen Dank für alles, Frau Doktor, und wenn Sie bitt schön em gutes Wort für mich einlegen wollen?«

»Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Jetzt nicht mehr.« Und ich habe auch keine mehr, dachte Katja, denn sie ahnte, wer Ullis Vater war.

Es bleibt ja in der Familie, dachte sie. Anita hat sich den Namen Höller für ihren Buben gewünscht. Er wird ihn bekommen.

Scheu und ängstlich betrat Maria neben Katja das Haus der Höllers. Kugelrund wurden ihre Augen. Überwältigt rang sie nach Atem.

»Wenn Anita das gesehen hätte«, flüsterte sie, aber Katja wollte jetzt gar nicht über Anita nachdenken. Sie machte sich Gedanken, wie Marian und Ulrike Höller auf Marias Bericht reagieren würden. Sie hegte keinen Zweifel, daß Maria die Wahrheit gesagt hatte. Sie war zu naiv, um sich eine solche Geschichte auszudenken, und sie war trotz allen Unglücks ihrer Cousine Anita noch immer zugetan. Man konnte wohl sagen, daß sie diese wohl irgendwie bewundert hatte.

Ulrike kam Maria freundlich entgegen, Marian blieb äußerst zurückhaltend. Er versuchte, Katjas Blick festzuhalten und aus ihren Augen schon so manches herauszulesen, aber er sah nur Zuversicht dann.

In Katjas hübschem Kleid sah Maria recht manierlich aus. Eine Ähnlichkeit mit Anita konnte Marian nicht entdecken, aber es wurde ihm so recht bewußt, daß er eigentlich gar keine Erinnerung an sie hatte. Vielleicht wäre ihm diese gekommen, wenn Maria ihr ähnlicher gewesen wäre, doch dieses Mädchen konnte man fast unbedarft bezeichnen, farblos, gehemmt, gewohnt, sich zu ducken.

Es schien Maria undenkbar, sich zu den »Herrschaften« an den Tisch zu setzen, und als sie dann doch dazu überredet worden war, fiel sie von einer Verlegenheit in die andere. So viel Freundlichkeit hätte sie nicht verdient, meinte sie. Sie wagte nicht einmal, nach dem Kleinen zu fragen, aber als dann sein Stimmchen zu vermehmen war, hob sie den Kopf, und das Blut schoß ihr in die Wangen.

»Du kannst ihn nachher sehen, Maria«, sagte Katja, nachdem sie einen kurzen Blick mit Ulrike getauscht hatte.

Sehr diplomatisch leitete sie dann die Unterhaltung ein. Diesmal sprach Maria aber vorerst nur von ihrer Kindheit und Jugend, davon, daß Anita viel gescheiter als sie gewesen sei und sogar Sprachen gelernt hätte. Und daß sie eben auch so hübsch gewesen sei.

Dann sah sie Katja bittend an. »Ich habe der Frau Doktor doch schon alles erzählt«, sagte sie scheu. »Es ist mir alles so peinlich. Ich habe so un­überlegt gehandelt.«

»In solchen Situationen ist das verständlich«, sagte Ulrike. »Jetzt wollen wir erst mal überlegen, wie Ihnen zu helfen ist.«

»Ich habe ja nichts gelernt. Nur auf dem Hof habe ich gearbeitet und im Haushalt.«

»Und Frau Rittner hast du geholfen«, warf Katja ein.

»Ja, so etwas hätte ich gern gelernt«, sagte Maria scheu.

»Ich werde dich in der Praxis anlernen«, sagte Katja. Dafür erntete sie einen überraschten Blick von Marian. Doch sie ließ sich dadurch nicht verwirren. »Wenn Anke ihr Studium beginnt, kannst du schon soweit sein, daß du mir zur Hand gehst. Von Frau Rittner weiß ich, daß du sehr ordentlich bist. Du kannst auch bei mir wohnen.«

Da liefen Tränen über Marias Wangen.

Ulrike stand auf und griff nach ihrer Hand. »Komm jetzt, wir gehen zu Ulli«, sagte sie. Auch sie hatte gespürt, daß das Du Marias Ängste milderte. Und sie hatte zudem das Gefühl, daß Katja Marian allein sprechen wollte. Ja, sie hatte so ihre Ahnungen, und diese kamen der Wahrheit sehr nahe.

Katja fiel es nicht leicht, Marian alles wiederzugeben, was sie von Maria erfahren hatte. Zuerst zeigte sich nur grenzenloses Staunen auf seinem Gesicht, dann verdüsterte es sich.

»Arndt? Sie meinen tatsächlich, daß er es war? Aber er war doch so überzeugend, als ich mit ihm sprach.«

»Vielleicht deshalb, weil er ganz sicher war, daß Anita schweigen würde. Ich möchte Marias Worten glauben, daß Anita keine Ehe auseinanderbringen wollte. Sie liebte das Leben, sie genoß es, aber sie war nicht schlecht, wie Maria sagte. Jetzt ist sie tot, und ich meine, daß Arndts Frau von dieser Geschichte nichts mehr zu erfahren braucht.«

»Er hätte mir die Wahrheit sagen können«, murmelte Marian. »Ich hätte es nicht an die große Glocke gehängt.«

»Konnte er dessen sicher sein? Ralf hat Sie auch belogen. Er hat sich noch mit Anita getroffen. Sie wollte zu ihm nach Rom fahren. Nach allem, was ich von Maria über Anita erfahren habe, muß sie ein Kobold gewesen sein. Sie wollte das Kind nicht hergeben.«

»Wenn es gewiß ist«, sagte Marian nachdenklich.

»Nun ja, es mögen einige Zweifel bleiben, aber was spielt das jetzt noch für eine Rolle, nachdem die Entscheidung über Ullis Schicksal bereits gefallen ist?«

»Wird Mama das nicht umwerfen?« fragte er.

»Das glaube ich nicht. Es hat sie ja auch nicht umgeworfen, daß ihr Sohn zum Vater befördert worden ist.« Katja lachte leise, und dabei sah sie so bezaubernd aus, daß Marians Miene sich aufhellte. Er griff nach ihren Händen und drückte sie an seine Lippen.

»Sie sind einzigartig, Katja«, sagte er leise. »Ich habe nie geglaubt, daß mir eine solche Frau doch noch begegnen würde.«

Ein Ausdruck war in seinen Augen, der Katja bis ins Innerste erzittern ließ, und sie wußte in diesem Augenblick, daß Marian Höller aus ihrem Leben nicht mehr wegzudenken war.

»Es gibt die Liebe, jetzt weiß ich es«, flüsterte er.

Dann kam Ulrike zurück, aber sie ärgerte sich, daß sie gerade jetzt zurück kam. Doch Katja war sehr froh darüber.

So rasch wollte sie nicht kapitulieren, so leicht wollte sie es ihm nicht machen, mochte ihr Herz ihm auch entgegenschlagen.

»Wo ist Maria?« fragte sie überstürzt.

»Bei Minchen. Sie fühlt sich in der Küche wohler, und ich denke, Minchen weiß ganz gut mit ihr umzugehen. Nun sind wohl die größten Schwierigkeiten aus dem Wege geschafft. Wir können die Adoption in die Wege leiten. Oder bist du anderen Sinnes geworden, Marian?«

»Nein.«

Sie sah ihn forschend an. »Ist es nicht merkwürdig, daß sie sich ausgerechnet bei dir nicht in Erinnerung brachte?«

»Sie wird schon ihre Gründe gehabt haben.«

»Jedenfalls stand sie mit Ralf in Verbindung, und sie wußte, daß ihre Kollegin Anna und Frank heiraten wollten.«

»Sie haben geheiratet«, sagte Marian.

»Weich mir jetzt nicht aus«, fuhr Ulrike ruhig fort. »Anita hatte die Möglichkeit, deine Adresse zu erfahren und auch Arndts, und wahrscheinlich hat sie auch genau gewußt, wo sie euch finden könnte, aber sie hat keinen diesbezüglichen Versuch unternommen.«

»Wollen wir alle Überlegungen nicht beiseite lassen, Mama? Ich bin bereit, Ulli als meinen Sohn anzuerkennen. Oder bist du jetzt anderen Sinnes?«

»Einige Gedanken werde ich mir wohl machen dürfen«, sagte sie. »Ich bin nämlich überzeugt, daß drei Männer wußten, wer der Vater von Anitas Kind ist und nur du der einzige Ahnungslose warst. Und ich bin auch überzeugt, daß sie sich nicht mit allen dreien eingelassen hat, wenn man es so nennen will.«

»Müssen wir das jetzt noch ausdiskutieren, Mama?« fragte Marian.

»Deine Diskretion in Ehren, mein lieber Junge, aber ich meine, daß Katja und ich Bescheid wissen sollten.«

»Ich weiß Bescheid«, sagte Katja. »Ich finde es sehr fair von Marian, daß er Diskretion wahren will. Es muß nicht Unruhe in das Leben anderer gebracht werden.«

»Das liegt mir fern. Ich möchte nur sagen, daß ich stolz auf meinen Sohn bin, Katja.«

»Das dürfen Sie sein«, sagte Katja leise.

»Es soll aber nicht unerwähnt bleiben, daß es auch Katjas Verdienst ist, daß ich mich gemausert habe«, sagte Marian nun mit einem tiefen Lächeln. »Sie hat mir Respekt eingeflößt.«

»Und ich habe sie liebgewonnen«, sagte Ulrike weich. »Dürfen wir um das Du bitten?« Ein bißchen wollte sie Marian schon helfen, deshalb bat sie auch für ihn. Und Katja konnte nicht nein sagen. Es war ein wundervolles Gefühl nach den langen Jahren innerer Einsamkeit, Zuneigung geschenkt zu bekommen.

»Dafür ist der beste Champagner gerade gut genug«, sagte Marian, und schon eilte er in den Keller, um eine Flasche zu holen.

Ulrike sah dann, wie seine Lippen zuckten, als er mit Katja anstieß, und als er sich hinabbeugte, um sie zu ­küssen, leuchtete es in ihren Augen auf.

»Auf eine glückliche Zukunft«, sagte sie innig, als sie Katja in die Arme nahm.

*

Nun gingen sie diesen Schritt für Schritt entgegen, ahnend, daß es wohl noch manche Klippe zu überwinden galt, denn es gab ja noch eine Jana Frey, die nicht so rasch auf Marian verzichten wollte.

Er lehnte es ab, sich mit ihr zu treffen. Er sagte ihr klipp und klar am Telefon, daß sie ihn in Ruhe lassen solle. Er stürzte sich in die Arbeit wie nie zuvor und wartete nur auf die Abendstunden, die er mit Katja verbringen konnte. Kurz genug waren sie, denn Katja hatte in der Praxis viel zu tun.

Maria zeigte sich sehr gelehrig. Anke kam auch gut mit ihr aus, und langsam gewann Maria auch mehr Selbstbewußtsein. Ihre Dankbarkeit kannte keine Grenzen.

Dann jedoch kam eines Tages Rosmarie Ebling mit ihrem Maxi in die Praxis. Sie musterte Maria intensiv.

»Sie haben eine neue Hilfe, Frau Doktor«, sagte sie. »Es ist komisch, aber ich muß es Ihnen doch sagen. Sie hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der jungen Frau, die damals das Baby zurückließ.«

»Tatsächlich?« fragte Katja, doch erstaunt, daß Rosmarie ein so gutes Gedächtnis bewies.

»Hat sich eigentlich herausgestellt, wer das war?« fragte Rosmarie.

»Ja, es ist alles geklärt«, erwiderte Katja. »Im Interesse aller Beteiligten soll darüber Stillschweigen bewahrt werden.«

»Ich will ja auch nicht neugierig sein«, sagte Rosmarie, »meine Freundschaft mit Renate Schöler hat schon einen großen Knacks bekommen, weil sie ihre Zunge nicht im Zaum halten konnte. Mein Mann hält nämlich sehr viel von Herrn Höller, das wollte ich Ihnen nur sagen. Es wird wirklich zuviel geredet.«

»Man braucht nicht hinzuhören«, sagte Katja lächelnd. »Es wird sich herumgesprochen haben, daß ich oft bei den Höllers bin. Wir sind befreundet. Ich betrachte das als meine Privatangelegenheit.«

»Bitte, mißverstehen Sie mich nicht. Es geht darum, daß wir Herrn Höller doch zum Richtfest einladen, und da wollte ich Sie fragen, ob Sie vielleicht auch kommen würden.«

»Warum nicht, wenn es zeitlich geht«, erwiderte Katja. »Ich habe noch nie ein Richtfest mitgemacht.«

»Es ist am Samstag«, sagte Rosmarie.

Katja wußte das schon, denn Ma­rian hatte sie bereits gefragt, ob sie mitkommen würde. Damit man sich daran gewöhnen kann, daß sie jetzt zusammengehörten, hatte er dazu gemeint.

Rosmarie Ebling strahlte, als Katja zusagte. Katja amüsierte sich insgeheim.

Wie ernst es zwischen ihr und Marian bereits war, wußten nur die Nordens. Sie hatten ihre Skepsis, ob es gutgehen würde, allerdings auch noch nicht ganz aufgegeben.

»Höller und Höller, wenn sie heiraten, braucht sie nicht mal den Namen zu ändern«, meinte Fee lächelnd. »Aber wie werden sich die beruflichen Interessen vereinbaren lassen? Meinst du, daß Katja die Praxis aufgeben wird, Daniel?«

»Das wird sich herausstellen.«

Freilich hatte auch Marian solche Überlegungen schon angestellt, aber es war kein Gesprächsthema zwischen ihnen. Er wußte, daß Katja diesbezüglich ihre eigenen Ansichten hegte.

Dieser eigenwillige Mann konnte sich plötzlich anpassen, und er war auch zu Kompromissen bereit. Ulrike erlebte staunend die Wandlung ihres Sohnes. Nur eine große Liebe konnte solche Wandlung bewirken. Und Marian, der das Wort Liebe nie in den Mund genommen hatte, leugnete es nicht mehr.

»Du bist jetzt an die zweite Stelle gerückt, Mama«, erklärte er eines Tages.

»Das freut mich«, erwiderte sie lächelnd. »Es macht mich glücklich.«

»Ich liebe Katja«, sagte er leise, »ich liebe sie über alles. Ich lebe ständig in der Angst, sie zu verlieren.«

»Das brauchst du nicht, Marian, aber es ist der Beweis, daß es wirkliche Liebe ist.«

»Sie kommt«, sagte er, und schon lief er hinaus, ihr entgegen. Er nahm sie in die Arme.

»Vorsicht«, scherzte sie, »man kann uns beobachten.«

»Meinetwegen«, sagte er und küßte sie.

Und da stand Jana vor der Gartentür. Oft genug war sie hier herumgestrichen, und nun hatte sie endlich ihren großen Auftritt, auf den sie sich so lange vorbereitet hatte.

»Herzlichen Glückwunsch«, sagte sie zynisch, »aber lange werden Sie sich Ihres Glückes nicht erfreuen, Frau Dr. Höller. Der Name Höller bürgt durchaus nicht für Qualität. Ich bin gern bereit, Sie über den Charakter dieses feurigen Liebhabers aufzuklären.«

Schrill tönte ihre Stimme durch den Garten, bestimmt weithin hörbar. Marians Zornesadern schwollen an. Katja löste sich aus seinem Arm, und eine beklemmende Angst stieg in ihm empor.

»Ich habe Sie nicht darum gebeten, Frau Frey«, sagte Katja eisig. »Sie dürfen mir eigene Urteilskraft zutrauen. Ich bin nur peinlich berührt, wenn eine Frau sich so lächerlich macht. Eine Affäre ist beendet. Um mein Seelenheil brauchen Sie nicht besorgt zu sein.« Sie griff nach Marians Hand. »Gehen wir hinein, Marian«, sagte sie genauso ruhig.

Er fand lange keine Worte. Er hielt sie nur stumm in seinen Armen.

»Gib mir eine Ohrfeige«, murmelte er dann.

»Ich werde mich hüten«, sagte sie und küßte ihn.

»Ich hätte ein Dutzend verdient für diese blöden Affären.«

»Die liegen vor meiner Zeit. Solltest du aber jemals eine haben, wenn wir verheiratet sind…«

Sie kam nicht weiter, so fest legten sich seine Lippen auf ihren Mund, und schnell zog sich Ulrike wieder zurück. Über ihr eben noch besorgtes Gesicht glitt ein zufriedenes Lächeln. Und dann hörte sie, wie Marian sagte: »Und jetzt werden wir sehen, was unser Sohn für Fortschritte macht.«

Da überließ sie den beiden auch das Kinderzimmer.

*

Eine weitere Überraschung erlebten sie am Freitagabend. Frank und Anna Degato hatten Marian ihren Besuch telefonisch angekündigt. Sie wären auf der Durchreise nach Rom, hatte Frank gesagt, und sie wollten sich noch persönlich für Marians Glückwünsche zur Hochzeit bedanken. Ziemlich verlegen hatte seine Stimme geklungen, und nur zögernd hatte er Marians Einladung angenommen.

»Mal sehen, was wir nun erfahren«, sagte Marian gelassen.

Katja konnte nicht kommen. Sie mußte noch Hausbesuche machen, das war Marian diesmal ganz recht.

Anna hätte er gewiß nicht wiedererkannt. Eine aparte junge Frau, mit dezenter Eleganz gekleidet, reichte Marian mit einem etwas erzwungenen Lächeln die Hand.

»Lange nicht gesehen«, sagte Frank unsicher. »Ich bin dir wohl eine Erklärung schuldig, Marian.«

»Wofür?«

»Diese blöde Wette, du hast ja von Arndt davon erfahren, wie er mir sagte.«

»Ist längst vergessen«, erwiderte Marian. »Aber eine kurze Mitteilung, daß ihr euch gefunden habt, hätte mich schon gefreut.«

»Es war so eine blöde Situation«, sagte Frank.

»Wegen Anita?«

»Wir waren nicht eng befreundet«, warf Anna ein. »Wir waren auch sehr verschieden. Ich war so ein Mauerblümchen und konnte es gar nicht begreifen, daß Frank ein ernstes Interesse an mir haben könnte.«

»Das Veilchen, das im Verborgenen blüht«, sagte Frank, »aber ich habe den Wert erkannt.«

»Du bist jedenfalls kein Mauerblümchen, Anna«, sagte Marian. »Du wußtest, daß Anita ein Kind erwartet.«

»Ja, das wußte ich, aber wir wissen auch, daß du nicht der Vater bist. Ich denke, wir sind es dir schuldig, dir das zu sagen.«

»Sag es nur nicht zu laut, ich bin schon dran, den Kleinen zu adoptieren.«

»Das ist doch Wahnsinn, Marian«, sagte Frank. »Du bist bestimmt nicht der Vater. Anita wollte nicht, daß dessen Namen bekannt wird.«

»Aber ihr wißt, wer es war, und ich weiß es auch, und es wird kein Wort mehr darüber verloren.«

Sie starrten ihn ungläubig an.

Marian lächelte. »Mir hat das Kind jedenfalls Glück gebracht, das Glück meines Lebens.«

Und da kam Katja gerade im richtigen Augenblick. »Meine zukünftige Frau Katja«, sagte Marian, seinen Arm um sie legend. »Das sind Frank und Anna.«

»Sie sind auf dem Wege nach Rom?« fragte Katja.

»Geschäftlich«, erwiderte Frank hastig.

»Aber ihr werdet doch Ralf treffen?« fragte Marian.

»Er ist nicht mehr in Rom. Ich weiß nicht, was du weißt, Marian, aber um noch einmal auf Anitas Kind zu kommen…«

»Es wird unser Kind sein«, sagte Katja, bevor er den Satz vollenden konnte »Anita ist tot. Sie hat ihr Geheimnis mit ins Grab genommen.«

»Nein, das hat sie nicht. Sie wollte nicht, daß einer von vieren dafür gerade stehen soll, das muß ich sagen. Zu allerletzt wohl Marian, der von zwei Freunden ausgeschaltet wurde. Aus diesem Grunde war ich Frank sehr, sehr böse.«

»Whisky im Wein kann wirklich sehr gefährlich sein, das muß ich als Ärztin sagen«, warf Katja ein. »Aber uns hat das Kind zusammengeführt, Und wir werden es liebhaben.«

Sie war es auch, die das betretene Schweigen überbrückte. »Wollen Sie sich unseren Ulli anschauen?« fragte sie.

»Ja, gern«, erwiderte Anna rasch.

Ulrike hatte sich noch nicht blicken lassen, aber nun begrüßte auch sie die Gäste, wenngleich mit einer Zurückhaltung, die Katja an ihr noch nicht kannte.

Marian und Frank blieben zurück, als die Damen zum Kinderzimmer gingen.

»Ist das ein Gentlemanagreement zwischen dir und Arndt?« fragte Frank leise.

»Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts«, erwiderte Marian. »Maria, Anitas Cousine hat uns das Kind gebracht. Anita hatte wohl mal gesagt, daß sie glücklich wäre, wenn der Kleine Höller heißen würde. Nun, er wird Höller heißen. Sonst kein Kommentar.«

Frank sah ihn bewundernd an. »Dir hätte ich so was nie zugetraut, Ma­rian«, sagte er.

»Ich mir selber auch nicht, aber es gibt ja Katja. Sie kann alles, sogar mich zu einem treuen Ehemann erziehen. Aber für den Whisky im Wein seid ihr mir noch etwas schuldig.«

»Was?«

»Pate zu stehen, wenn Ulli getauft wird.«

»Ralf brauchst du da nicht zu fragen. Er wird froh sein, wenn er nicht mehr an diese Geschichte erinnert wird, aber auf mich kannst du zählen.«

»Und sonst herrscht Diskretion«, sagte Marian.

»Darauf kannst du dich verlassen. Ich bin froh, daß ich ein ruhiges Gewissen habe, Marian.«

»Und eine nette Frau«, sagte Ma­rian. »Die unruhigen Jahre sind vorbei, und gemeinsam werden wir nie mehr in Urlaub gehen.«

»Kein Urlaub ohne Anna«, sagte Frank.

»Kein Urlaub ohne Katja«, lächelte Marian. »Nun schau dir aber auch unseren Sohn an.«

Und der präsentierte sich von einer ungnädigen Seite, als wolle er kundtun, daß ihm zuviel Gesellschaft nicht genehm sei.

Als Marian ihn auf den Arm nahm und sagte: »Jetzt heißt du Höller, benimm dich entsprechend«, jauchzte er laut. »Und sei auch zu deinem Paten etwas freundlicher.«

Ulrike zuckte ganz leicht zusammen, aber als Anna sagte: »Ein Junge sollte eine Patin haben, und ich würde es gern sein«, lächelte sie wieder.

»Dann sehen wir uns also zur Taufe wieder«, sagte sie herzlich.

»Wann wird die sein?« fragte Anna.

»Es kommt ganz darauf an, wann Katja sich entschließt, mit mir aufs Standesamt zu gehen«, erwiderte Marian.

»Hoffentlich nicht erst, wenn Ulli schon reden kann«, meinte Ulrike lächelnd.

»Das ist allerdings ein Argument«, sagte Katja mit einem Augenzwinkern zu Ulrike. »Mama denkt an alles.«

»Es wird auf jeden Fall die Adop­tion beschleunigen, wenn ich auch eine Ehefrau aufzuweisen habe«, warf Marian ein. »Es glaubt ja niemand, wieviel Schwierigkeiten einem da gemacht werden.«

»Davon hast du mir nichts gesagt«, äußerte sich Katja bestürzt.

»Ich wollte dich in keiner Weise unter Druck setzen, Liebes. Nur Ulli zuliebe sollst du ja nicht ja sagen.«

»Dummkopf«, lachte sie, »aber damit es klar ist, die Praxis gebe ich nicht auf.«

*

Kommt Zeit, kommt Rat, dachte Ulrike in ihrem unerschütterlichen Optimismus. Eins nach dem anderen. Aber mit Tränen der Freude in den Augen seufzte sie doch erleichtert auf, als Marian und Katja vier Wochen später ihre Namenszüge unter die Heiratsurkunde setzten.

So zügig hatte wohl selten eine so frischgetraute Frau unterschrieben, aber sie brauchte ja nicht umzulernen.

Der Standesbeamte war verwirrt genug gewesen und hatte auch gefragt, ob sie miteinander verwandt wären.

Aber sie hatten längst herausgefunden, daß auch nicht die entfernteste Verwandtschaft zwischen ihnen bestand was den Namen betraf, aber sonst konnte kein Zweifel mehr bestehen, daß sie eins waren in ihren Gefühlen, in einer alles verstehenden Liebe.

In der kleinen Dorfkirche in Marias Heimat, dort, wo Ulrich Marian Höller geboren worden war, ließen sie sich kirchlich trauen, und danach wurde ihr Sohn getauft.

Ulrike und Minchen, Frank und Anna, Maria und Resi Rittner waren die einzigen Zeugen dieses feierlichen Aktes, der einen dicken Strich unter die Vergangenheit zog und verheißungsvoll eine glückliche Zukunft verkündete.

Welch ein Glück für dieses Kind, solche Eltern gefunden zu haben, hatte der Pfarrer tiefbewegt gesagt.

»Welch ein Glück«, wiederholte Resi Rittner laut, und dann kniete sie nieder. Maria zündete eine Kerze an und faltete die Hände, von Dankbarkeit erfüllt, daß auch sie eine Heimat gefunden hatte. Sie gehörte dazu, sie konnte teilhaben an dem Glück, und ihr schmales Gesicht war ganz verklärt, als Ulrike sie in den Arm nahm und sagte: »Eigentlich haben wir ja alles dir zu verdanken, Maria.«

»Und ich dir, geliebte Katja«, sagte Marian feierlich. »Ich werde dich auf Händen tragen, das verspreche ich dir.«

*

Die Heiratsanzeige wurde erst ein paar Tage später verschickt. Sie lautete: Katja und Marian Höller geben ihre Heirat zugleich mit der Adoption ihres Sohnes Ulrich Marian bekannt.

Arndt Höller wurde blaß, als ihm seine Frau Hella die Anzeige unwillig vor die Nase hielt.

»Typisch Marian«, sagte sie, »aber er scheint die entsprechende Frau gefunden zu haben. Nicht mal eingeladen haben sie uns zur Hochzeit.«

»Hättest du die Einladung angenommen?« fragte er heiser.

»Natürlich nicht. Ist es ihr Kind oder sein Kind?«

»Es ist wohl ein adoptiertes Kind«, erwiderte er tonlos.

»Weder seines noch ihres? Das glaubst du doch wohl selber nicht, aber seine Eskapaden waren ja bekannt. Ich hatte ja gleich etwas dagegen, als du mit ihm den Urlaub in Griechenland machtest. Noch einmal erlaube ich so was nicht.«

»Es wird nicht wieder vorkommen, Hella«, sagte Arndt. »Er ist verheiratet, Frank auch, und Ralf wird wahrscheinlich auch bald heiraten.«

»Ich möchte wissen, was du sagen würdest, wenn ich mit meinen Freun­dinnen Urlaub machen würde«, sagte sie.

»Ich habe nichts dagegen.«

»Das könnte dir so passen. Nächstes Jahr fahren wir mit meinen Eltern an die Nordsee.«

»Das ist ja schon beschlossen«, sagte er müde.

»Aber ich würde Marians Frau gern mal kennenlernen.«

»Es wird sich irgendwann schon ergeben«, sagte er.

»Und wenn sie nicht vorher schon wieder geschieden sind.«

»Sie ist ganz bestimmt eine großartige Frau«, sagte er leise, und dann verließ er das Zimmer. Manche mochten wohl ebenso denken wie Hella Höller, aber sie sollten eines Besseren belehrt werden. Bald tuschelte man nicht mehr.

Marian ging seiner Arbeit nach, wie Katja auch. Um Ulli brauchten sie sich keine Sorgen zu machen. Er hatte die liebevollste Großmama der Welt und sein Minchen. Und abends hatte er auch seine Eltern, die es durchaus nicht übelnahmen, daß er zuerst »Omi« sagte.

Für Katja war es eine große Freude, als Heidi Wacker einem gesunden Jungen das Leben schenkte und schon wenige Tage später auch Rosmarie Ebling ihren Mann und Sohn mit einem Töchterchen und Schwesterlein erfreuen konnte. Aber nun mußte sie auch schon daran denken, eine Vertretung für ihre Praxis zu finden, denn bei ihnen kündigte sich auch Nachwuchs an, allen Prognosen zum Trotz, die erfahrene Kollegen ihr einmal erstellt hatten.

Es war ihr damals nicht leichtgefallen, es Marian zu sagen, daß sie wohl nie eigene Kinder bekommen würden, aber da hatte er nur gesagt, daß sie ja Ulli hätten. Und dann hatte er das große Zittern bekommen, als es doch ganz anders kam. Ja, die Natur hatte ihre eigenen Gesetze, und es bedurfte wohl nur des richtigen Partners, um Wunder zu vollbringen. Und es war Dr. Norden vorbehalten, diesem Kind zum Erdendasein zu verhelfen, denn es hatte es sehr eilig.

Katja hatte Ulli gerade den Gute­nachtkuß gegeben, als die Wehen einsetzten. Sie klammerte sich an das Bettchen.

»Ich habe doch gesagt, daß du ihn nicht mehr heben sollst«, sagte Ma­rian. »Er ist genauso ein Brocken wie ich es war.«

»Red nicht so viel«, flüsterte sie. »Ulli will schlafen.«

»Mami lieb, Papi lieb«, plapperte Ulli, »Omi tommt.«

Die Omi war heilfroh, als er bald einschlief. Und sie rief lieber Dr. Norden herbei. Und dann war keine Zeit mehr, Katja noch in die Klinik zu bringen.

»Auch die besten Ärzte können sich verrechnen«, war alles, was Katja noch sagen konnte, dann war das Kind auch schon da, und Marian brauchte ziemlich lange, um es zu begreifen. Aber es war wohl der größte Augenblick in seinem bisherigen Leben, sein Kind, sein eigenes Kind, als erster in den Händen halten zu können, die Tochter, die er sich gewünscht hatte. Und für Ulrike Höller war es das schönste Erlebnis, die Tränen unendlichen Glückes in den Augen ihres Sohnes zu sehen, als er dieses kleine Wesen seiner geliebten Frau in die Arme legte.

»Es ist ein Mädchen«, verkündete Daniel Norden seiner Frau Fee, »und was meinst du, wie sie heißen wird?«

»Katja?«

»Désiree, Katja nur mit dem zweiten Namen.«

»Désiree hast du mich früher auch genannt, Daniel«, sagte Fee zärtlich.

»Die Ersehnte, das Wunschkind«, sagte er.

»Warum haben wir eigentlich keine Désiree?« fragte sie.

»Wir haben doch nur Wunschkinder, und du bist eben die gute Fee für uns alle.«

»Sie sind glücklich«, flüsterte sie.

»Wir auch«, sagte er innig.

»Sie wird jetzt auch keine Zeit mehr für die Praxis haben. Bestimmt ist sie eine gute Mutter.«

»Wie du. Bereust du es, deinen Beruf aufgegeben zu haben, Liebstes?«

»Nein.«

»Sie wird es auch nicht bereuen.«

Katja bereute es nicht. Sie wollte keinen Augenblick im Leben dieses Kindes versäumen, das die Krönung ihrer Liebe war. Aber die schönsten Augenblicke waren es, wenn sie Hand in Hand mit Marian an der Wiege stand und der kleine Ulli so zärtlich sagte: »Unser Baby, unsere Süße.«

»Er wird dir immer ähnlicher, Marian«, sagte Katja gedankenvoll.

»Blut ist dicker als Wasser«, meinte er, »aber er kann was erleben, wenn er auch solche Eskapaden macht wie ich. Dem werde ich was erzählen.«

Ihr sagte das nur, wie ganz auch Ulli ihr Kind geworden war.

»Wollte Arndt uns nicht mal besuchen?« fragte sie.

»Er möchte wohl, aber dann würde Hella mitkommen. Es ist nicht einfach, mit einem schlechten Gewissen leben zu müssen, mein Liebes. Um davon befreit zu werden, braucht man die richtige Frau.«

»Du brauchst doch aber kein schlechtes Gewissen zu haben, Marian, du zu allerletzt«, erwiderte Katja zärtlich.

»Ich habe ja auch die verständnisvollste Frau bekommen.«

»Darf ich mal stören, Désiree hat Hunger?« fragte Ulrike.

»Du störst nie, Mama«, erwiderte Katja.

Dr. Norden Bestseller Paket 4 – Arztroman

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