Читать книгу Dr. Norden Bestseller Paket 4 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 5

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Wenn Lady Clarissa Thornhill auf der Insel der Hoffnung erwartet wurde, bereitete man stets einen besonders festlichen Empfang vor.

Seit Bestehen der Insel kam Lady Clarissa jedes Jahr für sechs Wochen hierher. Mit Dr. Johannes Cornelius und seiner Frau Anne hatte sie längst Freundschaft geschlossen.

Seit vierzehn Jahren war sie mit Robert Thornhill in zweiter Ehe verheiratet. Über ihre erste Ehe sprach sie nie. Wozu auch, meinte Anne Cornelius, denn sie wußten ja, wie glücklich Clarissa mit ihrem Mann und dessen Sohn Tim war, dessen Mutter sehr früh gestorben war.

Robert Thornhill trug seine Frau auf Händen, und Tim betete seine Mummy an.

Er war jetzt zweiundzwanzig Jahre und studierte in München. An diesem Vormittag war er jedoch nicht zur Vorlesung gegangen. Ungeduldig wartete er auf dem Flugplatz auf die Ankunft des Flugzeuges aus London, mit dem Clarissa kommen sollte.

Zwei Tage wollte sie in München verbringen und Einkäufe tätigen, bevor sie zur Insel der Hoffnung weiterfuhr. Und selbstverständlich wollte sie sich auch Zeit nehmen für einen Besuch bei Dr. Daniel Norden und seiner Frau Fee, um sich zu überzeugen, wie die Kinder gediehen, die sie ja von kleinauf kannte.

Tim Thornhill war ein hochgewachsener junger Mann mit rostbraunem Haar, hellwachen grauen Augen und jenem Charme, den man »englisch« nannte, der einfach vorhanden war, ohne betont zu werden.

Viele wohlgefällige Blicke galten ihm, doch er nahm diese nicht zur Kenntnis. Sonst die Ruhe selbst, wurde er nervös, als für die Maschine Verspätung angesagt wurde.

Aber dann kam sie endlich, und Tim sah seine Mummy schon von weitem. Zweiundvierzig Jahre war Clarissa Thornhill alt, eine schöne blonde Frau, ladylike vom Scheitel bis zur Sohle, von bestechender Anmut und wie immer mit dezenter Eleganz gekleidet.

Stürmisch wurde sie von Tim umarmt und geküßt. Zärtlich fuhr sie ihm durch das dichte Haar. »Erdrück mich nicht, Timmy«, sagte sie mit einem weichen Lachen.

»Ich bin so froh, dich zu sehen«, sagte er. »Warum hatte die Maschine Verspätung?«

»Der Start hatte sich verzögert. Wir müssen Daddy gleich anrufen, damit er sich keine Sorgen macht. Er kommt schon in vierzehn Tagen nach.«

Arm in Arm gingen sie zu Tims Wagen. »Laß uns erst zum Essen gehen«, sagte Clarissa. »Auf den Lunch im Flugzeug konnte ich verzichten. Nein, halt erst bei der Post an. Von dort bekomme ich am schnellsten Verbindung, wenn es mit der Durchwahl nicht klappen sollte.«

Aber es klappte mit der Durchwahl, und Clarissa konnte ihren Mann beruhigen, daß sie gut gelandet sei.

Tim hörte dann noch Ermahnungen seines Vaters, ja gut auf Clarissa aufzupassen, und Clarissa lachte dazu. »Ich habe schon zwei verrückte Männer«, sagte sie, aber man konnte es ihr ansehen, wie glücklich sie dar­über war.

»Nun erzähl mal, Tim«, bat Clarissa, als sie in einem ruhigen, stilvollen Restaurant beim Essen saßen. »Lerne ich diesmal eine Freundin kennen?« Ein schelmisches Lächeln umspielte dabei ihre Lippen.

»Fehlanzeige, Mummy. Es gibt keine, die dir gleichkommt. Die Frau muß erst noch gebacken werden, sagt man hier.«

»Kannst dir ja auch Zeit lassen«, meinte sie. »Und was macht das Studium?«

»Ich kann es mir leisten, ein paar Vorlesungen zu schwänzen und dich zu beschützen.«

Sie konnte sicher sein, daß er nicht von ihrer Seite weichen würde. Und welche Angst hatte sie einmal gehabt, daß Roberts Sohn sie ablehnen würde! Schließlich war Tim bereits acht Jahre gewesen, als sie Lady Thornhill geworden war, dem Schicksal dankbar, von einem großartigen, verständnisvollen Mann geliebt zu werden, der sie nach leidvollen Jahren einer glückverheißenden Zukunft entgegenführte. Aber Tim hatte sie sofort akzeptiert.

»Was brauchen wir fürs Abendessen, Tim?« fragte sie, als sie dann durch die Fußgängerzone zum Parkplatz gingen.

»Alles eingekauft, Mummy«, erwiderte er. »Ich weiß ja, was dir schmeckt.«

Die hübsche Zwei-Zimmer-Wohnung in der Nähe des Englischen Gartens war blitzblank. Blumen standen zum Empfang bereit, und Clarissa konnte sich wieder einmal über ihren großen Sohn freuen, der ihnen tatsächlich niemals Sorgen bereitet hatte. Ja, sie hatte allen Grund dankbar zu sein, entschädigt dafür, was sie einmal am Leben verzweifeln ließ.

Es freute sie immer wieder, wie sorgsam Tim mit seinen Sachen umging und auch mit dem Geld, das ihm zwar reichlich zur Verfügung stand, das er aber doch nicht vergeudete.

Immer hatte er für Clarissa eine hübsche Überraschung bereit, wenn sie ihn besuchte, und diesmal war es ihm gelungen, zwei sehr gute Karten für »La Traviata« zu ergattern.

»Das ist ja wunderbar, Tim, wie hast du das angestellt?«

Er zwinkerte ihr verschmitzt zu. »Wir haben ja eine gute Fee in München. Sie hat ein bißchen nachgeholfen.«

»Fee Norden? Die Liebe! Ich werde sie gleich anrufen.«

»Brauchst du nicht, Mummy, wir treffen sie heute abend in der Oper, und wenn alles klappt, kommt Daniel auch mit.«

»Wie schön, ich freue mich! Du bist ein echter Schatz, Tim.«

»Das Prädikat billigen wir lieber Fee zu«, lachte er.

»Dir aber auch. Wenn dich die Nordens nicht so gern hätten, blieben sie auf Distanz.«

»Sie mögen vor allem dich, Mummy. Aber ich kann sagen, daß wir uns auch sehr gut verstehen. Es ist schön, wenn man immer mal mit so lieben Menschen beisammen sein kann. Es gibt so wenig Frauen, die so sind wie du und Fee.«

Er war sehr kritisch und sehr vorsichtig. Clarissa wußte es. Sie freute sich auf den Abend.

*

Fee Norden freute sich auch. Sie freute sich doppelt, weil Daniel sie begleiten konnte. Es lag endlich einmal kein dringender Fall vor, der sein Gewissen geplagt hätte, wenn er bei einem Anruf nicht gleich zur Stelle hätte sein können.

Fee hatte sich für das zartblaue Chiffonkleid entschieden und wurde von ihren Kindern wortreich bewundert. Für sie war die Mami die schönste Frau der Welt, und die liebste dazu. Für Daniel war sie auch noch die begehrenswerteste, aber er mußte ehrlich zugeben, daß auch Clarissa mit Superlativen bedacht werden konnte.

Sie trug ein Kleid aus lindgrüner Wildseide, das allein durch einen raffinierten Schnitt wirkte, und dazu eine rosaschimmernde Perlenkette.

Fee hatte sie gleich entdeckt. »Umwerfend wie immer«, raunte sie ihrem Mann zu.

»Du aber auch«, gab er zurück. »Und Tim kann sich auch sehen lassen. Er ist ein richtiger Mann geworden.«

»Die Mädchen sind ja auch genug hinter ihm her«, lächelte Fee. »Aber er schwärmt nur für seine schöne Mutter.«

»Immerhin ist sie seine Stiefmutter, und manchmal gibt mir das doch zu denken«, sagte Daniel leise.

»Laß das bloß Clarissa nicht hören! Von wegen Stiefmutter! Ein eigenes Kind könnte sie bestimmt nicht mehr lieben.«

Nun kam Clarissa auf sie zugeeilt, und eine sehr herzliche Begrüßung folgte. Zwei schöne blonde Frauen, zwei attraktive Männer, das blieb natürlich nicht unbeachtet.

»Schau mal, Michi, da ist Tim Thornhill«, sagte ein junges Mädchen zu ihrer Begleiterin. »Welche von den Blondinen mag wohl zu ihm ge­hören?«

»Keine Ahnung, unsere Altersklasse sind sie nicht, Nanni. Und damit können wir nicht konkurrieren«, erwiderte Michi seufzend. »Aber er ist ja auch eine Klasse für sich.«

Dann gingen sie aber Arm in Arm so dicht vorbei, daß Tim sie nicht übersehen konnte. »Hello«, sagte er, aber mehr nicht, und sie riefen auch nur »Hello« zurück.

Clarissa lächelte. »Nette Mädchen«, sagte sie, »willst du uns nicht bekannt machen, Tim?«

»Wozu? Man sieht sich mal auf der Uni oder zufällig woanders.«

Und nicht eine Spur von Interesse war aus der Bemerkung zu hören.

Sie konnten eine herrliche Aufführung erleben und saßen dann noch gemütlich in einer Weinstube zusammen. Clarissa versprach Fee, am nächsten Tag zu kommen, um den Kindern selbst die Mitbringsel zu geben.

»Es geht nicht um die Mitbringsel, sie wollen dich sehen«, sagte Fee. »Sie sprechen oft von dir.«

»Lieb, daß sie sich an mich erinnern«, sagte Clarissa, und plötzlich war ein Hauch von Wehmut in ihrer Stimme, was Fee nachdenklich stimmte. Aber schnell lenkte Clarissa ab.

»Ich hoffe, daß ihr mal auf die Insel kommt, solange ich dort bin«, sagte sie.

»Wir werden es möglich machen«, versprach Fee.

Dann gelang es Clarissa, Daniel ganz kurz allein zu sprechen, aber Fee entging es nicht, daß sie mit ihm flüsterte.

*

»Was wollte Clarissa von dir?« fragte sie.

»Dir entgeht wirklich nichts«, erwiderte er mit einem flüchtigen Lächeln, aber sein Gesicht war auch nachdenklich.

»Sie will morgen mal in die Praxis kommen, aber sie muß erst Tim irgendwie abwimmeln, weil er sie ja keinen Schritt allein gehen läßt.«

»Und was will sie in der Praxis?« fragte Fee sinnend.

»Ich weiß es noch nicht, aber du wirst es mir bestimmt entlocken, mein Schatz.«

»Sie ist so offen«, sagte Fee gedankenvoll, »aber über ihre erste Ehe hat sie noch nie ein Wort verloren.«

»Vielleicht lohnt es sich nicht, ein Wort darüber zu verlieren, mein Liebes. Jetzt hat sie jedenfalls einen Ehemann und einen Sohn, von denen sie angebetet wird.«

»Sie verdient es«, sagte Fee. »Sie ist klug, schön und liebenswert dazu.«

»Genau wie du. Der Schöpfer hatte eine Sternstunde, als er seinen Segen über eure Mütter ergoß.«

»Ich will nicht, daß du spottest, Daniel.«

»Das meine ich wirklich ernst, Geliebte, auch wenn es theatralisch klingt«, sagte er und küßte sie auf die Nasenspitze.

Am nächsten Vormittag machte Clarissa Einkäufe. Natürlich war Tim immer an ihrer Seite. Er fuhr sie auch zu den Nordens. Aber da kam ihr dann doch eine Idee. Einen Ort gab es, wohin er sie nicht begleitete, den Friseur, und sie konnte sich da Fee Nordens Hilfe sicher sein, denn sie hatte einen ausgezeichneten Friseur. Und eine zweite Idee hatte sie auch noch.

Von den Kindern wurden sie jubelnd begrüßt. Tim war ja öfter bei den Nordens und wurde besonders von Anneka heiß geliebt, die ihm schon jetzt versicherte: »Heirate dich mal, Tim.«

Natürlich lachte man darüber, aber Clarissa dachte sich dabei mehr. Tim liebte Kinder, und sie konnte sehen, wie reizend er sich mit ihnen beschäftigte. Sie konnte wirklich nur hoffen, daß er einmal eine Frau fand, die ihn ganz verstand, die nicht nur sein anziehendes Äußere begehrenswert fand, sondern auf seine Gedanken und Gefühle eingehen konnte, die er nicht jedem offenbarte.

Und ihr fiel es schwer, ihn zu beschwindeln, aber was sie mit Daniel Norden besprechen wollte, lag ihr sehr am Herzen.

»Ich habe eben beschlossen, daß ich zu Fees Friseur gehe und mir einen neuen Schnitt verpassen lasse, Tim«, sagte sie, »und du könntest mir inzwischen ein paar Bücher besorgen, die ich mit auf die Insel nehmen möchte. Fee hat sie mir empfohlen. Es gibt in der Nähe eine sehr gute Buchhandlung.«

»Ich bringe dich selbstverständlich zum Friseur und hole dich auch wieder ab«, sagte er.

»Abholen brauchst du mich nicht«, erwiderte Clarissa. »Ich weiß nicht, wie lange es dauert. Wir treffen uns dann wieder hier. Fee möchte, daß wir zum Abendessen bleiben.«

»Ja, ihr sollt bleiben!« riefen die Kinder.

Was Clarissa nur von Daniel will, überlegte Fee. Wenn es um einen ärztlichen Rat geht, könnte sie doch auch Paps fragen.

Aber sie hatte ihren Friseur schon angerufen. Clarissa wurde schnellstens bedient, und als sie das Geschäft verließ, blickte sie sich erst vorsichtig um, ob Tim nicht doch irgendwo warten würde.

Doch Tim hatte indessen etwas ganz anderes zu tun, was Clarissa nicht im entferntesten ahnen konnte.

Er hatte die Buchhandlung kaum betreten, als er auch schon wie festgenagelt stehenblieb und ein junges Mädchen anstarrte, das auf einer Leiter stand und herunterblickte, als der Türgong anschlug. Nur zwei Kunden waren im Laden.

Das Mädchen hatte braunes Haar, aber das bemerkte Tim gar nicht. Was er bemerkte, raubte ihm den Atem, denn dieses Mädchen sah Clarissa so ähnlich, daß ihm der Herzschlag stockte. Immer hatte er sich gewünscht, einmal einem Mädchen zu begegnen, das Clarissa auch nur entfernt ähnlich sehen möge, aber nun blickte er in violette Augen, umgeben von einem dichten schwarzen Wimpernkranz, er sah ein ovales Gesicht, eine feine, kurze Nase, einen weichen Mund, der nicht oft zu lächeln

schien.

Das Mädchen stieg die Leiter herab. Lange, schlanke, wohlgeformte Beine sah Tim auch, aber das Gesicht war ihm viel wichtiger.

»Sie wünschen?« fragte das Mädchen leise und verlegen errötend, weil er sie so durchdringend anblickte.

Reiß dich zusammen, Tim, mahnte er sich und brachte es dann tatsächlich fertig, den Zettel aus seiner Jackentasche zu nehmen, den Clarissa ihm gegeben hatte.

»Haben Sie diese Bücher?« fragte er.

»Ich muß nachschauen. Ich bin erst drei Wochen hier«, erwiderte das Mädchen.

»Sie können sich ruhig Zeit lassen«, sagte Tim. »Ich schaue mich um.«

Sein Deutsch war perfekt, aber der Akzent gab ihm eine aparte Note.

»Sie sind Engländer?« fragte das Mädchen.

»Wie kommen Sie so schnell darauf?« fragte er überrascht.

»Ich war vier Wochen in England im Schüleraustausch.« Sie lächelte. Es war ein bezauberndes Lächeln. »Ich höre den Akzent sofort heraus. Und ich freue mich, wenn ich Englisch sprechen darf, damit ich in der Übung bleibe.«

»Dann sprechen wir doch Englisch«, sagte er, mit einem unbegreiflichen Glücksgefühl, wie er es noch niemals empfunden hatte.

*

Clarissa ließ sich mit einem Taxi zu Dr. Norden bringen. Genau fünfzig Minuten hatte sie bei dem Friseur verbracht. Mehr als zehn Minuten würde sie nicht brauchen, um sich von Dr. Norden die Frage beantworten zu lassen, die ihr so am Herzen lag, und sollte Tim tatsächlich noch zu dem Friseur fahren, um sie abzuholen, denn zuzutrauen war ihm das schon, konnte sie immer noch sagen, daß sie sich noch ein paar Schaufenster angeschaut hatte.

Auf keinen Fall sollte Tim erfahren, was ihr doch einige Sorgen bereitete, und schon gar nicht sein Vater.

Daniel war vorbereitet. Loni hatte Clarissa ins Labor geführt. Sie brauchte nur zwei Minuten zu warten. Sie hatte ihre Bluse schon aufgeknöpft. »Ich möchte, daß du dir das mal anschaust, Daniel«, sagte sie ohne lange Vorrede. »Ich habe neulich im Fernsehen einen Bericht gesehen über Melanome, die man beachten soll, und möchte jetzt wissen, was es mit diesem dunklen Punkt an meiner Schulter auf sich hat.«

»Na, du jagst mir vielleicht einen Schrecken ein, Clarissa«, sagte Daniel, »das ist doch kein Melanom.«

»Es wurde aber gesagt, daß ein Muttermal bösartig werden kann und daß man es beachten soll. Ich gerate nicht in Panik, aber ich würde es sofort operieren lassen, wenn nur der geringste Verdacht bestehen würde.«

»Es ist ein hübsches, kleines rundes Muttermälchen«, scherzte er, »aber wenn du willst, schaue ich es mir ganz genau an. Und wenn du mir nicht traust, läßt du es von Paps nochmals untersuchen. Er versteht sich darauf.«

»Ich wollte es vorher wissen. Ich würde in München bleiben, wenn es operiert werden müßte. Ich will nur nicht, daß Bob und Tim in Panik versetzt werden. Ich darf ja nicht mal husten, dann werden schon Kapazitäten beschäftigt.«

»Du siehst, wieviel du ihnen wert bist, Clarissa. Wieviel oder wie wenig Frauen können das schon sagen?« Er betrachtete das Muttermal ganz genau durch einen Apparat und lachte leise. »Früher haben sich das die Damen angeklebt, um ihre zarte Haut noch reizvoller erscheinen zu lassen«, sagte er. »Nun, manche haben auch mit einem dunklen Pflästerchen einen Pickel überdeckt, aber was dir die Natur da mitgegeben hat, ist wirklich nur ein hübsches Pünktchen, das man als Muttermal bezeichnen könnte, sofern es sich tatsächlich vererbt hat.«

»Meine Mutter sagte, daß es von der Natur gewollt sei, damit ich unverwechselbar wäre.« Sie lachte leise auf. »Ich brauche mir also keine Gedanken zu machen?«

»Keinen«, erwiderte er.

»Wenn du es sagst, glaube ich es. Dann werde ich wieder zu Fee eilen, damit mein besorgter Sohn sich nicht schon auf die Suche nach mir begibt.«

Aber zu ihrem Erstaunen war Tim noch nicht da, als sie im Hause Norden ankam.

»Es wird ihm doch nichts passiert sein«, sagte sie ängstlich.

»Ihr seid mir so welche«, lächelte Fee, »einer kann ohne den andern nicht sein. Mich wundert es, daß Tim es in München so lange aushält. Manchmal plagt ihn das Heimweh schon arg.«

Clarissa blickte zum Fenster hinaus. »Bob will es, daß er hier studiert. Er ist eifersüchtig auf Tim. Dir kann ich es sagen. Aber was soll ich tun, Fee? Ich war so froh, daß Tim mich gleich akzeptiert hat. Ich wollte ihm doch eine gute Mutter sein.«

»Du bist ihm die beste Mutter geworden, und daß er für dich schwärmt, kann ihm nur zugute kommen und ihn vor Abenteuern bewahren.«

*

Tim merkte gar nicht, wie die Zeit verging. Das Mädchen hatte ihm gesagt, daß zwei Bücher erst bestellt werden müßten.

»Gut, dann bestellen Sie diese. Wann kann ich sie haben?«

»Am Montag vielleicht«, erwiderte das Mädchen.

»Fräulein Clement, würden Sie bitte mal kommen, es geht um eine Reklamation«, rief der Chef.

»Würden Sie mich bitte entschuldigen?« sagte das Mädchen verwirrt zu Tim.

»Ich warte«, sagte er.

Es dauerte zehn Minuten, bis das Mädchen zurückkam. »Haben Sie Ärger bekommen?« fragte Tim, als er merkte, wie verwirrt sie war.

»Nicht direkt. Manche Kunden sind ziemlich komisch. Sie kaufen ein Buch, lesen es und wollen es dann umtauschen. Aber mein Chef glaubt mir.«

»Das wird sein Glück sein«, sagte Tim. »Mit mir bekommen Sie keinen Ärger. Aber ich möchte Sie wiedersehen.«

Sie warf ihm einen scheuen Blick zu. »Ich soll die Bücher bestellen?« fragte sie.

»Und immer wieder welche«, erwiderte Tim, »bis ich Sie mal zum Essen einladen darf.«

Sie schüttelte den Kopf. »Das geht nicht. Ich bin den ganzen Tag im Geschäft, und zu Hause wartet meine kranke Mutter.«

»Dann werde ich jeden Tag ins Geschäft kommen«, sagte Tim.

Glühende Röte überflutete ihr Gesicht, als er seinen Namen nannte. »Sie heißen Clement, das habe ich schon gehört. Darf ich auch Ihren Vornamen wissen?«

»Constance«, erwiderte sie scheu.

»Ja, und dann möchte ich noch sechs andere Bücher«, sagte er laut und geistesgegenwärtig, als der Chef nahte. Und wieder vergingen zwanzig Minuten, bis er die herausgesucht hatte. Er zahlte über zweihundert Mark und nahm ein Riesenpaket mit. Und er sagte zu Constance Clement: »Ich danke für die liebenswürdigen Empfehlungen. Vergessen Sie nicht, die Bücher zu bestellen.«

»Sie scheinen Ihre Sache wirklich gut zu machen, Constance«, bekam das Mädchen darauf von ihrem Chef zu hören. »Lieber ein Kunde, der fast zwei Stunden braucht und kauft, als zwanzig Kunden, die nur die Bücher ruinieren.«

»Du hast aber lange gebraucht«, empfing Clarissa Tim mit einem erleichterten Lächeln, ihn unbeschadet vor sich zu sehen.

»Eine gute Buchhandlung. Ich habe auch gleich ein paar Bücher für mich gekauft. Von deinen müssen erst zwei noch bestellt werden. Die schicke ich dir dann nach, Mummy«, sagte er.

Doch von dem Mädchen sagte er nichts. Da war etwas in seinen Gedanken, das ihn hinderte, einfach munter drauflos zu erzählen. Es war nicht einfach so eine Begegnung. Er mochte Clarissa auch nicht sagen, daß er ein Mädchen kennengelernt hätte, das ihr ähnlich war.

Er sah sie forschend an. Worin beruhte diese Ähnlichkeit eigentlich? Ganz war er sich darüber nicht klar. Ja, die Augen, die Nase, irgendeine Besonderheit im Ausdruck, die man nicht erklären konnte, die ihn einfach fasziniert hatte.

Aber da war auch etwas, das er für sich behalten wollte, das ihn so beschäftigte, daß er nicht mal mit Clarissa darüber reden mochte.

Er war still an diesem Abend, wie Fee und Daniel ihn gar nicht kannten. Ist er doch mißtrauisch geworden, fragte sich Clarissa. Und auf der Heimfahrt sagte sie zu ihm: »Ich habe dich beschwindelt, Tim. Jetzt kannst du es wissen. Ich war bei Daniel, um ihn wegen eines Muttermals zu fragen, das ich an der Schulter habe.«

Er warf ihr einen Seitenblick zu. »Weswegen Dad dich manchmal Pointdot nennt, wenn wir am Meer sind? Er liebt es doch, Mummy.«

»Aber ich machte mir Sorgen, daß es schlimm werden könnte. Man liest und hört so viel, Timmy. Doch es ist eben nur ein dunkler Punkt.«

Er lachte leise auf. »Der einzige dunkle Punkt in deinem Leben, liebste Mummy.«

Aber da versank Clarissa in ein tiefes Schweigen und fand erst wieder zu einem Lächeln zurück, als er die Bücher auspackte.

»Du hast ja einen Großeinkauf getätigt«, sagte sie. »Aber Bücher kann man nie genug haben.«

»Du sagst es, Mummy, und dort kann man sich ungestört umschauen.«

*

Constance Clement eilte nach Hause, als der Laden geschlossen hatte. Natürlich waren wieder mal die Kunden geströmt, als es schon sechs Uhr wurde. Sie hatte keine Zeit gehabt, über den netten jungen Engländer nachzudenken, und als sie nach Hause rannte, konnte sie überhaupt nichts denken.

Eine leise, klagende Stimme sagte, als sie die Tür aufschloß: »Du kommst spät, Conny.«

»Ich kann nichts dafür, Mama, es tut mir leid, aber es waren noch viele Kunden da.«

»Ich mache dir doch keinen Vorwurf, Kind. Es ist nur scheußlich, so allein zu sein, wenn es dunkel wird.«

»Jetzt bin ich da, Mama. Ich mache gleich das Essen.« Sie streichelte das ergraute Haar der zarten Frau, die in einem Lehnstuhl saß. »Hast du große Schmerzen, Mama?« fragte sie.

»Es wird einfach nicht besser, Conny«, kam die müde Antwort.

»Wir sollten einen anderen Arzt suchen. Dr. Brückner ist einfach schon zu alt«, sagte Constance.

»Aber er kennt mich. Ein neuer Arzt experimentiert nur. Ich muß mich damit abfinden, daß es nicht besser wird.«

»Du müßtest eine richtige Kur machen, Mama.«

»Und dich allein lassen? Nein, das kann ich nicht, Conny. Ich hätte keine Ruhe. Freilich wäre es mir lieber, wenn du nicht arbeiten müßtest. Das Leben hat sich so verteuert.«

»Ich arbeite gern, Mama.«

»Aber du hättest studieren können, wenn dein Vater nicht so früh gestorben wäre und ich nicht so hilflos wäre«, sagte Anita Clement leise. »Ich konnte doch nicht wissen, daß alles einmal so kommen würde.«

»Wir haben eine schöne Wohnung, Mama, wir haben unser Auskommen, und nächstes Jahr werde ich viel mehr verdienen. Nicht verzagen.«

»Du hast gar nichts von deiner Jugend. Immer nur lernen und jetzt schon den ganzen Tag auf den Beinen.«

Es war jeden Abend das gleiche, aber Constance hatte dafür Verständnis. Wenn ein Mensch so viel allein war und sich nur noch mühsam fortbewegen konnte, kamen die Depressionen von selbst. Anita Clement litt unter den Folgen einer Wirbelverletzung, die sie sich zugezogen hatte, als Constance noch ein kleines Kind gewesen war. Sie sprach nicht gern darüber. Conny wußte nur, daß bei diesem Unfall ihr Vater ums Leben gekommen war. Mit rührender Liebe hatte Anita das Kind umgeben und alles getan, um Conny eine gute Ausbildung zuteil werden zu lassen. Sie war nicht unvermögend zurückgeblieben. Ihr Mann war Abteilungsleiter in einer großen Firma gewesen, und sie bekam auch eine Rente.

Während der letzten drei Jahre hatte sich Anita Clements Zustand mehr und mehr verschlechtert. Sie ertrug ihr Leiden tapfer, aber auch resignierend.

Conny sorgte rührend für ihre Mutter, soweit es ihr möglich war. Sie ging nie aus und verbrauchte nur das Notwendigste von ihrem Gehalt für sich. Sie war glücklich, die Stellung in der Buchhandlung bekommen zu haben, denn nun konnte sie lesen und immer mehr lesen, in Büchern, die für sie unerschwinglich gewesen wären. Aber sie wollte nicht nur lesen, sie wollte auch schreiben, all die klugen Gedanken zu Papier bringen, die sich in ihrem so hübschen Kopf sammelten.

Manchmal saß sie dann noch lange an ihrem Schreibtisch, wenn ihre Mutter schlief, doch noch nie hatte sie an einen bestimmten Mann gedacht, wenn sie ihre Gedanken zu Papier brachte. Es geschah heute zum erstenmal.

»Tim Thornhill, was ist das für ein Mann? Warum hat er mich so angeschaut, als würde er mich kennen, oder täusche ich mich! Wird er wiederkommen? Er ist so ganz anders als diese jungen Männer, die sich mit mir treffen wollten.«

Ja, es war nicht das erste Mal, daß ein Mann sie um ein Wiedersehen bat, aber immer hatte sie konstant abgelehnt. Nomen est omen, bei ihr traf das genau zu. Sie war beständig, zielstrebig und keineswegs pessimistisch, wenngleich sie sich auch keinen Illusionen hingab.

Doch an diesem Abend träumte sie mit offenen Augen, und als sie einschlief, träumte sie weiter.

*

Aber auch Tim träumte von ihr, und er war fest entschlossen, dieses Mädchen näher kennenzulernen. Dennoch sprach er nicht mit Clarissa darüber, obwohl es zwischen ihnen noch niemals Geheimnisse gegeben hatte.

Auch auf der Fahrt zur Insel war er recht schweigsam. »Ein wenig hast du dich schon verändert, Tim«, stellte Clarissa fest.

»Inwiefern?« fragte er.

»Früher hast du immer während der Fahrt gesungen oder gepfiffen.«

»Und herumgealbert«, fügte er mit einem flüchtigen Lächeln hinzu. »Jetzt werde ich wohl doch langsam erwachsen. Vielleicht kommt es daher, daß es mir nicht gefällt, wie manche Kommilitonen die Zeit vertrödeln. Sie haben hochgestochene Pläne, aber sie tun wenig dazu, diese zu verwirklichen. Es kommt nicht viel dabei heraus, wenn man mit ihnen diskutiert. Und die, mit denen es sich lohnen würde, halten mich für einen Snob.«

»Wieso?«

»Weil ich alles habe. Eine schöne Wohnung, ein flottes Auto und Geld. Dazu einen reichen Vater und eine schöne Mutter.«

»Und einen klugen Kopf, nicht zu vergessen«, sagte Clarissa. »Warum willst du in München bleiben, wenn du dich allein fühlst?«

»Oh, ich denke nicht so, Mummy. Man findet immer jemanden, mit dem man sprechen kann, wenn man das Bedürfnis hat. Es gibt viel mehr Individualisten, als man meint, und man bekommt einen Blick dafür.«

»Du bist eigentlich viel zu jung, um so zu denken, Tim«, sagte Clarissa. »Man muß Erfahrungen sammeln.«

»Ich bin fest dabei, Mummy, aber das kann man auch aus der Distanz, wenn man mit offenen Augen durch die Welt geht, wenn man beobachtet, was um einen vor sich geht.«

»Ein philosophierender Physiker«, sagte sie nachdenklich

»Zwei Seelen leben ach in meiner Brust«, sagte er mit leisem Lachen, »die Welt ist voller Wunder, die sich nicht erklären lassen.«

»So ist es«, sagte Clarissa leise, »und die Insel ist auch eines für mich. Nirgendwo sonst könnte ich ohne Bob so ruhig sein.«

Tim sah sie an. »Bevor du Daddy kanntest, wie hast du da gelebt? Du sprichst nie darüber.«

»Ich lebe erst, seit ich ihn kenne, seit ich euch habe«, sagte sie.

»Wir würden dich auch mit keiner Erinnerung teilen wollen, Mummy«, sagte Tim leise. »Verzeih, daß ich gefragt habe.«

*

Nun waren sie auf der Insel, auf das herzlichste empfangen von Dr. Cornelius und seiner Frau Anne, von deren Adoptivsohn Mario und allen, die Clarissa nun schon acht Jahre kannte. Damals, nach einer schweren Blinddarmoperation hatte ein Cousin ihres Mannes, der Arzt war, zu einer Nachkur auf der Insel der Hoffnung geraten, und sie hatte hier so schnell Genesung gefunden, daß sie fortan jedes Jahr ein paar Wochen hier verbrachte.

Robert Thornhill war besorgt um die Gesundheit seiner Frau, die leicht zu Erkältungskrankheiten neigte und häufig unter Allergien litt. Das Klima in England war für sie nicht günstig, aber er konnte sich ja nicht anderswo niederlassen, da seine Fabriken den Chef brauchten. Clarissa hätte das auch nicht gewollt. So tankte sie jedes Jahr auf der Insel der Hoffnung Abwehrkräfte.

Auch Tim gefiel es auf der Insel, doch diesmal weilten seine Gedanken mehr in München. Der Gedanke, daß Constance Clement das Wochenende mit einem anderen Mann verbringen könnte, quälte ihn.

Mario profitierte davon beim Tennis, denn Tim war so unkonzentriert, daß er jeden Satz verlor.

»Du mußt mich nicht gewinnen lassen, Tim«, sagte Mario. »Jag mich nur herum. Ich will es doch besser lernen.«

»Du bist schon sehr gut, Mario. Ich bin heute nicht in Form.« Clarissa betrachtete ihn immer wieder nachdenklich.

»Man könnte meinen, er sei verliebt«, sagte sie zu Anne.

»Vielleicht ist es so«, meinte die lächelnd.

»Er hätte es mir doch gesagt.«

»Weißt du, Clarissa, da werden die jungen Leute eigen. Er würde es wohl erst sagen, wenn er sich seiner Gefühle und ihrer wohl auch ganz sicher wäre.« Anne konnte aus Erfahrung sprechen. So war es bei Daniel und Fee gewesen, so auch bei ihrer Tochter Katja und David.

Die beiden Frauen verstanden sich sehr gut, aber beide waren sie völlig ahnungslos, daß das Schicksal sie schon einmal vor sechzehn Jahren einander ganz nahe gebracht hatte, ohne daß sie voneinander erfahren hätten.

Hätte Anne Cornelius dies gewußt, wäre es ihr klargeworden, warum Clarissa über ihre erste Ehe nicht sprechen wollte.

*

Tim fuhr am Sonntagnachmittag zurück. Er müsse sich jetzt wieder auf den Hosenboden setzen, sagte er. Aber selbstverständlich wollte er Clarissa so oft wie nur möglich besuchen.

Am Montagvormittag besuchte er zwar die Vorlesung, aber auch da war er mit den Gedanken nicht bei der Sache. Er konnte es kaum erwarten, Constance Clement wiederzusehen.

Sie errötete heiß, als er den Laden betrat. »Die Bü­cher sind leider noch nicht da«, erklärte sie hastig.

»Das macht nichts. Ich komme gern wieder«, erklärte er. »Ich suche mir noch andere aus. Was können Sie mir empfehlen?«

»In welcher Richtung?« fragte sie verlegen.

»Wissenschaftlich, philosophisch, auch Lyrik. Ich interessiere mich für alles, augenblicklich aber am meisten dafür, wann wir uns mal privat sehen könnten«, fügte er ganz leise hinzu.

»Es ist nicht möglich. Ich habe eine kranke Mutter, die schon tagsüber allein ist«, erwiderte sie.

»Dürfte ich Sie nicht wenigstens einmal abholen?« fragte er.

Verstand und Gefühl lagen im Widerstreit in ihr. »Es wird hier auch manchmal länger«, murmelte sie.

»Könnten Sie nicht mal früher gehen? Ein bißchen schwindeln?«

Sie schüttelte den Kopf, aber ihr Blick verriet, wie gern sie ja gesagt hätte.

»Dann warte ich heute abend um sechs Uhr. Ich warte, bis Sie kommen. Und ich habe an der Tür gelesen, daß Sie Mittwochnachmittag geschlossen haben.«

Er kaufte wieder zwei Bücher, und Constances Chef bemerkte, daß sie da wohl einen Stammkunden bekommen hätte. Aber er sagte es so väterlichfreundlich, daß keine Anzüglichkeit herauszuhören war.

Er erkundigte sich nach dem Befinden ihrer Mutter. »Leider geht es ihr gar nicht gut«, erwiderte Constance.

»Wenn nicht viel zu tun ist, können Sie ruhig mal früher gehen, Fräulein Clement.«

»Vielen Dank, Herr Korff«, sagte Constance leise, doch an diesem Tag wollte sie auf keinen Fall früher gehen.

Ihr Herz klopfte erwartungsvoll und sehnsüchtig, als der Uhrzeiger auf die Sechs rückte.

Tim wartete allerdings schon zwanzig Minuten. Er hatte Fee Norden einen kurzen Besuch gemacht und berichtet, daß auf der Insel alles in bester Ordnung sei. Er hatte auch gesagt, daß er wegen der Bücher nachgefragt hätte.

»Ich kann ja vorbeigehen, wenn es dir an Zeit mangelt, Tim«, meinte Fee.

»Ach, ich komme gern mal zu euch«, erwiderte er rasch, aber so eine leise Ahnung kam Fee plötzlich, daß da noch ein anderes Interesse dahinterstecken könnte.

Sie überlegte, ob Tim vielleicht ein Auge auf die hübsche Helga geworfen haben könnte, die die Boutique neben der Buchhandlung besaß. Das wäre ihr allerdings nicht recht gewesen, denn diese hatte es faustdick hinter den Ohren.

Constance Clement kannte Fee noch nicht. Sie war schon längere Zeit nicht mehr in der Buchhandlung gewesen.

»Bleib doch zum Abendessen, Tim«, schlug sie vor.

»Vielen Dank, Fee, aber ich habe noch zu arbeiten«, erwiderte er rasch.

Und nun hatte er gewartet, bis sie endlich kam. Und sein Herz klopfte genauso stürmisch wie ihres. Er griff nach ihren Händen und drückte sie an seine Brust, ihre Blicke versanken ineinander, und keiner brachte ein Wort über die Lippen. Wortlos legte Tim dann auch seinen Arm um sie und führte sie zu seinem Wagen.

»Ein paar Minuten wirst du doch Zeit haben«, sagte er bittend. Sie nickte beklommen. Ein Kloß saß ihr in der Kehle. Er nahm ihre Hand und drückte sie an seine Lippen. »Mich wirst du nie mehr los«, sagte er. Er fuhr nur ein Stück und hielt in einer stillen Nebenstraße an.

»Constance«, sagte er zärtlich und streifte mit seinen Lippen ihre Stirn. Sie war wie betäubt. Sie konnte es nicht fassen.

»Meine Mutter ist wirklich sehr krank«, flüsterte sie. »Ich habe nicht geschwindelt.«

»Was kann man für sie tun?« fragte Tim.

»Ich weiß es nicht.«

»Hat sie einen guten Arzt?«

»Ich bezweifle es.«

»Dann werde ich Dr. Norden schicken«, sagte er. »Er ist der beste Arzt, den ich kenne. Wir sind befreundet. Er wird deine Mutter zur Insel der Hoffnung; schicken, und dort wird sie gesund. Meine Mutter ist jedes Jahr ein paar Wochen dort, jetzt auch.«

Constance sah ihn fassungslos an. »Das geht doch nicht«, flüsterte sie.

»Natürlich geht es.«

»Aber der Krankenschein liegt bei Dr. Brückner. Wir sind keine Privatpatienten, Tim.« Zum erstenmal sprach sie seinen Namen aus.

»Mach dir darum keine Gedanken, Constance.« Er kostete es aus, diesen Namen, der ihm so gefiel, auszusprechen. »Du hast jetzt mich. Ich schicke Dr. Norden noch heute zu deiner Mutter. Jetzt sagst du mir, wo du wohnst. Ich bringe dich nach Hause, und morgen sehen wir uns wieder. Aber du kannst mich heute abend auch anrufen.«

»Ich muß Mama doch erst fragen, ob sie einen anderen Arzt akzeptiert«, flüsterte Constance. »Kranke Menschen sind schwierig, Tim.«

»Gut, ich überlasse es dir. Ich rufe Dr. Norden an und sage ihm Bescheid, damit er weiß, um wen es sich handelt. Und wenn du ihn brauchst, kommt er. Du kannst dich darauf verlassen.«

»Und was sagst du ihm, um wen es sich handelt?«

»Um ein Mädchen, an dem mir sehr viel liegt.«

»Wieso gerade ich?« fragte sie bebend.

»Ja, wieso? Das kann man nicht erklären. Ich habe es gewußt vom ersten Augenblick an, Constance. Da gibt es nicht den geringsten Zweifel. Mein Wort darauf. Und sollte es da einen anderen Mann geben, kannst du ihm ausrichten, daß ein Thornhill niemals aufgibt, was er liebt.«

»Es gibt aber keinen«, sagte Constance.

»Um so besser«, sagte er und drückte ihre Hand an seine Wange.

*

Er blickte ihr dann nach, bis sie das Haus betrat und die Tür hinter sich schloß, aber vorher hatte sie ihm noch einmal zugewinkt.

Wie eine Träumende ging sie die Treppe hinauf. Konnte so etwas Wirklichkeit sein?

Sie lehnte an der Wand und preßte die Hände auf ihr wildklopfendes Herz. Einmal, als ihre Mutter noch nicht so krank war, war sie mit ihr in einem amerikanischen Film gewesen, der auch eine Liebesgeschichte schilderte.

»So etwas gibt es eben nur im Film«, hatte ihre Mutter da gesagt. »Die Wirklichkeit raubt einem alle Illusionen, Conny. Manchmal stiehlt man sich ein Glück, ein bißchen Glück, wenn man viel verloren hat, und dann muß man dafür leiden.«

Warum kamen ihr jetzt diese Worte in den Sinn, warum mußte sie darüber nachdenken?

Sie betrat die Wohnung ganz leise, denn sie vernahm ein Schluchzen. Schnell streifte sie den Mantel ab und eilte ins Wohnzimmer.

Ihre Mutter lag auf dem Sofa und krümmte sich vor Schmerzen. »Mama, was ist denn?« fragte Constance angstvoll.

»Dr. Brückner ist nicht da. Er ist im Urlaub. Ich halte es nicht mehr aus, Conny. Es ist zuviel. Ich kann nicht mehr.«

»Sei ruhig, Mama, ich rufe Dr. Norden«, sagte Constance. »Man sagte mir, daß er ein sehr guter Arzt ist.«

Dr. Norden saß beim Abendessen, als das Telefon läutete. Fee ging hin.

»Du, Tim? Ist etwas?« fragte sie.

Ihr Gesicht war ein einziges Fragezeichen, als sie seinen Worten lauschte.

»Ja, ich sage es Daniel«, erwiderte sie. »Aber du hättest doch schon vorhin etwas sagen können.«

Kopfschüttelnd setzte sie sich wieder an den Tisch. »Was ist mit Tim?« fragte Daniel.

»Er ist eine Überraschung wert. Er bittet dich, eine Frau Clement zu betreuen, falls ein Anruf von ihrer Tochter kommen sollte. Es sei dann gewiß dringend.«

»Hallo«, rief Daniel aus, »was hat das zu bedeuten?«

»Daß es sich um ein Mädchen handelt, an dem ihm viel liegt, aber Clarissa soll es jetzt noch nicht erfahren. Ich hab’s ja geahnt.«

»Was hast du geahnt?«

»Daß er verliebt ist. Weißt du, da haben die Männer so einen ganz besonderen Ausdruck in den Augen.«

»Die Frauen nicht?«

»Das kann ich schwer beurteilen.« Und da läutete das Telefon schon wieder. Diesmal tönte eine bebende Mädchenstimme an Fees Ohr. »Mein Name ist Constance Clement. Mir wurde gesagt, daß ich Dr. Norden um einen Hausbesuch bitten darf, wenn es dringend ist. Es ist sehr dringend.«

»Bitte, sagen Sie die Adresse«, sagte Fee. »Mein Mann kommt.«

»So, das war die Constance aus dem Wunderland der Liebe«, meinte Fee. »Du wirst dringend gebraucht, mein Schatz. Und schau sie dir genau an. Wenn Tim etwas an einem Mädchen liegt, ist es sehr ernst.«

»Nicht mal fertigessen darf ich«, brummte Daniel.

»Du bekommst alles frisch serviert, wenn du heimkommst«, sagte Fee.

»Ist ja gar nicht so weit«, meinte er, als er auf die Adresse schaute. »Sicher eine Patientin von Brückner. Die laufen mir jetzt die Praxis ein. Hat wohl allerhand verschusselt.«

»Ärzte sollten wissen, wann es Zeit ist, sich zur Ruhe zu setzen«, meinte Fee.

*

Was sich Daniels Augen bot, als Constance ihm die Tür öffnete, fand er höchst erfreulich, und in seinen Gedanken machte er Tim ein Kompliment. Als er dann jedoch Anita Clement untersuchte, wurde sein Gesicht sehr ernst.

Sie war jetzt zwar ziemlich apathisch, aber ihr Körper wurde von einem Schüttelfrost hin und her geworfen.

»Ich halte es für richtig, Ihre Mutter in die Klinik zu bringen, Fräulein Clement«, sagte er.

»Bist du einverstanden, Mama?« fragte Constance tonlos.

»Mir ist alles gleich«, erwiderte die Kranke kaum vernehmbar. »Nur nicht mehr so leiden.«

Dr. Norden bestellte einen Krankenwagen. Dann erst gab er der Kranken eine Injektion. Er wußte, daß er sehr vorsichtig sein mußte, denn er kannte ja die Anamnese nicht.

»Möchten Sie mitfahren?« fragte er das junge Mädchen.

»Ja, selbstverständlich«, erwiderte Constance leise. »Ich danke Ihnen sehr, daß Sie so schnell gekommen sind, Herr Doktor.«

»Das ist in einem Notfall selbstverständlich, aber ich war bereits informiert.« Constance schlug die Augen nieder. Aber dann ging sie schnell zu ihrer Mutter.

»Es wird alles gut, Mama«, flüsterte sie. »Jetzt bist du in sehr guten Händen.«

Nichts wird gut, dachte Dr. Norden. Jedenfalls nicht für die Kranke.

Der Krankenwagen kam. Anita Clement spürte nicht mehr, wie sie auf die Trage gehoben wurde. Die Spritze tat ihre Wirkung. »Behnisch-Klinik«, sagte Dr. Norden zu den Sanitätern. Und zu Constance sagte er: »Ich komme gleich nach.«

Er war dann allerdings früher dort, denn er kannte die Schleichwege, die nicht so stark vom Verkehr frequentiert waren.

»Na, was ist es denn diesmal?« fragte Dr. Dieter Behnisch seinen Freund. »Kannst du wieder mal nicht erwarten, mich ums Abendessen zu bringen, alter Freund?«

»Tut mir leid, Dieter. Nervenfieber, aber es steckt noch was dahinter, und das Herz ist in desolatem Zustand. Aber das alles nur um den Daumen gepeilt.«

»Deine Peilungen kenne ich. Gründlichste Untersuchung wird die Diagnose nicht widerlegen.«

»Aber ihr werdet herausfinden, was dahintersteckt«, sagte Daniel. »Ich werde jetzt mit der Tochter sprechen.«

Anita Clement wurde in den Untersuchungsraum getragen. Dr. Norden hielt Constance zurück.

»Sie müssen mir noch einige Fragen beantworten«, bat er.

Sie zuckte zusammen. »Mr. Thornhill hat gesagt, daß er mit Ihnen befreundet ist«, erwiderte sie scheu.

»Ist er, aber es geht jetzt um Ihre Mutter. Wie lange ist sie schon krank? Wer hat sie behandelt? Es hilft uns, viel Zeit zu sparen, wenn wir nicht alles selbst herausfinden müssen.«

»Dr. Brückner ist der Hausarzt«, erwiderte Constance. »Meine Mutter ist schon lange krank, aber so schlimm ist es erst seit einem Jahr. Muskelrheuma ist es wohl. Sie hatte auch mal eine Wirbelverletzung. Dr. Brückner sagte immer, daß man da nicht viel machen kann. Sie war immer sehr tapfer, aber die Schmerzen müssen schlimm sein.«

»Ich begreife nicht, daß sie nicht in klinischer Behandlung ist, oder war sie es schon?«

»Ja, einmal, aber wegen etwas anderem. Sie hat nie darüber gesprochen. Sie hatte oft entsetzliche Schmerzen. Ich hätte es gern gesehen, wenn sie eine Kur gemacht hätte, aber sie wollte mich nicht ganz allein lassen. Manchmal kam es mir so vor, als wäre ich in ihren Augen nie erwachsen geworden.«

»Dabei sind Sie das«, sagte Dr. Norden. »Sie können hier jetzt nichts tun, Fräulein Clement. Ihre Mutter wird bestens versorgt, das verspreche ich Ihnen. Sie sind berufstätig?«

»Ja, in einer Buchhandlung. Da habe ich Mr. Thornhill auch kennengelernt.«

»Dann wäre es wohl besser, wenn Sie heimfahren und sich ausschlafen. Ich kann Sie auch heimbringen.«

»Nein, ich möchte noch hierbleiben. Vielleicht will Mama mich sprechen.«

»Wie Sie wollen«, erwiderte er, denn so viel Menschenkenntnis besaß er längst, daß man, Constance nichts ausreden konnte, worauf sie beharrte.

Er traf Jenny, die von Dieter herbeigerufen worden war. »Ein schwerer Fall«, sagte sie leise.

»Haltet mich auf dem laufenden«, bat Dr. Norden. »Ich muß noch ein paar Besuche machen. Und seid nett zu der Tochter.«

Er ging zum Telefon, während Jenny den Untersuchungsraum betrat.

Als er Tims Nummer wählte, dachte er nach. Die Bekanntschaft konnte erst kurz sein, denn er wußte ja, daß Tim am Freitag die Bücher besorgt hatte. Und gleich ein solches Engagement?

Da mußte der Blitz eingeschlagen haben.

»Hallo, Tim«, sagte er, als der sich meldete.

»Verlang keine lange Erklärung von mir, Daniel, Später mal. Ich versuche Constance zu erreichen. Sie meldet sich nicht.«

»Sie ist in der Behnisch-Klinik. Notfall. Wir mußten ihre Mutter dorthin bringen.«

»Was ist los?«

»Kann ich noch nicht sagen, aber sie muß in der Klinik bleiben. Ich wollte es dir mitteilen.«

»Danke, Daniel. Ich bin dir sehr dankbar.«

»Es ist ein sehr nettes Mädchen, Tim.«

»Das weiß ich. Ich komme.«

Daniel konnte nichts mehr sagen. Tim hatte schon aufgelegt. Kein Feuer, keine Kohle kann brennen so heiß, als heimliche Liebe, von der niemand was weiß, ging es ihm durch den Sinn, aber nach Spott war ihm nicht zumute, denn er wußte, daß Anita Clement keine lange Lebenserwartung haben würde.

*

Die zwei Krankenbesuche brachte Dr. Norden schnell hinter sich. Die Patienten befanden sich auf dem Wege der Besserung. Von Fee wurde er bereits ungeduldig erwartet.

»Was ist gewesen?« fragte sie bestürzt.

»Das Mädchen ist reizend, das ist die angenehme Seite, aber die Mutter…«

»Schlimm?« fragte Fee.

»Todkrank, Fee. Ich hoffe, daß ich mich täusche.«

»Sprich dich aus, Daniel«, bat Fee drängend.

»Paralysis agitans«, sagte er heiser.

»Mein Gott, das wäre erblich«, stieß Fee entsetzt hervor.

»Nicht gleich in Panik geraten. Ich kann mich auch täuschen, und man muß das Mädchen auch erst mal gründlichst untersuchen. Ich verstehe nur nicht, wie ein erfahrener Arzt da auf Muskelrheuma kommt.«

»Weil man sich keine Zeit nimmt, oder weil man den Patienten etwas vorlügt«, sagte Fee. »Aber für Tim wäre es wohl besser, wenn er sich in ein anderes Mädchen verliebt hätte.«

»Ich verstehe, daß er sich in sie verliebt hat. Sie hat Clarissas violette Augen und sie ist auch von ihrem Typ.«

»Was nützt das, wenn sie möglicherweise eine Erbkrankheit in sich trägt.«

»Die bei ihr nicht akut werden brauchte«, sagte Daniel.

»Aber in der nächsten Generation. Wir wollen uns da doch nichts vormachen, Daniel. Wir wissen doch darum.«

»Auf keinen Fall darf er es jetzt erfahren. Ich werde es schon irgendwie fertigbringen, daß sich dieses Mädchen gründlich untersuchen läßt. Die Mutter hat höchstens noch ein paar Monate zu leben. Eine Warnung würde Tim mißverstehen, davon bin ich überzeugt. Wir dürfen ihn nicht vor den Kopf stoßen. Wir müssen erst mal erforschen, wie tief das sitzt, auch bei ihr. Und es bleibt auch noch die Hoffnung, daß ich mich täusche.«

Die blieb nicht, obgleich Dr. Behnisch nach einer Stunde anrief und Daniel sagte, daß er seine Diagnose wohl wissentlich abgeschwächt hätte. Seine laute jedenfalls »paralysis agitans«.

»Dann sind wir ja einer Meinung, aber was ist mit dem Mädchen?« fragte Daniel.

»Ich habe ihr Blut abgenommen«, erwiderte Dieter.

»Mit welcher Begründung?«

»Ob sie möglicherweise für ihre Mutter als Blutspenderin in Frage kommen würde. Sie hat sofort eingewilligt. Ich wollte vorerst nur die Blutgruppe feststellen.«

»Und das Ergebnis?«

»Steht noch aus. Wir sprechen morgen darüber. Eben ist Tim Thornhill gekommen. Du hättest mir ruhig sagen können, daß er und Constance Clement befreundet sind.«

»Ich bin selbst davon überrascht worden, Dieter.«

»Na, dann reden wir morgen. Ich habe zu tun. Gute Nacht allerseits.«

*

Tim lief auf Constance zu, nahm sie in die Arme und drückte sie an sich.

»Daß es so schlimm ist, konnte ich ja nicht wissen, sonst wäre ich bei dir geblieben«, sagte er tonlos. »Es ist gut, daß Daniel mich gleich angerufen hat. Ich bringe dich jetzt heim, Constance. Dr. Behnisch hat gesagt, daß deine Mutter schlafen wird.«

»Ich bin so verwirrt. Es kam alles so plötzlich, so zusammengeballt«, flüsterte sie. »Das es so schlimm sein könnte, wußte ich doch nicht.«

Er legte seinen Arm schützend um sie. »Du bist ja nicht allein, Liebes«, sagte er leise. »Du kannst dich auf mich verlassen.«

»Ich möchte noch einmal nach Mama sehen«, bat sie.

Er geleitete sie zu dem Zimmer. Er hatte bereits Dr. Behnisch gesagt, daß er für alle Kosten aufkommen würde.

Und zum Glück war gerade ein Einzelzimmer verfügbar.

Tim blieb an der Tür stehen, aber er sah eine Frau, die nicht die geringste Ähnlichkeit mit Constance hatte, so sehr er auch nach einer solchen suchte.

Er nahm dann Constances Hand und führte sie durch den stillen Gang hinaus zu seinem Wagen.

»Sie ist hier gut aufgehoben. Wir kennen die Ärzte schon lange, mein Liebes«, sagte er leise.

»Du hast mir sehr geholfen, Tim«, erwiderte sie mit klangloser Stimme. »Es ist so unbegreiflich, daß du gerade jetzt in mein Leben getreten bist.«

»Als Schutzengel«, sagte er. »Ich bin darüber sehr glücklich in all dem Kummer, den ich mit dir teile. Ich liebe meine Mutter auch sehr. Bisher gab es keinen Menschen, den ich mehr lieben konnte, jetzt gibt es dich.«

»Und dein Vater?« fragte sie.

»Das ist eine andere Beziehung. Wir verstehen uns sehr gut. Er ist zugleich mein bester Freund. Du wirst ihn auch mögen«, fuhr er nach einem langen Schweigen fort.«

Constance lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Er ist da. Es ist wirklich, es ist kein Traum, dachte sie.

Und dann betraten sie die Wohnung, aus der man ihre Mutter hinausgetragen hatte.

Sie fuhr sich über die Augen. Auch das mußte sie erst begreifen.

»Ich mache uns einen Tee, ist es dir recht, Tim?« fragte sie.

»Ja, ich helfe dir.« Aber zuerst nahm er sie in die Arme und küßte sie, bis ihre kalten Lippen heiß und weich wurden.

»Ich liebe dich«, flüsterte er. »Ich werde dich immer lieben, Constance. In dir habe ich die Frau gefunden, die ich ersehnt habe.«

»Der Tee ist wundervoll«, sagte Constance leise, als sie am Tisch saßen.

»Bei uns ist das eine Zeremonie«, erklärte Tim. »Du wirst es lernen, wenn du meine Frau bist.«

»Deine Frau – du kennst mich überhaupt noch nicht«, sagte sie gedankenverloren.

»Und wie ich dich kenne.«

»Ich weiß nur, daß du Tim Thornhill heißt«, sagte Constance. »Daß du einen teuren Wagen fährst und sehr selbstbewußt bist.«

»Wenn dich der Wagen stört, kaufe ich einen billigen«, erwiderte er. »Aber das Selbstbewußtsein kann mir niemand nehmen.«

»Du bist noch sehr jung«, sagte Constance nachdenklich.

»Zweiundzwanzig, und dich schätze ich auf neunzehn, stimmt’s?«

Sie nickte. »Bitte, Tim, sprich nicht vom Heiraten.«

»Warum nicht? Du sollst wissen, was ich will. Es ist kein Flirt, Constance. Oder denkst du, ich wäre wegen ein paar Büchern gekommen, die ich überall kaufen kann?«

»Uns trennen Welten«, sagte sie nachdenklich.

»Meinst du damit Geld? Wie könnte uns das trennen? Ich bin in keiner Weise davon abhängig. Im Augenblick besitze ich es, weiß ich, wie lange?« Er schlug sich an die Stirn. »Das, was dahinter arbeitet, ist wichtiger, und das«, er griff an sein Herz, »wofür das schlägt, ist allein entscheidend.«

»Zählt nicht auch, was deine Eltern wünschen?«

»Meine Eltern lieben mich, und ich liebe meine Eltern. Sie wollen, daß ich glücklich bin, wie ich will, daß sie immer glücklich bleiben. Ich weiß, daß sie dich lieben werden, wie ich dich liebe.«

»Und warum liebst du mich?« fragte sie nachdenklich.

Sollte er nun sagen, daß es ihre Ähnlichkeit mit Clarissa war, die ihn so magisch anzog? Was würde sie dann denken, so kritisch, wie sie war? Aber war es wirklich nur diese Ähnlichkeit?

Er nahm ihre Hände und legte sein Gesicht hinein. »Das kann man nicht erklären, Constance. Du mußt es fühlen. Man braucht dazu nicht Monate. Man kann sich an etwas gewöhnen, auch an einen Menschen, aber mit Liebe hat das nichts zu tun. Ich trat durch eine Tür, sah dich und wußte, daß ich endlich dem Mädchen begegnet bin, das ich mir erträumt habe.«

»Ich habe mir nie einen Mann erträumt«, sagte Constance, »aber du tratest durch diese Tür, ich sah dich an und hatte nur Angst, daß du gleich wieder gehen könntest.«

Er nahm sie in seine Arme und lachte leise. »Hast du mir nicht zugetraut, daß ich etwas von Büchern verstehe, daß ich mich in der Tür geirrt haben könnte?«

»Nebenan hat eine sehr attraktive Frau eine Boutique«, erwiderte Constance leise.

»Ich interessiere mich wahrhaftig für sehr viel, aber nicht für Boutiquen. Geht es dir jetzt besser, Darling?«

»Ich kann doch nicht glücklich sein, wenn Mama so krank ist, Tim«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Ich glaube, sie war nie richtig glücklich. Ihr Leben war schon irgendwie zu Ende, als mein Vater starb.«

»Ist das schon lange her?« fragte er.

»Ich kann mich nicht an ihn erinnern. Immer wieder hat Mama mir Bilder gezeigt, mir erzählt, wie er war und wie er aussah, aber ich war noch keine drei Jahre, als er verunglückte.«

Er lehnte sich zurück, sie aber fest im Arm haltend. »Ich kann mich an meine richtige Mutter auch nicht mehr erinnern«, sagte er gedankenverloren, »aber eines Tages brachte Dad Clarissa mit. Sie sagte: Ich möchte deine Mutter sein, Tim. Irgendwie hatte ich mir, so ganz für mich selbst, so eine Mutter gewünscht. Es war so, als würde ein Traum in Erfüllung gehen. Und so war es bei dir auch, als ich dich sah. Wir werden sehr glücklich sein, Constance.«

»Ich möchte so gern daran glauben«, sagte sie, beugte sich herab und küßte ihn. In seinen Armen schlief sie ein – und erst als sie erwachte, wurde ihr bewußt, daß er eine Mutter liebte, die gar nicht seine richtige Mutter war.

Sie richtete sich auf, doch gleich war auch er hellwach. Verwirrt sah er sie an.

»Da bin ich doch tatsächlich eingeschlafen«, sagte er verlegen. »Hat das Telefon geläutet?«

»Nein«, erwiderte Constance, »ich muß zur Arbeit.« Doch in diesem Augenblick läutete das Telefon, und Constance begann zu zittern.

Dr. Behnisch war am Apparat. »Könnten Sie kommen, Fräulein Clement? Ihre Mutter möchte Sie gern sprechen«, sagte sie.

»Ja, ich komme«, erwiderte das Mädchen.

»Hoffentlich verliere ich meine Stellung nicht«, sagte Constance, als Tim sie zur Klinik brachte.

»Das ist doch ganz unwichtig«, sagte er. »Ich werde mit deinem Chef sprechen.«

»Nein, das wirst du nicht tun«, sagte sie energisch. »Ich rufe ihn nachher an, wenn es länger dauern sollte. Er ist sehr nett und hat mir schon mehr Freizeit zugebilligt. Und du versäumst deine Vorlesungen nicht.«

»Ich habe heute keine«, redete er sich heraus.

»Du sollst nicht schwindeln«, sagte sie.

»Ich war immer sehr fleißig und bin viel weiter als andere.« Er streichelte ihre Wange. »Ich warte, mein Liebes.«

»Es ist ein gutes Gefühl, nicht allein zu sein«, sagte sie.

»Du wirst nie allein sein, Constance.«

Er blickte ihr nach, aber bald wurde er seinen Gedanken entrissen.

»Du bist aber früh auf den Beinen, Tim«, sagte eine wohlbekannte Stimme.

»Du aber auch, Daniel«, erwiderte er.

»Mein Tag fängt immer früh an.«

»Bist du wegen Constances Mutter hier?« fragte Tim gepreßt.

»Nein, ein Patient von mir muß operiert werden. Ich komme eben von ihm. Ist etwas mit Frau Clement?«

»Ich weiß nicht, was ist. Du könntest es mir sagen«, bat Tim.

»Komm mittags zu uns«, erwiderte Daniel. »Ich habe jetzt keine Zeit. Ich werde mich erkundigen.«

Ein kurzer forschender Blick noch, dann eilte er davon. Constance war von Dr. Jenny Behnisch empfangen worden. »Ihre Mutter verlangt wirklich dauernd nach Ihnen, deshalb habe ich so früh angerufen. Aber ich glaube, sie wird nun bald wieder schlafen.«

Anita Clement murmelte etwas vor sich hin, als Constance vor ihr Bett trat.

»Ich bin da, liebe Mama«, sagte sie leise.

»So weit weg, du bist so weit weg«, murmelte die Kranke. »Der Schnee, wie ich ihn hasse.«

»Es ist doch Frühling, Mama«, sagte Constance.

»Ich habe es rufen hören, Conny. Mami, Mami, immer wieder Mami, und dann habe ich dich gefunden. Aber Heinz war tot, er lag unter diesen Schneemassen. Ich habe nie davon gesprochen. Es war so schrecklich.«

»Du darfst dich nicht aufregen, Mama«, sagte Constance verwirrt.

»Und wenn ich sterbe und du es nicht weißt! Ich muß es dir doch sagen. Es hätte alles anders kommen können, vor allem für dich, mein Kind. Aber wie glücklich war ich, dich, wenigstens dich zu haben. Der Herr möge mir verzeihen. Ich wollte, daß du nichts entbehren mußt, mein Kind.«

»Ich habe ja nichts entbehrt, Mama. Bitte, sei ganz ruhig. Du wirst gesund werden.«

»Nein, Conny, ich weiß es. Ich habe dich geliebt, wie man ein Kind nur lieben kann. Du mußt es mir glauben.«

»Ich liebe dich doch auch, Mama«, flüsterte Constance.

»Ich muß es sagen, ich muß…«, aber da sank Anita Clement wieder in tiefe Bewußtlosigkeit zurück.

Jenny Behnisch ging zu Constance und griff nach ihrem Arm. »Kommen Sie, Fräulein Clement«, sagte sie behutsam, »Sie dürfen dem, was Ihre Mutter sagt, nicht allzuviel Bedeutung beimessen. Es kommen Erinnerungen, aber sie ist eine schwerkranke Frau. Das darf ich Ihnen nicht verheimlichen.«

Constance starrte die Ärztin blicklos an. »Muß sie sterben?« fragte sie tonlos.

»Ich fürchte, daß wir ihr nicht helfen können«, erwiderte Jenny Behnisch ausweichend.

»Arme Mama, aber vielleicht ist es besser, wenn sie nicht mehr so sehr leiden muß«, sagte Constance leise.

Jenny nickte. »Das ist alles, was man diesen Kranken noch wünschen kann«, sagte sie.

»Wenn Mama wieder nach mir fragt, würden Sie dann bitte im Geschäft anrufen?« bat Constance.

»Ja, selbstverständlich.«

*

Tim war nicht damit einverstanden, daß sie ins Geschäft gehen wollte, aber sie ließ es sich nicht ausreden.

»Ich mache keine Mittagspause und bitte Herrn Korff dann, daß ich gegen zwei Uhr gehen kann«, erklärte sie. »Es hat sich manches geändert, Tim, aber ich habe meine Grundsätze. Mein Chef war immer sehr entgegenkommend, ich kann ihn nicht einfach sitzenlassen.«

»Was sagen die Ärzte?« fragte er beklommen.

»Es sieht nicht gut aus. Ich wußte nicht, daß es aussichtslos sein könnte.«

»Ich werde mit Dr. Norden sprechen, mein Liebes. Wann kann ich dich abholen?«

Sie versuchte ein Lächeln. »Vergiß dein Studium nicht, Tim«, mahnte sie.

»Ich hole schnell alles nach. Jetzt mußt du mir schon erlauben, daß ich mich um dich kümmere.«

»Dann also um zwei Uhr.«

Tim fuhr in die Stadt und machte einige Besorgungen. Vor allem wollte er Constance eine Freude machen. Es bedrückte ihn sehr, daß gleich ein Schatten auf ihre junge Liebe fiel, aber daß es Liebe war, daran gab es nichts zu rütteln.

Dann aber fiel ihm ein, daß er Clarissa anrufen mußte, denn sicher hatte sie gestern abend vergeblich versucht, ihn zu erreichen.

So war es auch, und Clarissa hatte sich schon Gedanken gemacht. Tim konnte ihr erleichtertes Aufatmen deutlich hören.

Jetzt wollte er ihr auch nicht mehr verheimlichen, daß er Constance kennengelernt hatte. Clarissa war so überrascht, daß sie den Atem anhielt.

»Bist du noch da, Mummy?« fragte Tim.

»Ja, freilich. Ist sie nett, Tim?«

»Ich muß dir das alles mal genau erzählen. Ich muß mich jetzt um sie kümmern, ihre Mutter ist nämlich schwerkrank. Sie wird dir bestimmt gefallen, Mummy. Sie hat solche Augen wie du, und überhaupt… aber du wirst sie ja kennenlernen. Geht es dir gut?«

»Ja, Tim, hier ist es schön wie immer.«

Nun hat er sich doch verliebt, dachte Clarissa. So schnell kann es gehen. Constance, auch ein Name, der mit C beginnt. Sie schloß die Augen.

Wenn er nur glücklich wird, ging es ihr durch den Sinn. Es wird doch hoffentlich nicht darum gehen, daß sie ähnliche Augen hat wie ich.

Was ihr so alles durch den Kopf ging! Eine leise Wehmut kam auf, daß nun eine junge Frau den ersten Platz in Tims Herz einnehmen würde. Kam da nicht tatsächlich eine leise Eifersucht auf? Sie schalt sich solcher Gedanken. Sie sollte sich doch nur freuen, daß Tim die Liebe entdeckte. Aber das konnte sie wohl erst, wenn sie das Mädchen kennenlernte.

Ich bin ganz schön egoistisch, sagte sie zu sich selbst. Meine beiden Männer – als würden sie nur mir allein gehören. Aber gerade dieses Gefühl hatte ihr ja geholfen zu überwinden, was einmal geschehen war.

Und wenn sie auch nur einen Gedanken an die Vergangenheit verschwendete, überfiel sie lähmende Angst.

Tim hatte keine Ahnung, welche Gedanken Clarissa jetzt quälten. Seine Sorge galt Constance.

Punkt zwölf Uhr war er bei den Nordens. Daniel war noch nicht zu Hause. »Du wirst doch mit uns essen, Tim«, sagte Fee.

»Sehr lieb gemeint, Fee, aber ich habe keinen Hunger. Ich muß dann auch dafür sorgen, daß Constance etwas ißt.«

Er sagte dies mit solcher Selbstverständlichkeit, daß Fee nun doch überrascht war.

»Das kam aber ziemlich plötzlich«, meinte sie. »Oder kennst du sie schon länger?«

»Ein paar Tage oder ewig, was spielt das für eine Rolle«, erwiderte er geistesabwesend. »Weiß Daniel schon, an welcher Krankheit Frau Clement leidet?«

»Er hat eine Vermutung«, erwiderte Fee ausweichend. »Er wird selbst mit dir darüber sprechen.«

Und das tat Daniel dann auch mit aller Vorsicht. Tim hörte aufmerksam zu. Sein Gesicht veränderte sich immer mehr.

Dann sah er Daniel mit brennenden Augen an. »Willst du mir einreden, ich solle mich von Constance trennen?« fragte er fast aggressiv. »Das kommt überhaupt nicht in Frage. Und ihr wird man davon nichts sagen, das mache ich zur Bedingung. Gut, ich bin dafür, daß sie gründlich untersucht wird. Man kann ihr sagen, daß möglicherweise ein übertragbarer Virus diese Verschlechterung ausgelöst hat bei ihrer Mutter.«

»Du denkst sehr schnell«, stellte Daniel fest. »Ich will dir doch auch nichts einreden. Ich will nur das Beste für dieses Mädchen und auch für dich, Tim. Nun, Constance hat eine ganz andere Blutgruppe als ihre Mutter. Das ist sehr ungewöhnlich und könnte von Vorteil für sie sein. Aber man muß an kommende Generationen denken, wenn eine Erbkrankheit vorliegt.«

»Dann schaffen wir uns eben keine Kinder an«, sagte Tim eigensinnig. »Ich habe das Mädchen gefunden, das ich liebe, und ich werde Constance heiraten.«

Daniel betrachtete ihn forschend. »Ist es wirklich nicht nur die Ähnlichkeit mit Clarissa, die dich anzieht, dich fasziniert, Tim?« fragte er ruhig.

»Sicher spielt das eine Rolle, sonst wäre ich ja nicht sofort auf sie aufmerksam geworden«, gab Tim zu, »aber jetzt kenne ich sie schon besser und weiß, daß wir uns wundervoll ergänzen. Man kann Liebe doch nicht mit Worten erklären, Daniel. Der Verstand ist ausgeschaltet. Man fühlt einfach nur. Du weißt das doch auch.«

Daniel lächelte nachsichtig. »Jetzt wollen wir uns mal darauf konzentrieren, daß Constance Clement sich baldigst einer Untersuchung unterzieht. Du wirst ihr das schon gefühlvoll und behutsam plausibel machen.«

Tim nickte. »Wie lange gibt man ihrer Mutter noch?« fragte er.

»Das ist schwer zu sagen. Das Herz ist schon sehr schwach.«

»Ich möchte, daß sie mich noch kennenlernt, daß sie weiß, daß Constance gut aufgehoben sein wird bei mir.«

Der Junge denkt an alles, ging es Daniel Norden durch den Sinn, aber er empfand Hochachtung vor dem Jüngeren, daß er so konsequent dachte. Nach einer so kurzen Bekanntschaft hätte ein anderer wohl doch Zweifel empfunden.

»Sprich darüber auch mit Constance. Sie kennt ihre Mutter besser als ich.«

»Hätte man Frau Clement helfen können, wenn sie früher richtig behandelt worden wäre?« fragte Tim.

»Die Krankheit selbst ist nicht heilbar«, erklärte Daniel. »Ich kann nichts beschönigen. Man hätte ihr nur manche Schmerzen ersparen können, vielleicht auch das Leben verlängern können, aber ich weiß nicht, ob das für den Patienten selbst gut ist. Wir Ärzte sind auch Menschen, Tim. Uns sind Grenzen gesetzt. Ich muß das leider immer wieder sagen.«

»Und eine Kur auf der Insel der Hoffnung?« fragte Tim.

»In diesem Stadium der Krankheit brächte sie keinen Erfolg. Sie wird in der Behnisch-Klinik gut versorgt.«

Tim blickte ihn voll an. »Für Constance wird jedenfalls getan, was menschenmöglich ist«, sagte er. »Und ich bitte dich, sie nicht zu erschrecken. Ich erinnere dich an unsere Freundschaft.«

*

»Und da redet man von nüchternen Engländern«, sagte Daniel zu Fee, als Tim gegangen war. »Der Junge ist ein Romantiker.«

»Nein, mein Schatz, er liebt dieses Mädchen«, sagte Fee. »Und ich hätte ihm gewünscht, daß seine erste Liebe nicht unter einem ungünstigen Stern steht.«

Solche Gedanken kamen Tim nicht. Daß Constances Mutter todkrank war, war eine traurige Tatsache. Seine Liebe war eine andere.

Er holte Constance ab. »Du mußt erst etwas essen«, sagte er. »Du bist blaß.«

»Jetzt gibt es sowieso nichts mehr«, erwiderte sie.

»Ich habe etwas eingekauft«, erklärte er.

»Du bist lieb, aber vielleicht ist Mama gerade wach.«

Als sie aber zur Klinik kamen, schlief Anita Clement noch. Dr. Jenny Behnisch sagte allerdings, daß eine leichte Besserung eingetreten sei.

»Ich lasse Ihnen Kaffee oder Tee bringen, wenn Sie warten wollen«, sagte sie freundlich. »Sie können sich in mein Zimmer setzen, da sind Sie ungestört.«

Und dort fütterte Tim Constance dann auch mit den appetitlichen Häppchen, die er besorgt hatte.

»Sie sind alle sehr nett hier«, sagte Constance leise. »Ich bin sehr froh für Mama, daß sie nicht wie ein Mensch dritter Klasse behandelt wird. Ich glaube, davor hatte sie immer Angst und wollte deshalb nicht in eine Klinik. Früher ist es uns mal sehr gut gegangen. Nun ja, Not mußten wir beide nie leiden, aber für Mama war es wohl doch bedeutend schwerer, ihre Ansprüche zurückzuschrauben, als für mich. Mama hat den Tod meines Vaters wohl nie verwunden.« Sie dachte nach. »Was ihr jetzt wohl so durch den Sinn geht, daß sie so seltsam redet.« Dann wechselte sie wieder das Thema. »Was hat Dr. Norden gesagt? Bitte, sag mir die Wahrheit, Tim.«

»Er meint, daß da ein Virus dahinterstecken könnte, und deshalb solltest du dich auch untersuchen lassen«, erwiderte er.

»Ich fühle mich aber durchaus nicht krank, nur ein bißchen müde.«

»Vorbeugen ist aber besser, Constance«, sagte er.

Sie nickte. »Ich darf jetzt nicht krank werden«, sagte sie vernünftig.

»Dann bringe ich dich nachher zu Dr. Norden«, sagte er.

Sie lächelte flüchtig. »Ich brauche nichts mehr allein zu entscheiden«, sagte sie. »Ist dein Vater auch so energisch?«

»Wenn es um Mummys Gesundheit geht, schon. Deswegen läßt er sie auch jedes Jahr auf die Insel der Hoffnung fahren, obgleich er sie sehr vermißt. Ich habe heute mit Mummy telefoniert und ihr von dir erzählt. Ich kann mir vorstellen, wie gespannt sie ist, dich kennenzulernen.«

»Oder auch nicht. Vielleicht haben deine Eltern ganz andere Pläne mit dir.«

»Aber nein das darfst du nicht denken. Sie wollen nur, daß ich glücklich werde. Aber ich möchte gern auch mit deiner Mutter sprechen, Constance. Sie soll mich doch wenigstens kennenlernen.«

»Vielleicht begreift sie gar nichts mehr«, sagte Constance leise.

»Du kannst ja auch von mir erzählen, dann wirst du schon sehen, wie sie reagiert.«

Und da kam Schwester Irmgard und sagte, daß Constance kommen solle, da Frau Clement erwacht sei.

»Ich warte«, sagte Tim.

Anita Clement machte einen etwas frischeren Eindruck. »Es ist erst drei Uhr«, sagte sie. »Schwester Irmgard hat es mir gesagt. Du bist schon da, Kind?«

»Ich habe mir freigeben lassen. Das heißt, Herr Korff hat es mir angeboten. Er ist sehr verständnisvoll, Mama. Geht es besser?«

»Ich habe gar keine Schmerzen, kannst du dir das vorstellen? Ich fühle mich richtig wohl. Jetzt glaube ich doch wieder daran, daß ich noch mal gesund werde, mein Kind.«

»Siehst du, Mama, du hättest halt schon früher mal in die Klinik gehen sollen.«

»Dr. Brückner wollte mich in dieses schreckliche Krankenhaus bringen, davor habe ich mich gefürchtet. Hier sind alle so freundlich. Aber wird die Kasse das auch bezahlen?«

»Sicher, jedenfalls hat Dr. Behnisch es gesagt. Die Hauptsache ist doch, daß du gut untergebracht bist, Mama.«

»Aber die dreißigtausend Mark, die auf der Bank für deine Aussteuer liegen, dürfen nicht angegriffen werden, Conny. Das will ich nicht«, sagte die Kranke.

»Sie werden nicht angegriffen, Mama, aber ich brauche das Geld wirklich nicht.«

»Wenn ich es nur noch erleben könnte, daß du einen anständigen Mann bekommst«, flüsterte Anita. »Es würde mich so sehr beruhigen. Aber du bist ja nie unter Menschen gekommen. Immer warst du zu Hause bei mir.«

»Es ist mir nicht schlecht bekommen, Mama«, sagte Constance. »Außerdem kann man auch in einer Buchhandlung einen Mann kennenlernen«, fuhr sie dann mutig fort. »Und ich habe sogar einen besonders netten kennengelernt, der dich auch sehr gern besuchen würde, Mama.«

»Du hast einen Mann kennengelernt«, flüsterte Anita. »Erzähle!«

»Er ist Engländer…«

»Engländer«, flüsterte die Kranke bebend.

»Er heißt Tim Thornhill und hat Bücher bei uns gekauft. Er hat mich gebeten, es dir zu erzählen, Mama.«

»Er meint es ernst«, flüsterte Anita.

»Darf er dich mal besuchen?«

»Morgen vielleicht. Da geht es mir sicher noch besser. Es zeugt von guter Erziehung, wenn ein junger Mann einen Besuch machen will«, mummelte sie. »Früher war das selbstverständlich in unseren Kreisen. Aber ich weiß ja, daß du wählerisch bist. Es beruhigt mich sehr.

Seltsam – ein Engländer«, fügte sie dann kaum vernehmbar hinzu, und dann sanken ihre bläulichen Lider herab.

Arme Mama, dachte Constance wieder, wie hübsch war sie einmal gewesen. Sie strich ihr das dunkle von vielen grauen Fäden durchzogene Haar aus der Stirn und hauchte einen Kuß auf die blasse Stirn. Wie entrückt sie dieser Welt schon ist, dachte Constance erschüttert.

Aber draußen wartete Tim, das Leben. Das Frösteln legte sich, als er sie in den Arm nahm.

»Morgen kannst du Mama besuchen, wenn es ihr bessergeht«, sagte sie leise. »Ja, wenn es ihr bessergeht.«

»Wir wissen jetzt, daß sie nicht mehr gesund werden wird, aber ich möchte ihr sagen, daß du meine Frau werden wirst, Constance«, sagte Tim. »Sie soll es wissen.«

»Du sagst es so sicher«, flüsterte sie. »Wenn ich nur so sicher sein könnte.«

»Vertraust du mir nicht?« fragte er bestürzt.

»Dir schon.« Sie zog fröstelnd die Schultern zusammen. »Fühlst du dich nicht wohl, Liebes?« fragte Tim erschrocken.

»Ich bin nur müde«, sagte sie. »Aber vielleicht ist es doch ein Virus.«

»Dr. Norden wird es feststellen. Wir fahren jetzt hin.«

Loni war unterrichtet, aber sie gestattete sich doch, Constance Clement genau zu betrachten. Sie war mit dem Ergebnis sehr zufrieden und hoffte, daß Dr. Norden auch mit dem Untersuchungsergebnis sehr zufrieden sein würde. Worum es wirklich ging, ahnte sie nämlich nicht.

»Laß dir von Loni Kaffee geben, Tim«, sagte Dr. Norden, nachdem er Constance begrüßt hatte und sie in das Untersuchungszimmer führte. »Es wird schon ein bißchen dauern.«

Er schloß die Tür hinter sich. Constance sah ihn fragend an. »Muß ich mich ausziehen?« fragte sie schüchtern.

Daniel Norden lächelte. »Röntgenaugen habe ich leider nicht«, erwiderte er mit einem aufmunternden Lächeln. »Sie brauchen keine Angst zu haben. Es tut nicht weh. Ein bißchen Blut muß ich Ihnen dann allerdings auch noch abzapfen.«

»Das hat doch Dr. Behnisch schon getan.«

»Wir müssen noch ein Blutbild machen. Wissen Sie zufällig, welche Blutgruppe Ihr Vater hatte?«

»Nein, von ihm weiß ich gar nichts. Ich war noch nicht drei Jahre, als er starb.«

Gewissenhaft ging die Untersuchung vonstatten. Dr. Nordens Gesicht zeigte einen zufriedenen Eindruck. Dann aber entdeckte er an Constances Halsansatz einen dunklen Punkt. »Haben Sie das Pünktchen schon immer?« fragte er.

Ihre Lippen teilten sich zu einem Lächeln. »Ja, es ist ein unveränderliches Kennzeichen, hat Mama einmal gesagt.«

Dr. Norden starrte sie an. Er hatte eine Vision. Er meinte plötzlich, Clarissa vor sich zu sehen, die besorgt war um ihr Muttermal. In diesem Augenblick erst wurde ihm bewußt, wie ähnlich Constance Clement Clarissa Thornhill tatsächlich war. Und sogar solch ein Pünktchen hatte sie, wenn auch an einer anderen Stelle. Er mußte sich höllisch beherrschen, damit ihm jetzt kein unbedachter Ausruf über die Lippen kam.

Aber das konnte doch nur ein Zufall sein! Welche Erklärung konnte man dafür sonst finden?

»Ist etwas?« fragte Constance ängstlich, als er immer wieder auf dieses Pünktchen blickte.

»Hübsch ist es, Ihr besonderes Kennzeichen«, sagte Dr. Norden mit einem gezwungenen Lächeln. »Und was ich bisher feststellen konnte, ist kerngesund.«

»Also kein Virus?« fragte sie.

»Kein Anzeichen dafür.« Aber es gab noch einiges mehr, was ihn irritierte.

Darüber wollte er allerdings erst mit seinem Freund Dieter Behnisch sprechen. Jetzt machte er sich eifrig Notizen.

»Zwei Vitaminkapseln täglich könnten nicht schaden«, sagte er beiläufig.

»Wenn ich Tabletten nehme, bekomme ich Ausschlag«, erwiderte Constance.

»Was für Ausschlag?« fragte er.

»So juckenden. Allergien sind das, hat Dr. Brückner mal gesagt. Aber schlimm ist das nicht, nur nicht angenehm. Er hat gesagt, daß Allergiker selten Krebs bekommen und außerdem sehr intelligent wären. Sagen Sie das auch?«

»Ja, man sagt es«, erwiderte Dr. Norden. »An Ihrer überdurchschnittlichen Intelligenz möchte ich nicht zweifeln, Constance. Allergien können allerdings manch­mal auch recht lästig werden. Fragen Sie mal Tim. Seine Mutter leidet auch darunter.«

Und ihn irritierte es ungemein, daß sie auch darin Clarissa ähnlich war.

*

Tims Miene hellte sich auf, als Daniel lächelnd aus dem Untersuchungsraum kam.

»Was hast du festgestellt, Daniel?« fragte er hastig.

»Daß deine Constance kerngesund ist, wie selten ein Mädchen ihres Alters, das ich unter die Augen bekomme. Komm, ich muß mal kurz mit dir allein sprechen.«

Er zog ihn ins Labor. »Sag mal, Tim, ist Constance vielleicht ein adoptiertes Kind?« fragte er ganz direkt.

»Wie kommst du denn darauf?« staunte der Jüngere.

»Weil sie mit deiner Mutter mehr Ähnlichkeiten aufweist als mit ihrer eigenen«, erwiderte Dr. Norden, doch als er es ausgesprochen hatte, bereute er es, denn so hätte er es wohlüberlegt nicht gesagt.

Aber Tim blieb unbefangen. »Du findest also auch, daß sie Mummy ähnlich sieht«, sagte er. »Aber mir ist es am wichtigsten, daß sie gesund ist. Es gibt also keine Anzeichen für diese schreckliche Krankheit, an der ihre Mutter leidet.«

»Nicht die geringsten«, erwiderte Daniel wahrheitsgemäß. »Aber sie ist sehr allergisch, wie deine Mutter auch, Tim.«

»Na, das ist ja keine Krankheit«, sagte Tim. »So was geht schnell vorbei.«

»Du könntest herausfinden, worauf sie allergisch ist.«

»Oder ich kann vermeiden, sie mit solchen Sachen zu füttern, auf die Mummy ihre Allergien bekommt«, meinte Tim. »Jetzt werde ich jedenfalls mit ihr ganz opulent essen gehen. Mir knurrt der Magen.«

»Und ihr schadet es auch nicht, wenn sie ein paar Pfund zunimmt. Ich hoffe, du stellst sie bald einmal Fee vor.«

»Mache ich gern. Anruf genügt«, erwiderte Tim, und seine Augen strahlten. »Ich denke nicht an die nächste Generation, Daniel, ich möchte die Gegenwart genießen.«

»Dann genießt sie«, sagte Daniel schmunzelnd. Aber seine Gedanken arbeiteten. Was ihn beschäftigte, konnte er nicht einfach wegwischen.

Ihm wurden Rahmschnitzel mit Champignons vorgesetzt, und er hatte auch Hunger nach einem arbeitsreichen Tag.

Tim hatte Constance in ein Feinschmeckerrestaurant geführt. Sie studierte die Speisekarte. »Liebe Güte, davon kenne ich überhaupt nichts«, sagte sie. »Such du was aus. Allerdings würde ich gern mal einen Krabbencocktail essen. Davon habe ich schon mal etwas gehört. Schmeckt das wirklich so toll?«

»Mir schon, aber Mummy wird darauf allergisch«, erwiderte er, »und Dr. Norden hat mir gesagt, daß du auch zu Allergien neigst.«

»Aber nur, wenn ich Tabletten nehme«, erwiderte sie. »Wir können ja einen bestellen, und ich probiere nur mal. Teuer genug ist der sowieso.«

Tim bestellte Krabbencocktail und eine klare Ochsenschwanz­suppe als Vorspeisen. Als Hauptspeise Filetspitzen Stroganoff mit Beilagen.

Er aß dann die Ochsenschwanzsuppe und Constance löffelte mit Begeisterung den Krabbencocktail.

»Schmeckt phantastisch«, sagte sie, »aber es wird irrsinnig viel kosten, Tim.«

Wie bezaubernd sie das sagte. Er hätte sie küssen mögen. Aber als sie dann daheim waren und er sie küssen wollte, wich sie zurück.

»Bei mir kribbelt es«, flüsterte sie beunruhigt. »Sieht man mir schon was an, Tim? Meine Augen brennen. Das kenne ich eigentlich nur, wenn ich mal Erdbeeren gegessen habe.«

»Also bist du nicht nur allergisch auf Tabletten«, sagte er.

»Aber heute habe ich doch keine Erdbeeren gegessen«, sagte sie kleinlaut.

»Aber Krabbencocktail, und bei Mummy brennen auch die Augen, wenn sie Schalentiere ißt. Jetzt ißt sie keine mehr. Du bist ihr viel ähnlicher, als ich dachte, Constance. Aber reg dich nicht auf, das geht vorbei. Und wenn es zu sehr juckt, rufen wir Daniel an, und er gibt dir eine Calciumspritze.«

»Ich werde abscheulich aussehen«, murmelte sie. »Ich kenne das doch, wenn auch nur von Erdbeeren.«

»Je mehr man daran denkt, desto schlimmer wird es«, sagte Tim.

»Aber es wird mit jeder Minute schlimmer«, sagte Constance.

»Dann fahren wir zu den Nordens, und du bekommst eine Spritze«, sagte er. »Ich rufe an.«

»Aber es ist schon spät. Wir können doch jetzt nicht mehr stören.«

»Was meinst du, wie oft er abends gestört oder gar nachts aus dem Schlaf geholt wird. Und außerdem interessiert er sich auch für deine Allergien. Er geht den Dingen nämlich auf den Grund.«

*

Über die Ähnlichkeit zwischen Clarissa und Constance hatte Daniel Norden gerade mit seiner Frau gesprochen.

»Vielleicht sind sie unter dem gleichen Sternbild geboren«, sagte Fee nachdenklich. »Ich habe mal gelesen, daß da sehr große Übereinstimmungen möglich sind.«

»Das trifft in diesem Fall nicht zu«, erwiderte Daniel. »Clarissa hat im Februar Geburtstag und Constance Clement im August.«

Das Telefon läutete. Fee seufzte. »Hoffentlich mußt du nicht noch mal weg«, meinte sie.

»Na, dann kommt mal«, hörte Daniel sie sagen.

»Wer kommt?« fragte er.

»Tim und Constance. Sie hat eine Allergie.«

»Also, das Mädchen ist voller Rätsel«, meinte er. »Die Mutter hat Blutgruppe Null, sie Blutgruppe B, die ja wahrhaftig selten ist. Und erschrick nicht, wenn sie kommt, Fee, sie hat tatsächlich eine enorme Ähnlichkeit mit Clarissa.«

Doch diese konnte man nicht feststellen, als Tim Constance brachte. Ihre Gesicht war gerötet und geschwollen, und die Augen waren schon ganz klein zusammengepreßt.

Und dann liefen ihr auch noch die Tränen aus den Augenwinkeln.

»Nicht weinen, Constance, dann wird es nur schlimmer«, sagte Tim tröstend.

»Ich will ja nicht weinen«, flüsterte sie. »Aber so schlimm war es noch nie.«

Dr. Norden zog eine Injektion auf. »Es wird bestimmt bald besser«, sagte er. »Was hat sie gegessen, Tim?«

Tim zählte es auf, aber er fügte gleich hinzu, daß er auf den Krabbencocktail tippe.

»Bei Mummy habe ich auch mal so was erlebt, und ich habe Constance gewarnt«, sagte er, »aber sie hatte noch nie Krabbencocktail gegessen.«

»Und er hat so gut geschmeckt«, sagte Constance.

»Tut mir wirklich leid«, sagte Daniel, »aber wir werden einen Test machen und feststellen, worauf Sie sonst noch allergisch reagieren. Angenehm ist es ja nicht, wenn man dann ein paar Tage verschwollen aussieht.«

»Gleich ein paar Tage?« fragte sie bestürzt.

»Ich liebe dich dennoch«, sagte Tim und nahm sie in die Arme.

Eine halbe Stunde später waren Daniel und Fee wieder allein. »Was sagst du nun?« fragte er.

»Tim liebt sie.«

»Ist das alles?«

»Ähnlichkeiten mit Clarissa kann ich nicht beurteilen, bis auf die Allergie, und ich habe Clarissa nie gesehen, wenn sie eine hatte.«

»Ich will mir ja selbst nicht was einreden, Fee, aber wenn Constance tatsächlich das leibliche Kind von Frau Clement ist, stehe ich wieder mal vor einem medizinischen Rätsel.«

»Willst du etwa sagen, daß sie Clarissas Kind ist?« fragte Fee lächelnd.

»Gott bewahre, aber diese Ähnlichkeit muß doch erklärbar sein. Vielleicht hatte Clarissa eine Schwester oder einen Bruder. Über ihre Vergangenheit hat sie nie gesprochen.«

»Man kann sie nicht dazu zwingen, Daniel«, sagte Fee ernst.

»Aber du kannst Anne mal anrufen und ihr einen Wink geben.«

»So was mache ich nicht gern. Clarissa ist glücklich in ihrer Ehe, glücklich mit Tim.«

»Aber sie wird das Mädchen auch kennenlernen. Ihr Ebenbild, wenn man von der Haarfarbe absieht. Daran müssen wir auch denken. Tim wird seinen Eltern strahlend seine zukünftige Frau präsentieren und wahrscheinlich sagen: ›Schau, Mummy, ich habe eine Frau gefunden, die dir ähnlich sieht.‹ So was hat er sich doch immer vorgestellt. Meinst du, daß Clarissa das gelassen hinnimmt? Vielleicht gibt es in ihrer Vergangenheit ein Geheimnis, von dem wir nichts wissen, und sie bekommt einen Schock. Mit Frau Clement kann ich nicht sprechen.«

Fee sah ihren Mann kopfschüttelnd an. »Du denkst dir einen ganzen Roman aus«, sagte sie.

»Sogar solch ein Muttermal hat sie«, sagte er nachdenklich. »Und sie ist gesund. Ich könnte schwören, daß sie nichts vom kranken Blut dieser Anita Clement in sich hat, und dies allein wäre doch für Tim wichtig. Daran denke ich, Fee.«

»Das ist allerdings ein triftiges Argument«, sagte Fee. »Also werden wir versuchen, dieses Rätsel zu lösen.«

*

»Schau mich bitte nicht an, Tim«, bat Constance, als er sie heimbrachte. »Laß mich jetzt allein.«

»Die liebe Eitelkeit«, sagte er leichthin. »Als würde es mich stören, daß deine Augen ein bißchen geschwollen sind.«

»Ein bißchen ist gut gesagt. Ich kann wirklich kaum noch etwas sehen.«

»Der Betroffene ist immer schlimmer dran. Ich weiß das von Mummy. Ich lasse dich doch jetzt nicht allein, Darling. Fee hat mir Tee mitgegeben, den koche ich. Und den wirst du trinken. Und dann erzählst du mir wieder ein bißchen was von deiner Kindheit und zeigst mir Fotos.«

»Wir haben nicht viele«, erwiderte Constance.

»Ich möchte gern wissen, wie du als Kind ausgeschaut hast«, sagte er.

»Wie alle Kinder. Ja, ich glaube, alle Kinder sind sich ähnlich. Erst später entwickelt man eine eigene Persönlichkeit.«

»Ich finde es jedenfalls schön, daß du Mummy ähnlich bist«, sagte er.

»Du hast aber gesagt, daß sie nicht deine richtige Mutter ist.«

»Das spielt doch keine Rolle. Könnte es nicht auch sein, daß du eine andere Mutter hast, oder einen anderen Vater, Constance? Für mich wäre das völlig gleich.«

Ihr Gesicht sah schon fast wieder normal aus, nur die Augen waren noch klein. »Du bist manchmal komisch, Tim«, sagte sie. »Aber ich kann beweisen, daß meine Eltern meine richtigen Eltern sind. Wenn eine Ähnlichkeit mit deiner Mutter besteht, ist sie rein zufällig.«

Er griff in seine Brusttasche. »Ich zeige dir ein Bild von Mummy, und dann kannst du sagen, was du denkst.«

Constance betrachtete das Foto. Sie hielt den Atem an. »Sie ist schön«, flüsterte sie. »So schön werde ich nie sein.«

»Du bist nur jünger und hast dunkles Haar«, sagte er. »Als ich Clarissa kennenlernte, war sie achtundzwanzig, nicht erst neunzehn. Wenn du mal achtundzwanzig bist, wirst du ihr vielleicht noch ähnlicher sein, oder auch nicht.«

Constance wandte sich ab. »Du liebst sie, nicht mich«, sagte sie leise.

»Da täuschst du dich aber gewaltig!« rief Tim aus. »Ich liebe dich. Natürlich liebe ich auch sie, aber auf andere Weise. Sie hat mich vergessen lassen, daß ich eine andere Mutter hatte, und ich weiß, daß Dad sie mehr liebt, als er meine Mutter geliebt haben könnte.«

Constance ging zur Schrankwand und öffnete eine Tür.

Sie nahm eine Ledertasche heraus.

»Mein Vater hieß Franco Clement, und meine Mutter war eine geborene Bernheim«, sagte sie leise. »Du kannst meine Geburtsurkunde lesen, Tim. Und da sind auch die Fotos. Die kannst du auch anschauen. Ich möchte mich jetzt hinlegen. Ich bin müde.«

Er umschloß ihre Arme und hielt sie fest. »Mir ist es doch gleich, wer deine Eltern sind, Constance«, sagte er leise. »Dr. Norden rätselt nur, weil du eine ganz andere Blutgruppe hast als deine Mutter.«

»Vielleicht bin ich meinem Vater ähnlicher«, erwiderte sie müde. »Das gibt es doch, auch wenn ich ihn nie kennenlernte. Kann sich denn ein dreijähriges Kind an einen Menschen erinnern, den es später nie mehr sah? Kannst du dich an deine richtige Mutter erinnern?«

»Nein«, erwiderte er. »Du mißverstehst mich wohl, Constance. Für mich zählst nur du.«

»Und ich habe erfahren, daß ich die seltene Blutgruppe B habe«, sagte sie mit einem spöttischen Unterton. »Leider kann ich nicht sagen, welche Blutgruppe mein Vater hatte.«

»Es geht doch nicht darum, Liebes«, sagte er. »Es geht nur um deine Gesundheit.«

Ihm wurde bewußt, daß er es falsch gesagt hatte, als sie ihn entsetzt ansah.

»Ihr nehmt also an, daß ich die gleiche Krankheit habe wie meine Mutter«, flüsterte sie bebend.

»Nein, das nehmen wir nicht an«, widersprach er. »Hätte ich nur gar nichts gesagt. Ich liebe dich doch, und nichts wird uns trennen, Constance.«

»Sag das nicht, Tim«, erwiderte sie müde.

Sie war eingeschlafen, und er hielt immer noch ihre Hände. Die scharlachroten Flecken waren nicht mehr so deutlich sichtbar.

Leise erhob er sich und ging in das Wohnzimmer hinüber.

Es war nicht Neugierde, die ihn trieb, die Dokumententasche zu öffnen, sondern nur der Wunsch, mehr über Constance zu erfahren.

Wohlgeordnet fand er die Dokumente, die Aufschluß gaben über die Herkunft ihrer Eltern.

Franco Clement hatte die Ehe mit Anita Bernhoff am achtzehnten April 1958 geschlossen. Am fünfzehnten August 1962 war ihre Tochter Constance Maria Angelika geboren worden. Knapp drei Jahre später war Franco Clement verstorben. In St. Moritz, wie Tim jetzt ganz überrascht las. So sagte es die Sterbeurkunde aus.

In einem Umschlag befanden sich einige Fotografien. Ein Hochzeitsbild, das ein sehr hübsches junges Paar darstellte, Franco und Anita Clement, und Tim konnte feststellen, daß Anita eine sehr reizvolle junge Frau gewesen war, die allerdings nicht die geringste Ähnlichkeit mit Constance aufwies. Franco Clements Gesicht zeigte einen deutlichen romanischen Einschlag, aber wie aus Urkunden hervorging, war er in München geboren, und auch die Ehe war in München geschlossen worden.

Ein zweites Foto stellte das Ehepaar mit einem kleinen Mädchen dar, ein süßes Kind von etwa einem Jahr, mit großen Kulleraugen und dunkellockigem Haar.

Tim betrachte es nachdenklich, erinnerte sich aber, daß auch von ihm Kinderbilder existierten, die nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem erwachsenen Tim aufwiesen.

Auf dem Foto von Constances erstem Schultag fand er jedoch schon vertraute Züge vor. Tim betrachtete es lange, wollte dann aber nicht so indiskret sein, auch die weiteren Fächer zu untersuchen. Er sah nur einen großen weißen Umschlag, auf dem in klarer Schrift geschrieben stand: Mein Testament.

Ein Frösteln kroch über seinen Rücken, denn von Dr. Norden wußte er, daß Anita Clements Tage gezählt waren.

Auf Zehenspitzen ging er zu Constances Zimmer. Sie öffnete die Augen, als er an ihr Bett trat. Die roten Flecken in ihrem Gesicht waren schon fast verschwunden.

»Bist du nun überzeugt, daß ich die leibliche Tochter meiner Mutter bin, Tim?« fragte sie ruhig.

Er nickte, aber in ihm blieben Zweifel, die er nicht erklären konnte.

»Darf ich dich etwas fragen, Constance?«

»Ich weiß nicht, welche Blutgruppe mein Vater hatte«, sagte sie spöttisch, »falls du das meinst.«

»Nein, er starb in St. Moritz, und du sagtest, es wäre ein Unfall gewesen.«

»Und mehr weiß ich nicht. Mama hat mich gebeten, sie niemals daran zu erinnern. Es wäre der schrecklichste Tag ihres Lebens gewesen.« Sie schöpfte tief Atem. »Bitte, laß mich jetzt allein. Es ist überhaupt besser, wenn wir uns nie mehr sehen.«

»Constance«, stieß er bestürzt hervor. »Ich liebe dich.«

»Aber in dir sind Zweifel. Und wenn ich krank bin, ist es gut, wenn wir uns trennen.«

»Diese blöde Untersuchung«, sagte er heiser. »Hätte ich doch nur nicht darauf bestanden. Du bist gesund, kerngesund.«

»Das kann man auch sagen. Dr. Brückner hat auch immer zu Mama gesagt, daß sie wieder gesund wird. Ich hasse diese Zwecklügen. Ich will wissen, an welcher Krankheit Mama leidet. Ich werde es in Erfahrung bringen, verlaß dich darauf. Bitte, geh jetzt.«

»Nein, ich gehe nicht. Wenn ich schuld bin, daß du verunsichert wurdest, mußt du mir auch zugestehen, daß ich deine Zweifel ausräume. Ich werde morgen das Aufgebot bestellen.«

»Das wirst du nicht«, widersprach sie heftig.

»Das werde ich doch«, erklärte er eigensinnig. »Du wirst schneller meine Frau sein, als du denkst.«

»Dazu gehören zwei«, sagte sie, aber als er sie in seine Arme nahm und küßte, erlahmte ihr Widerstand. »Wie sollte ich dir sonst beweisen, daß ich dich liebe, Constance«, flüsterte er, »daß uns keine Macht der Welt trennen kann.«

Sie schluchzte trocken auf. »Ich liebe dich doch auch, Tim. Ich will doch wirklich nicht, daß du unglücklich wirst.«

»Ich werde nur unglücklich sein, wenn du mich wegschickst, Liebes, aber ich lasse mich nicht wegschicken.«

*

Tim hatte Constance zum Geschäft gebracht. Sie hatte darauf bestanden. Er fuhr zu Dr. Nordens Praxis. Loni wunderte sich, daß er schon wieder da war.

»Der Chef muß erst drei Patienten versorgen, die ins Büro müssen«, sagte sie.

»Ich kann warten«, erklärte er.

Der Junge ist hartnäckig, dachte Dr. Norden, als Loni ihm sagte, daß Tim wieder da sei.

Eine halbe Stunde später saßen sie sich gegenüber. Tim brachte sein Anliegen ohne Umschweife vor.

»Constances Vater ist in St. Moritz ums Leben gekommen«, erklärte er. »Wäre es möglich, in Erfahrung zu bringen, wie er starb? Sie weiß es nicht.«

»Und warum willst du es wissen?«

»Du meinst, daß nach medizinischen Erkenntnissen Anita Clement nicht Constances Mutter sein könnte. Ich möchte gern wissen, wie es mit dem Vater steht.«

Dr. Norden runzelte die Stirn. »Weißt du das genaue Sterbedatum?«

»Ich habe es aufgeschrieben.« Tim schob ihm einen Zettel zu. »Die Klinik ist auch angegeben.«

»Es wird nicht so einfach sein, Tim«, meinte Daniel. Dann kam ein nachdenklicher Ausdruck in seine Augen. »Dieses Datum, diese Klinik – warte, ich muß Anne anrufen.«

»Wieso Anne?« fragte Tim verblüfft.

»Das erfährst du gleich. Jetzt kann ich sie noch am ehesten erreichen.«

»Ich möchte aber nicht, daß Mummy davon erfährt«, sagte Tim leise.

Daniel hatte schon gewählt, und Anne meldete sich selbst. Bestürzt hörte Tim, wie Daniel sagte: »Entschuldige, Anne, wenn ich dich an ein schlimmes Datum erinnere, aber könntest du mir sagen, wer damals Katja in St. Moritz versorgt hat?«

»Wozu brauchst du das, Daniel?« fragte Anne konsterniert.

Das konnte Tim allerdings nicht hören.

»Es geht um einen Mann, der damals im gleichen Krankenhaus starb. Ich vermute, daß er auch durch die Lawine ums Leben kam. Ich erkläre dir alles später. Dr. Leonard war das also. Inzwischen vielen Dank. Ihr hört wieder von mir.«

»Was hat das zu bedeuten?« fragte Tim.

»Annes erster Mann kam bei diesem Lawinenunglück ums Leben«, erklärte Daniel. »Katja wurde lebend geborgen, aber sie litt Jahre unter einer Schocklähmung. Zum Glück wurde diese dann wieder behoben. Das Datum hat mich stutzig gemacht, Tim. Es könnte ja sein, daß auch Clement ein Opfer war. Es gab einige Tote, ich glaube zehn oder gar zwölf. Anne spricht auch nicht gern darüber. Und ich könnte verstehen, daß auch Frau Clement daran nicht erinnert werden will, falls sie möglicherweise sogar dabei war.«

»Könnte es dann nicht sein, daß ihre Krankheit darauf beruht?« fragte Tim.

»Wir werden das in Betracht ziehen, falls es sich herausstellt, daß es sich so verhielt«, erwiderte Dr. Norden, aber das sagte er nur Tim zum Trost, denn er wußte, daß Anita Clements Krankheit keine Unfallfolge war, sondern erwiesenermaßen die Parkinsonsche Krankheit.

Aber im Augenblick wäre es für ihn weitaus interessanter gewesen, auf der Insel der Hoffnung ein Gespräch zwischen Anne und Clarissa belauschen zu können.

Clarissa war gerade eingetreten, als Anne telefonierte. Sie lehnte jetzt blaß und zitternd an der Tür.

Anne drehte sich um. »Was ist dir, Clarissa?« fragte sie erschrocken. »Ist dir nicht gut?«

»Worüber hast du eben mit Daniel gesprochen?« fragte Clarissa heiser.

»Über ein trauriges Ereignis, das weit zurückliegt. Ich weiß auch nicht, warum er Auskünfte haben wollte, aber das werde ich noch erfahren.«

»Bitte sage mir, worum es sich handelt. Du hast von einem Dr. Leonard gesprochen und von Katja.«

»Kennst du Dr. Leonard?«

»Vielleicht«, erwiderte Clarissa. »Bitte, sage mir erst, worum es geht.«

»Mein erster Mann ist bei einem schrecklichen Lawinenabgang ums Leben gekommen. Er war mit Katja am Hang. Katja konnte geborgen werden. Ich habe mich selbst an der Suche beteiligt. Ich weiß nicht, wie es mir möglich war, aber ich konnte mein Kind retten.«

»Du konntest helfen«, flüsterte Clarissa. »Wie seltsam. Wir waren uns schon damals ganz nahe. Ich war in Pontresina. Ich habe durch diese Lawine auch ein geliebtes Leben verloren, Anne. Entschuldige mich. Ich kann jetzt nicht darüber sprechen. Später vielleicht. Einmal werde ich mich aussprechen müssen, sonst werde ich es nie mehr los.«

Sie eilte hinaus, und Anne vermochte nicht, ihr zu folgen. Gut, daß Daniel weiß, was er mit dem Anruf angerichtet hat, dachte sie, aber warum interessiert er sich nach all den vielen Jahren dafür?

*

Für Tim wäre es wohl noch ärger, hätte er gewußt, daß schreckliche Erinnerungen in Clarissa geweckt worden waren. Er fuhr zur Behnisch-Klinik.

Er traf Jenny. »Wie geht es Frau Clement?« fragte er.

»Erstaunlich viel besser«, erwiderte Jenny. »Sie bereitet sich auf Ihren Besuch vor, Tim. Vielleicht mobilisiert das ihre Kräfte. Sie kommen gerade zur rechten Zeit.«

»Ich darf sie besuchen?« fragte Tim.

»Ich schaue nach«, erwiderte Jenny. »Sie möchte gepflegt aussehen. Aber ich muß Ihnen noch einmal eindringlich sagen, daß sie eine schwerkranke Frau ist.«

»Ich weiß es. Sie ist Constances Mutter«, sagte er leise. »Sie soll mich doch wenigstens kennenlernen.«

Jenny drückte ihm die Hand. »Sie sind ein feiner Mensch, Tim«, sagte sie. »Wenn es doch nur mehr von Ihrer Art gäbe.«

Sie mußte sich jetzt um eine Patientin kümmern, die jedesmal, wenn sie von ihren Kindern besucht wurde, einen Nervenzusammenbruch bekam. Da handelte es sich um eine Frau, der aller Lebenswille genommen wurde, weil jetzt schon über den Nachlaß gestritten wurde. Es gab kein anderes Thema. So erbittert Jenny Behnisch darüber war, sie konnte es nicht ändern. Ihr hätte sie einen Sohn wie Tim gewünscht, aber solche waren nun mal selten.

Tim dachte an das Hochzeitsfoto, das er am gestrigen Abend gesehen hatte, als er das Krankenzimmer betrat, aber das von Leid und Schmerzen gezeichnete Gesicht der Kranken wies nur noch eine flüchtige Ähnlichkeit damit auf. Große dunkle Augen, die tief in den Höhlen lagen, blickten ihn an, aber diese Augen hatten jetzt einen warmen Schimmer, als er sich vorstellte.

»Es ist sehr liebenswürdig, daß Sie mich besuchen, Mr. Thornhill«, sagte Anita. »Es tut mir leid, daß ich Sie nicht zu Hause empfangen kann.«

Wie schwer ihr schon das Sprechen fiel! Tim war voller Mitleid. Er hielt die feine, federleichte Hand behutsam zwischen seinen Fingern.

»Jetzt ist es ja nur wichtig, daß Sie bestens betreut werden«, sagte er mit aller Selbstbeherrschung. »Ich hoffe, daß Sie nichts auszusetzen haben, gnädige Frau.«

»Gar nichts«, erwiderte sie. » Alle sind vorbildlich besorgt. Und ich bin wirklich sehr glücklich, daß meine Constance einen so guten Freund gefunden hat.«

»Ich möchte Ihnen sagen, daß ich Constance liebe und heiraten möchte«, sagte er leise, aber er mußte sich zwingen, in dieses eingefallene Gesicht zu blicken, das durch ständiges Zucken zerrissen wurde. »Ich möchte Ihnen auch etwas von unseren Verhältnissen sagen, damit Sie beruhigt sein können, daß Constance sich nicht in ein Abenteuer eingelassen hat.«

»Oh, das würde sie niemals tun«, flüsterte die Kranke.

»Dr. Norden kennt meine Eltern und könnte etwaige Bedenken ausräumen«, sagte Tim gepreßt, weil er nun gar nicht mehr weiter wußte.

»Dr. Norden«, wiederholte Anita Clement. »Er ist sehr sympathisch. Er besucht mich jeden Tag. Es tut mir wirklich sehr leid, daß ich noch so schwach bin, Mr. Thornhill. Das Sprechen fällt mir schwer.«

»Sie brauchen sich doch nicht zu entschuldigen«, sagte Tim verlegen. »Bitte, nennen Sie mich Tim«, fügte er dann hastig hinzu.

»Sie sprechen sehr gut Deutsch«, flüsterte sie. »Conny sagte, daß Sie Engländer sind.«

»Meine Mutter hat einen deutschen Vater«, sagte er. »Mein Vater spricht aber auch gut Deutsch.« Er versuchte ein Lächeln. »Constance spricht dafür aber sehr gut Englisch.«

»Ja, sie hatte immer eine besondere Neigung dafür«, sagte Anita. »Ich habe mir immer gewünscht, daß sie einem Mann Zuneigung schenkt, der Erziehung und Charakter besitzt. Es macht mich so ruhig.«

»Es wird Constance immer gutgehen«, sagte Tim. »Mein Vater ist Industrieller. Ich sage das nur, damit Sie informiert sind.«

Sie lehnte sich zurück. Ihre Lider senkten sich. »Ich werde es nicht mehr erleben, aber vielleicht soll es so sein«, murmelte sie tonlos. »Conny ist ein besonders wertvolles Mädchen, Tim, denken Sie immer daran.«

»Ich weiß es«, sagte er und griff wieder nach ihrer Hand, die so stark zitterte, daß er sie fest umschloß. Sie öffnete noch mal die Augen. »Ich vertraue Ihnen«, kam es stockend über ihre Lippen. »Ich bin immer so müde. Verzeihen Sie…« Und dann verrieten flache, hastige Atemzüge, daß sie eingeschlafen war.

Nie zuvor hatte Tim einen so kranken Menschen gesehen. Es war ihm, als hätte sich ein Eisenring um seine Brust gelegt. Erschüttert verließ er das Zimmer.

Er traf keinen Arzt, nur ein paar junge Schwestern, die an ihm vorbeieilten und ihm dann nachblickten. Auch das nahm er nicht wahr.

»Was beschäftigt dich heute, Daniel?« fragte Fee Norden beim Mittagessen.

»Denkwürdige Ereignisse«, erwiderte er rauh. »Es ist kaum zu glauben, aber Clement ist bei dem gleichen Lawinenunglück ums Leben gekommen, wie Annes erster Mann.«

Fee fiel die Gabel aus der Hand. »Das darf doch nicht wahr sein«, rief sie fassungslos aus. »Wie kommst du überhaupt darauf?«

»Tim war heute morgen bei mir, dann habe ich mit Anne telefoniert und später mit Dr. Leonard. Er ist inzwischen Chefarzt am Krankenhaus. Ein freundlicher Kollege, der mir bereitwillig Auskunft gab. Er konnte sich noch sehr gut an das Drama erinnern. Franco Clement war bald gefunden worden, aber alle Wiederbelebungsversuche blieben erfolglos. Seine Frau und die kleine Tochter, die sich in der Nähe der Hütte aufhielten, wurden nur leicht verletzt. Dr. Leonard konnte sich noch sehr gut daran erinnern, daß Frau Clement das Kind nicht aus den Armen ließ und große Schwierigkeiten machte, als das Kind gründlich untersucht werden sollte. Ich muß heute abend nochmals ausführlich mit Anne telefonieren.«

»Das kann ich doch tun«, sagte Fee. »Das ist alles sehr merkwürdig.«

Aber sie ahnte nicht, daß alles noch viel rätselhafter werden sollte, wie plötzlich das Geschehen dieses lang vergangenen Tages nicht nur in Annes Erinnerung ganz lebendig werden sollte. Jetzt wurden sie mal wieder durch das Telefon gestört.

Aber Daniel war schon im Gehen begriffen. Er nahm den Hörer auf.

»Mich will sie sprechen?« fragte er staunend. »Ja, ich komme.« Kopfschüttelnd drehte er sich zu Fee um. »Frau Clement will mich sprechen. Jenny meint, es sei sehr wichtig.«

»Jenny scheucht dich nicht auf, wenn es nicht wichtig ist«, sagte Fee.

»Tim war am Vormittag bei Frau Clement. Er wird doch nicht von diesem Unglück gesprochen haben?«

»Das glaube ich nicht«, meinte Fee, »aber du wirst ja hören, worum es geht.«

»Dann ruf Loni an und sag ihr, daß ich später in die Praxis komme«, bat er.

Fee nickte. »Und dann rufe ich Anne an«, sagte sie.

*

Dr. Jenny Behnisch kam Daniel schon entgegen. »Es geht ihr sehr schlecht«, flüsterte sie. »Sie will dir unbedingt etwas sagen, nur dir.«

Aber als Daniel an das Bett der Kranken trat, konnte Anita Clement schon nicht mehr sprechen. Ihre Lippen bewegten sich, aber nur leises, schmerzvolles Stöhnen kam darüber, und dann bäumte sie sich auf und sank leblos zurück.

Jenny zog eine Injektion auf, aber Daniel, der das Herz abgehorcht hatte, richtete sich auf und schüttelte den Kopf.

»Es ist vorbei, Jenny«, sagte er mit schwerer Stimme. »Es hat keinen Sinn mehr. Exitus.«

»Sie war so ruhig nach Tims Besuch«, sagte Jenny, »ja, freudig bewegt war sie. So schnell hatte ich mit diesem Ende nicht gerechnet. Nun konnte sie nichts mehr sagen, und es schien ihr so unendlich wichtig zu sein. Schlimm, wenn eine junge Liebe unter einem so unglücklichen Stern steht.«

Dr. Norden blickte zu Boden. »Constance braucht nicht zu erfahren, daß ihre Mutter an der Parkinson-­Krank­heit litt«, sagte er tonlos. »Tim will es nicht.«

»Aber es ist doch für ihre Zukunft wichtig, Daniel. Das darf man nicht verschweigen.«

»Wir werden das noch überdenken. Es gibt da so viele Rätsel. Vielleicht wird manches gelöst durch Frau Clements Tod. Später können wir dann immer noch mit Constance sprechen. Ich fürchte nur, daß sie sich von Tim zurückzieht, wenn sie die Wahrheit erfährt.«

»Du fürchtest es?« fragte Jenny. »Denk an Clarissa.«

»Sie werden alle nicht glücklich sein«, sagte er düster. »Entschuldige, Jenny, aber ich muß erst noch einmal mit Tim sprechen, wenn diese schweren Tage vorüber sind.«

»Wer sagt es ihnen?« fragte Jenny.

»Ich wäre dir dankbar, wenn du es tun würdest. Ich muß in die Praxis. Nicht, daß ich mich drücken will, Jenny, aber ich könnte nicht einfach davonrennen. Ich weiß, wie nahe Tim alles geht.«

Aber dann stießen sie doch in der Halle zusammen. Tim hatte Constance wieder vom Geschäft abgeholt. Anscheinend hatte er ihr gerade einige aufmunternde, zuversichtliche Worte gesagt, denn so sahen beide aus.

Daniel verhielt den Schritt. Er war blaß geworden. Tim sah ihn fragend an.

»Es tut mir leid«, murmelte er. »Es tut mir entsetzlich leid, Constance. Ich bin zu spät gekommen. Ihre Mutter wollte mich noch sprechen. Aber nun ist es zu spät.«

»Mama – sie lebt nicht mehr?« flüsterte Constance.

Tim zog sie gleich noch fester an sich, aber tapfer blickte Constance Dr. Norden an. »Irgendwie habe ich es geahnt«, sagte sie leise. »Sie wollte nur Tim noch kennenlernen.«

»Jenny wollte euch benachrichtigen. Ich muß in die Praxis. Wir sehen uns später«, sagte Daniel überstürzt.

»Das Leben geht weiter«, murmelte Constance geistesabwesend. »Und der Tod gehört auch dazu. Man wird geboren, man muß sterben, das ist alles, was wir letztendlich wissen. Und was dazwischenliegt, können wir auch nicht immer selbst bestimmen.«

Aber ganz bewußt war ihr die Bedeutung dieser Worte nicht. Sie sagte sie nur aus augenblicklichen Gedanken heraus.

*

Zu dieser Stunde ging Anne Cornelius zum zweiten Mal zu Clarissa. Als sie nicht an der Mittagstafel erschienen war, hatte sie nach ihr gesehen. Doch da hatte sie geschlafen, oder wenigstens so getan.

Und dann war Fees Anruf gekommen, der Anne noch mehr erregte, als der von Daniel.

Aber inzwischen hatte sie schon viel über jenen grausamen Tag in ihrem Leben nachgedacht.

Was sie von den anderen Opfern dieses Unglücks wisse, hatte Fee gefragt. Ob ihr der Name Clement in der Erinnerung geblieben sei.

Nein, der Name war ihr nicht in Erinnerung. Sie hätte sich ja um niemanden gekümmert, da Katja ihre Hilfe gebraucht hatte. Katja hatte doch zwischen Leben und Tod geschwebt, sagte sie. Sie wisse nur, daß ein paar Tote erst sehr viel später gefunden worden wären, einer erst nach drei Jahren. Das hätte sie in der Zeitung gelesen. Und ein Kind sei nie aufgefunden worden. An mehr könne sie sich nicht erinnern.

Anne konnte es wirklich nicht. Johannes Cornelius hatte sie in ein neues Leben geführt, in ein glückliches Leben. Katja war gesund geworden und hatte David Delorme geheiratet, den bekannten Pianisten. Sie war glückliche Frau und Mutter von zwei gesunden Kindern. Anne hatte keinen Grund gehabt, die Erinnerungen wachzuhalten. Für sie zählte die Gegenwart, die erfüllt war von Freude und Arbeit, aber auch oft genug mit Sorge oder Fürsorge um andere.

Sechzehn Jahre im Leben eines Menschen konnten eine Ewigkeit sein, wenn auch ein Menschenleben nur ein Hauch in der Ewigkeit war.

Und nun saß Anne bei Clarissa. »Ja, ich werde dir alles erzählen, Anne«, sagte Clarissa leise. »Es mag ein Fingerzeig gewesen sein, daß heute über dieses Unglück gesprochen wurde. Was ich dir sage, weiß nur Bob. Mein Gott, ich bin froh, daß ich ihm alles gesagt habe. Und ich habe auch geglaubt, ganz darüber hinweg zu sein. Aber etwas ist doch geblieben von damals, von diesem Grauen. Ich muß weit zurückgreifen, Anne, vierundzwanzig Jahre. Meine Eltern besaßen eine Pension in St. Moritz. Ich lebte in Zürich bei einer Tante, die inzwischen auch verstorben ist. Ich sollte eine gute Schulbildung haben. Weihnachten kam ich nach Hause. Ich war achtzehn, nein, noch nicht ganz, aber ich fühlte mich schon erwachsen. Ich lernte Pieter Lorring kennen, einen jungen Amerikaner, der in der Pension meiner Eltern wohnte. Nun, immerhin war er doch schon zehn Jahre älter als ich. Wir verliebten uns ineinander. Meine Eltern waren gegen diese Verbindung. Ich brannte mit Pieter durch, als ich achtzehn war. Wir heirateten in Amerika. Meine Eltern zeigten sich versöhnlich, als ich ein Kind bekam. Es war ein Mädchen. Wir nannten es Cindy. Aber Pieter war ein Abenteurer. Er wollte die höchsten Berge besteigen, die schnellsten Autos fahren. Meine Eltern hatten inzwischen ein Hotel in Pontresina gekauft. Es ging ihnen sehr gut. Wir besuchten sie. Cindy war drei Jahre, und sie hätte die Großeltern selbst mit dem Schwiegersohn versöhnt, aber Pieter war eifersüchtig. Er liebte das Kind abgöttisch. Vielleicht war es die einzige ehrliche Liebe, die er überhaupt empfinden konnte. Wir stritten uns oft, aber jedesmal, wenn ich sagte, daß ich mich von ihm trennen wolle, erklärte er, daß ich das Kind nie bekommen würde. Cindy hatte schon als Baby schwimmen gelernt. Mit drei Jahren wurde sie auf Ski gestellt. Sie begriff alles schnell, aber meine Eltern regten sich auf, als Pieter mit dem Kind schon auf die Pisten ging. Er war ein phantastischer Skifahrer. Ich versuchte immer wieder zu vermitteln zwischen ihm und meinen Eltern. Ich dachte, er würde doch einmal vernünftig werden. Aber dann kam es eines Abends zu einem fürchterlichen Krach. Ich bekam eine schreckliche Allergie, die mit Fieber verbunden war. Der Arzt wurde geholt, und ich bekam ein Beruhigungsmittel. Als ich am nächsten Vormittag erwachte, war Pieter mit dem Kind verschwunden. An diesem Tag ging diese Lawine in der Nähe von St. Moritz herunter. Es herrschte eine entsetzliche Aufregung. Und ich dachte dann auch, daß Pieter mit dem Kind in diese Lawine hineingeraten sein könnte, da ich ja wußte, daß er dort gern beim Skifahren war. Aber ich erfuhr nichts. Pieter und das Kind blieben verschwunden, so viel auch nach ihnen gesucht wurde. Niemand hatte sie angeblich gesehen. Mein Vater starb an einem Herzinfarkt. Ich half meiner Mutter im Hotel, und dort lernte ich dann Bob kennen. Er umwarb mich, aber ich konnte ihn ja nicht heiraten, da ich annehmen mußte, daß Pieter noch lebte. Aber wo? Ich traute ihm zu, daß er mein Leben zerstören wollte.

Bob unternahm alles, um eine Spur zu finden, und fast drei Jahre später wurde dann Pieters Leiche an einem Hang gefunden, als dort der Schnee geschmolzen war. Doch Cindy wurde niemals gefunden. Verstehst du, daß ich einfach nicht vergessen konnte? Pieter, ja, den hätte ich vergessen können, aber nicht mein Kind. Aber da war dann Tim, der mir vertrauensvoll entgegenkam. Ich konnte wenigstens ihm all die Liebe geben, die ich meiner Tochter nicht mehr geben konnte. Und Bob war so ein wundervoller Mann. Meine Mutter lebte noch sechs Jahre bei uns, aber dann starb auch sie. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, Anne, daß du dort deinen Mann verloren hast, daß wir uns hätten schon damals begegnen können, dann frage ich mich, warum muß dies jetzt wieder gegenwärtig werden, erst jetzt?«

Anne hielt den Atem an. Ihre Gedanken überstürzten sich. »Ich weiß es nicht, Clarissa. Es tut mir leid, daß du gerade hier an diese schrecklichen Erlebnisse erinnert wirst.«

»Wenn ich wenigstens wüßte, wo Cindy begraben ist«, schluchzte Clarissa auf. »Versteh mich, Anne, ich liebe Bob, ich liebe Tim, das Schicksal hat mich entschädigt, aber dennoch denke ich an das Kind, das ich selbst geboren habe, dieses süße kleine Mädchen. Sie wollte ja skifahren.

Sie hing an ihrem Vater. Sie ist bestimmt freiwillig mit ihm gegangen, aber sie war doch mein Kind.«

Anne streichelte Clarissas Hände. »Sie wäre jetzt neunzehn Jahre«, sagte sie gedankenvoll.

»Ja, im Februar wäre sie neunzehn geworden. Sie hat nur zwei Tage nach mir Geburtstag. Sie hätte muß ich sagen. Kann ein Mensch, auch wenn es ein kleines Kind ist, einfach verschwinden, Anne? Ich denke oft, daß sie irgendwo lebt. Aber dann wieder denke ich, daß Pieter sich von dem Kind doch nicht getrennt hätte. Er hat Cindy wirklich geliebt. Damals, bis man seine Leiche fand, dachte ich oft, daß er mit ihr nach Amerika oder Asien gegangen sei, einfach untergetaucht, wie er es ja oft gedroht hatte.«

»Wurde er eindeutig identifiziert, Clarissa?« fragte Anne.

»Ja, durch seine Zähne. Er hatte zwei Goldkronen. Und außerdem hatte er auch die goldene Halskette noch um, die ich ihm zur Geburt von Cindy geschenkt hatte. Darauf waren unsere Namen eingraviert. Clarissa und Cindy. Er war ein ruheloser Mensch, Anne, aber das Kind hat er geliebt. Er hätte es nie im Stich gelassen, davon bin ich auch heute noch überzeugt. Und deshalb begreife ich nicht, daß man nicht auch Cindy gefunden hat.«

Traurig blickte Anne in Clarissas verstörtes Gesicht. »Wenn es auch gut ist, daß du dich ausgesprochen hast«, sagte sie leise, »mir tut es auch weh, daß dieses Gespräch mit Daniel in dir solche Erinnerungen wachrief.«

*

»Nun ist Mama tot«, sagte Constance, »und vielleicht sterbe ich auch einmal so.«

»Das sollst du nicht sagen, Constance«, widersprach Tim heiser. »Ich will es nicht hören.«

»Man kann vor Tatsachen nicht die Augen verschließen. Ich habe heute in medizinischen Büchern nachgelesen. Es könnte die Parkinsonsche Krankheit gewesen sein, und die ist erblich. Bei einem macht sie sich weniger bemerkbar als beim anderen. Aber…«

»Du sollst nicht davon reden, Liebes«, fiel ihr Tim ins Wort. »Du bist gesund. Du kannst hundert Ärzte aufsuchen, und jeder wird dir das gleiche sagen.«

»Aber nicht, daß auch meine Kinder gesund sein werden«, sagte sie. »Wir müssen dies vernünftig überdenken, Tim. Unsere Liebe hat damit nichts zu tun. Du bist jung, du bist der einzige Sohn deines Vaters und –«

»Rede doch nicht immer von mir«, unterbrach er sie wieder.

»Aber das muß ich doch, weil ich dich liebe«, erwiderte sie ernsthaft. »Gerade darum. Ich kann dich doch nicht unglücklich machen, Tim. Ich will das alles ganz klar sehen.«

»Deine Mutter hat ein Testament hinterlassen, Constance. Vielleicht steht da etwas drin, was wichtig über die Vergangenheit ist. Ich meine über eure Familie. Es ist doch gar nicht erwiesen, daß es die Parkinsonsche Krankheit war. Auch Ärzte können sich irren, und Daniel Norden räumt das auch ein.«

»Du meinst, man sollte eine Obduktion vornehmen, Mama zerlegen, um Klarheit zu bekommen? Nein, das lasse ich nicht zu. Sie hat genug gelitten.«

»Aber jetzt leidet sie nicht mehr, und anderen Menschen könnte vielleicht geholfen werden, Constance«, sagte Tim. »Meine Eltern und ich haben verfügt, daß im Falle unseres Todes alle brauchbaren Organe verpflanzt werden können.«

Sie starrte ihn an. »Das sagst du so einfach«, flüsterte sie. »Mein Gott, du bist doch noch so jung.«

»Wissen wir, wann und wie uns das Ende ereilt, Constance?« sagte er ruhig. »Du hast es doch selbst gesagt, wir werden geboren, und wir müssen sterben, das ist alles, was gewiß ist. Ich will leben, mit dir leben, mit dir gücklich sein, wie mein Vater mit Clarissa glücklich ist, aber ich denke, daß es gut ist, sich Gedanken zu machen, wie man anderen eine Chance geben kann zum Überleben, wenn man selbst diese Chance nicht bekommt. Es liegt doch nicht bei uns, den Zeitpunkt festzusetzen, wenn man aus dem Leben geht.«

»Manche tun das«, sagte Constance leise. »Sie bestimmen die Stunde.«

»Ich glaube, daß jenen dies auch vorausbestimmt ist«, sagte Tim, »und mir ist es bestimmt, dich zu heiraten und so lange mit dir glücklich zu sein, wie Gott es will. Ich glaube nämlich an Gott. Sieh es doch auch so, Constance, ich mußte dich treffen, und ich wußte, daß ich dich liebe. Ich habe das nicht nur so gesagt. Und einen Menschen lieben, bedeutet, alles mit ihm zu teilen und alles zu ertragen.«

Er hielt sie fest umschlungen. »Wir bleiben zusammen, Constance«, sagte er zärtlich.

Ein zitternder Seufzer entrang sich ihrer Brust. »Dann sprich du mit Dr. Norden und Dr. Behnisch. Aber zuerst will ich wissen, was Mama selbst bestimmt hat. Vielleicht hat sie das in ihrem Testament alles niedergeschrieben.«

»Du hast keine anderen Verwandten, die dir Schwierigkeiten bereiten könnten?« fragte Tim.

»Wieso Schwierigkeiten?« fragte sie.

»Wegen des Testamentes.«

»Nein, Mama und ich waren immer allein. Was an Geld da ist, hat sie wohl sowieso für mich angelegt.«

Sie ging in die Küche und setzte Wasser für einen Kaffee auf.

»Möchtest du etwas essen, Tim?« fragte sie leise.

»Jetzt nicht.«

»Dann werden wir lesen, was Mama bestimmt hat.« Ihre Stimme bebte. »Es muß noch so viel erledigt werden. Ich muß auch dem Chef Bescheid sagen.«

»Das besorge ich«, erklärte Tim. Er griff nach dem Telefon, aber Constance nahm ihm den Hörer aus der Hand. »Ich sage es ihm selber. Du weißt ja, wo die Mappe liegt. Hol sie schon aus dem Schrank.«

Davor schien sie am meisten Angst zu haben, denn als sie ihrem Chef sagte, daß ihre Mutter gestorben sei, klang ihre Stimme ziemlich ruhig.

Aber als sie den Umschlag in die Hände nahm, zitterten ihre Finger.

»Vielleicht wollte mir Mama etwas mitteilen, was meinen Vater betrifft«, flüsterte sie, »etwas, was sie mir nicht sagen wollte, solange sie lebte. Etwas, was ich vielleicht gar nicht wissen möchte.«

Sie blickte auf. »Willst du es nicht zuerst lesen, Tim?« fragte sie.

»Wir lesen es zusammen«, erwiderte er. »Ich bin ja bei dir, Liebes.«

»Es könnte ja etwas darin stehen, was uns trennt«, meinte sie gedankenverloren.«

»Nichts wird uns trennen, wie oft soll ich es dir noch sagen, Constance.«

Er nahm den Brieföffner und schlitzte den Umschlag auf. Ein zweiter befand sich dann.

Bitte einem Anwalt übergeben, stand darauf.

»Für neugierig hat deine Mutter dich wohl nicht gehalten«, bemerkte Tim nachdenklich.

Constance starrte diesen Umschlag an. »Das ist nicht Mamas Schrift«, flüsterte sie.

Aber dann nahm sie die dichtbeschriebenen Seiten aus dem Umschlag und las die Überschrift mit stockender Stimme: Meine geliebte Conny, mein liebes Kind, noch einmal will ich Dich so nennen. Ich werde dieser Welt fern sein, wenn Du diese Geschichte liest. Lies es so, als hätte irgendeine Frau geschrieben, die ein Bekenntnis ablegt, nicht die, die Du Mama nanntest.

»Eine seltsame Formulierung«, murmelte Tim, aber dann lasen sie diese Geschichte:

Franco und Anita waren ein glückliches Ehepaar. Es ging ihnen gut, sie konnten sich vieles leisten, was anderen versagt war. Und sie hatten eine süße kleine Tochter. Weil beide Mozart liebten, wurde sie Constance getauft. Sie war zwei Jahre und acht Monate, als Anita erfuhr, daß sie wieder ein Kind haben würde, aber es ging ihr gesundheitlich nicht gut. Der Arzt empfahl einen Winterurlaub in den Bergen, und Franco war natürlich sofort bereit, ihr das Beste vom Besten zu bieten. Sie fuhren nach St. Moritz. Franco war ein guter und begeisterter Skifahrer. Anita genügte es, ihm zuzuschauen und sich daran zu freuen, wie Conny schon auf den kleinen Rutschern sanfte Hänge herunterfuhr. Manchmal fuhr sie aber auch mit dem Kind mit der Bergbahn hinauf zur Hütte, weil ihr seltsamerweise die dünne Höhenluft besonders gut tat. Dort, in der Hütte, lernten sie Pieter kennen, der mit seiner kleinen Tochter Cindy die Mittagsmahlzeit einnahm. Cindy war etwas älter als Conny, konnte aber schon erstaunlich gut skifahren. Die Kinder freundeten sich schnell an. Franco und Pieter verstanden sich auch gleich sehr gut. Sie wollten dann auch ein paarmal die Abfahrt machen. Franco meinte, daß er von Pieter einiges lernen könne, und der freute sich, daß Cindy mit Conny spielen wollte. Anita stand mit den beiden Kindern vor der Hütte und blickte den beiden Männern nach. Sie sah, wie sie noch einmal stehenblieben und Pieter Franco etwas gab, was dieser in die Tasche steckte. Dann ging alles wahnsinnig schnell. Ein Rauschen war in der Luft, Anita ergriff die Hände der Kinder, aber die Lawine brauste schon talwärts und riß sie mit sich.

Als Anita zu sich kam, lag sie in dicke Decken gehüllt auf einer Trage, und Männer standen um sie herum.

Sie rief nach ihrem Kind, Conny, Conny, immer wieder den Namen, und ein Mann sagte: Das Kind ist ja bei Ihnen.

Da hörte sie ein Stimmchen Papi, Mami und sie spürte eine kleine Hand. Sie war glücklich, und als sie dann wieder ganz zu sich kam, war sie im Krankenhaus, und das Kind lag neben ihr, aber es war nicht Conny, es war die kleine Cindy.

Was Anita da empfand, ist nicht zu beschreiben. Verzweiflung und Angst, Hoffnung und wieder Verzweiflung folgten aufeinander. Sie war nicht fähig, etwas zu sagen, und dann erfuhr sie, daß Franco tot war. Und das Kind? fragte sie immer wieder. Man zweifelte wohl an ihrem Verstand und sagte, daß das Kind doch neben ihr schlafen würde.

Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Man brachte ihr Francos Brieftasche. Ein Briefumschlag befand sich darin. ›Bitte einem Anwalt übergeben‹, stand darauf, aber es war nicht Francos Handschrift.

Anita war nicht fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie fragte immer wieder nach dem anderen Kind und ahnte doch schon, daß sie Conny verloren hatte. Aber sie wollte Cindy nicht mehr hergeben. Sie klammerte sich an die Hoffnung, daß dieses Kind keine Mutter mehr hätte, denn ein Mann namens Pieter war auch nicht gefunden worden.

Zwölf Todesopfer hatte die Lawine gefordert, und Anita dachte: Ich habe meinen Mann und mein Kind verloren und dieses Kind hat seinen Vater verloren. Und jeder meinte, daß es ihr Kind sei. Niemand sagte etwas anderes. Da nahm sie das Kind mit sich, und es wurde ihr Kind.

Gott sei ihrer Seele gnädig, daß sie diese Schuld auf sich geladen hatte, aber dann hatte sie auch noch eine Fehlgeburt erlitten, und nichts war ihr geblieben, als ein fremdes Kind, von dem sie sich nie mehr trennen wollte. Sie hatte nur noch Angst, daß ihr dieses Kind auch genommen werden könnte.

Das ist die Geschichte, aber da war der Brief, und ich weiß nicht, warum ich ihn nicht vernichtet, nicht einmal gelesen habe. Ich habe mich geweigert zu denken, daß eine andere Frau um ihr Kind weinen könnte. Aber alle Schuld rächt sich auf Erden. Ich wurde krank und immer kränker. Ich mußte unsagbare Schmerzen leiden, aber von meiner Conny wollte ich mich dennoch nicht trennen. Und nun weißt Du, daß Du nicht Conny heißt, aber Deinen Nachnamen kann ich Dir nicht sagen. Vielleicht steht er in dem Brief. Ich wollte es nicht mehr wissen. Ich wollte, daß alles so bleibt, bis ich meine Augen schließe. Ich habe bereut, aber mehr noch habe ich Dich geliebt, mein Kind. Verzeih mir, wenn Du kannst, und wenn Du nicht kannst, denke, daß ich tausendfach gebüßt habe. Ich wünsche Dir Glück, mein Kind, einen Lebensgefährten, wie mein Franco war, und daß er Dir lange erhalten bleiben möge. Deine unglückliche Anita Clement, die nur durch Dich noch Glück erlebte.

»Oh, mein Gott«, flüsterte das Mädchen, sprang auf und lief hinaus.

Tim folgte ihr nicht gleich. Er las diese Geschichte noch einmal, und er begriff schließlich nur, daß Constance nicht Anitas Tochter war und somit auch nicht ihre Krankheit geerbt haben konnte.

Er ging hinüber in Connys Zimmer. Für ihn war sie Constance. »Weißt du, was das bedeutet?« fragte er, als sie ihn blicklos anstarrte.

»Daß ich keinen Namen habe«, erwiderte sie. »Daß ich irgendwer bin und nichts von meinen richtigen Eltern weiß.«

Wie nahe die Lösung war, wußte Tim freilich nicht, aber er sagte ruhig: »Für mich bist du Constance, die ich liebe, und für mich zählt augenblicklich nur, daß du dir keine Sorgen mehr machen mußt, daß du an dieser Krankheit leiden könntest oder unsere Kinder dadurch gefährdet werden könnten.«

»Wie hat sie sich gequält«, flüsterte Constance, »und wie sehr hat sie mich geliebt.«

»Sie hat sich an dich geklammert, als sie alles verloren hatte, was sie liebte. Sie war sich bewußt, daß sie anderen Menschen wohl doch etwas genommen haben könnte…«

»Sprich nicht weiter, Tim. Sie war gut zu mir. Wer weiß denn, wie ich aufgewachsen wäre, wenn es anders gekommen wäre. Ich mag jetzt nicht darüber nachdenken. Und was könnte ich jetzt noch erfahren, wenn dieser Brief enthalten würde, wer meine richtigen Eltern sind?«

Tim behielt für sich, was er dachte, um sie nicht in noch mehr Konflikte zu stürzen. Er dachte, daß kein Mensch das Recht hatte oder sich das Recht nehmen dürfe, über das Leben eines anderen so zu bestimmen, daß dieser keine eigene Entscheidung treffen könnte. Und ein Kind konnte sie nicht treffen.

Constance war einmal eine kleine Cindy gewesen, die nach ihren Eltern geweint hatte. So sah er es.

»Du hast keine Erinnerungen mehr, wie es damals war, als diese fremde Frau dich mitnahm?« fragte er.

»Nein, überhaupt keine«, erwiderte sie.

»Jetzt werden wir den Tatsachen ins Auge sehen, Liebes.«

Constance erhob sich. »Ich werde sie begraben, als wäre sie meine Mutter gewesen«, sagte sie ruhig. »Sie war immer gut zu mir. Muß ich mich nicht fragen, warum meine richtige Mutter nicht nach mir suchte, wenn sie am Leben war, wenn ich ihr etwas bedeutete, und muß ich mich nicht auch fragen, wo blieb mein Vater, wenn man ihn nicht fand? Und warum hat man ihn nicht gefunden? Vielleicht hatte er einen falschen Namen angegeben.«

»Du bräuchtest nur diesen Brief zu öffnen, Constance«, sagte Tim.

»Nein«, erwiderte sie. »Das werde ich nicht tun. Mama hat es nicht getan, und ich werde diesen Brief einem Anwalt übergeben.« Mit weiten Augen sah sie ihn an. »So, wie es darauf zu lesen ist. Woher soll ich wissen, daß dieser Mann wirklich mein Vater war? Wäre es nicht möglich, daß ich mit einem Menschen mitgegangen bin, der nett zu mir war? Mit einem lieben Onkel oder wie man es nennen mag. Ich kann nur sagen, daß ich mich an nichts erinnern kann.«

»Das glaube ich dir ja, Liebes. Ich kann mich auch nicht daran erinnern, was damals war, als ich klein war. Die ersten richtigen Erinnerungen habe ich an den Tag, als Dad Clarissa in unser Haus brachte.«

»Clarissa, der ich ähnlich sehen soll«, sagte Constance sinnend. »Und was weißt du von ihrer Vergangenheit?«

Tim wurde blaß. Seltsam berührten ihn diese Worte, und jäh wurde ihm bewußt, daß er auch schon mit dem Gedanken gespielt hatte, daß Constance und Clarissa irgendwie verwandt sein könnten.

Jetzt war er in ganz schwere Gewissenskonflikte gestürzt. »Ich werde jetzt ein Beerdigungsinstitut beauftragen, daß Anita Clement ein würdiges Begräbnis bekommt«, sagte er leise.

»Nein, das werde ich tun«, erklärte Constance tonlos. »Ich allein. Nur für mich hatte sie Bedeutung, Tim. Für mich war sie lange Zeit meine Mutter und eine gute Mutter. Und ich kenne auch einen guten Anwalt, dem ich vertraue, und dem ich diesen Brief bringen werde. Es gibt Dinge, die ich ganz allein durchfechten muß, die nur mich etwas angehen. Das mußt du mir zugestehen.«

»Du darfst mich nicht mißverstehen, Constance«, sagte er beklommen.

»Ich heiße Cindy, wenigstens das weiß ich. Ich heiße nicht Constance, nicht Conny. Bitte, laß mich jetzt allein über all dies nachdenken, Tim. Ich brauche auch Zeit, um zu begreifen, daß ich nicht meine Mutter verloren habe, sondern einfach eine Frau, zu der ich Mama sagte, und die ein anderes Kind verloren hatte. Das kann man wirklich nicht gleich begreifen.«

»Und für mich bist du nur das Mädchen, das ich liebe«, sagte Tim. »Daran darfst du nicht einen Augenblick zweifeln.«

*

Dann fuhr er kurz entschlossen zu Fee Norden. Bei ihr hoffte er, noch mehr Verständnis für die augenblickliche Situation zu finden als bei Daniel. Aber er hatte nicht daran gedacht, daß Mittwoch war. Daniel hatte nachmittags keine Sprechstunde, und es mußte wohl so sein, daß er auch keine dringenden Hausbesuche zu machen brauchte.

Daniel spielte mit den Kindern im Garten.

Er kam gerade nach vorn gelaufen, als Fee Tim die Tür öffnete.

»Großartig«, schnaufte Daniel. »Ich muß mich nämlich verstecken. Im Haus werden sie mich nicht suchen.«

Und schon war er drinnen, und Tim schaute verblüfft. »Papi spielt mit den Kindern Verstecken«, sagte Fee lächelnd. »Aber du darfst auch ruhig hereinkommen, Tim.«

Ihr Gesicht wurde ernst, als sie die Tür geschlossen hatte. »Ich habe schon gehört, daß Frau Clement gestorben ist«, sagte sie.

»Und es hat sich etwas ergeben, worüber ich mit dir sprechen wollte, Fee«, sagte Tim. »Daniel hat vermutet, daß Constance ein adoptiertes Kind sein könnte.«

»Und?« fragte Daniel von der Tür her. »Ist es so?«

»Nicht direkt. Es ist viel schwieriger. Es läßt sich nicht mit ein paar Worten erklären.«

Daniel drehte sich um. »Lenni!« rief er.

»Ja, was ist?« Lenni kam herbeigespurtet.

»Versteckspiel abblasen«, sagte Daniel. »Ich habe eine dringende Besprechung.«

»Und die Kinder werden sowieso Hunger haben«, meinte Lenni. »Ich hole sie dann herein, wenn sie genug vergeblich gesucht haben.«

Auf Lenni war Verlaß. Sie würde das schon machen. Daniel und Fee waren schon ganz gespannt, was sie nun hören würden.

Und Tim erzählte.

Fee merkte zuerst nicht, wie Daniels Gesicht immer nachdenklicher wurde, dann sah sie Tim gebannt an. Aber als sie dann ihrem Mann einen Blick zuwarf, merkte sie, daß er nicht nur gespannt lauschte, sondern sich bereits ernsten Gedanken hingab.

Auch sie wußte nicht, was inzwischen zwischen Anne und Clarissa gesprochen worden war, sonst wäre ja alles bereits klar gewesen, aber stutzig war sie auch geworden, genau wie Daniel, als von dem Lawinenunglück die Rede, war, durch das ein Kind namens Cindy zu Anita Clement gekommen war.

Oder Anita zu dem Kind, wenn man es ganz genau nehmen wollte. »Und mit diesem Geheimnis hat Frau Clement so viele Jahre gelebt«, sagte Daniel gedankenvoll.

»Ich finde es nicht gut«, sagte Tim, »auch wenn ich das Constance nicht so deutlich sagen würde. Sie empfindet es doch ein wenig anders als ich.«

»Das mußt du akzeptieren, Tim«, sagte Daniel ruhig. »Sie hat sich nicht an eine andere Mutter erinnern können, und wenn bei ihr damals eine Erinnerung vorhanden war, wurde sie schnell ausgelöscht.«

»Du hast mir gesagt, daß Annes Leben durch dieses Lawinenunglück beeinflußt wurde«, warf Tim ein. »Könnte es nicht sein, daß sie sich an das Kind erinnert?«

»Sie war im Tal, nicht oben am Hang«, erklärte Daniel. »Und die Angehörigen, die dies mit eigenen Augen sahen, dachten nur an ihre Nächsten. Sie standen alle unter einem Schock. Ich glaube nicht, daß Anne überhaupt noch deutliche Erinnerungen hat. Man muß sich in eine solche Situation versetzen, Tim. Diese Angst! Anne hatte Katja gesehen. Mit bloßen Händen grub sie nach dem Kind, nur von dem Wunsch beseelt, ihr Kind zu retten. Aber ich denke jetzt etwas ganz anderes, was vielleicht dir einen Schock versetzen könnte.«

»Mir?« fragte Tim. »Ich weiß jetzt, daß Anita Clement nicht Constances Mutter ist, und daß sie nicht die Parkinsonsche Krankheit geerbt haben kann.«

»Aber sie könnte etwas anderes geerbt haben«, sagte Daniel heiser.

»Was?« fragte Tim.

»Ein Muttermal«, erwiderte Daniel. »Constance ist Clarissa ähnlich, und sie besitzt auch ein ganz ähnliches Muttermal. Es fiel mir bei der Untersuchung sofort auf. Es sitzt nur an einer etwas höheren Stelle als bei Clarissa.«

Fee preßte beide Hände vor ihren Mund. Tims Augen wurden weit.

»Du meinst – du willst sagen, daß Constance und Clarissa – daß sie Clarissas Tochter sein könnte? Aber Clarissa hätte das doch nie verschwiegen, niemals«, stotterte Tim.

»Es kann doch durchaus sein, daß sie es deinem Vater erzählt hat und sie beschlossen haben, dir davon nichts zu sagen«, meinte Daniel. »Aber so weit will ich jetzt noch gar nicht denken. Wir werden es schon herausbekommen, ob diese Möglichkeit überhaupt einkalkulierbar ist.«

Ein Beben schüttelte Fee. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß es in diesem Fall für Clarissa ein wahnsinniger Schock sein könnte, eine solche Wahrheit zu erfahren. Wir müssen da sehr vorsichtig sein. Du mußt auch an deine Mummy denken, Tim.«

»Ich denke vor allem an Constance oder Cindy, oder wie sie sonst heißen mag«, sagte Tim trotzig. »Frau Clement war eine kranke Frau. Wer kann denn beweisen, ob sie sich diese Tatsachen nicht nur ausgedacht hat. Ich glaube nur noch an Tatsachen, und ich bin darauf bedacht, Constance nicht noch mehr zu erschrecken. Ein Muttermal beweist gar nichts.«

»Aber die Ähnlichkeit mit Clarissa war für mich ausschlaggebend, ihr Beachtung zu schenken«, sagte Daniel.

Tims Augen verengten sich. »Brüderliche Gefühle habe ich jedenfalls keinen Augenblick für sie empfunden«, stieß er hervor.

»Du bist ja auch keinesfalls ihr Bruder«, sagte Daniel mit einem hintergründigen Lächeln. »Das dürfte dir doch momentan Trost genug sein.«

»Ich würde es Clarissa nie verzeihen, wenn sie ihr eigenes Kind weggeben hätte«, sagte Tim hart. »Bei allem, was ich für sie empfunden habe, das würde ich nie verzeihen.«

»Schnell ist die Jugend mit dem Wort«, sagte Daniel ernst. »Wir alle wissen nicht, was sich damals zugetragen hat, außer, daß Frau Clement ihren Mann und ihr Kind verlor, und daß Anne ihren Mann auch verlor und ihr Kind retten konnte. Und ganz gewiß ist, daß Anne und Clarissa sich damals nicht kannten, und sich nicht begegnet sind. Dieses Zusammentreffen beweist nur wieder einmal, daß die Welt gar nicht groß genug sein kann, um des Geschickes Mächten aus dem Wege gehen zu können. Das wurde schon vor Tausenden von Jahren offenbar, als man ein Leben brauchte, um Länder zu durchqueren. Jetzt können wir den Erdball in vierundzwanzig Stunden umfliegen und in ein paar Tagen den Mond besuchen. Und schon in der Vergangenheit haben ernsthafte Philosophen gesagt, daß eigentlich nichts unmöglich ist.«

»Und Goethe hat schon gesagt, daß glücklich nur diejenigen sind, deren sich das Schicksal annimmt, das jeden nach seiner Weise erzieht.«

»Ich habe es mehr mit Schiller«, sagte Daniel. »›So führt das Schicksal an verborgenem Band den Menschen auf geheimnisvollen Pfaden, doch über ihm wacht eine Götterhand, und wunderbar entwirrt sich der Faden.‹«

»Mit euch komme ich doch noch nicht mit«, meinte Tim seufzend, »aber ihr findet immer die richtigen Worte zur rechten Zeit. Was soll ich tun?«

»Abwarten, dich in Geduld üben und uns vertrauen, wie auch deiner Constance«, sagte Daniel.

»Auch wenn sie Cindy heißt«, fügte Fee hinzu. »Und was Anne betrifft, das überlaß lieber uns.«

Aber untätig konnte Tim doch nicht sein. Er rief seinen Vater an.

»Ist etwas mit Clarissa?« war dessen erste Frage.

»Nein, aber es geht um ein Mädchen, das ich sehr liebe, Dad«, sagte Tim, »und sie sieht Mummy sehr ähnlich. Ich möchte mit dir darüber sprechen.«

»Du sagtest, daß sie Mummy ähnlich sieht?« fragte Robert Thornhill.

»Ja, sie hat sogar so ein Muttermal wie Mummy. Ich möchte es dir erklären.«

»Ich komme morgen nach München«, vernahm Tim, und dann war Schweigen. Die Verbindung war unterbrochen. Tim war fassungslos. Sein Vater hatte gar nicht mehr zugehört. Er hatte nur gesagt, daß er nach München kommen wolle.

*

Ein Grab mußte Constance nicht aussuchen. Franco Clement hatte seines ja schon seit sechzehn Jahren auf einem stillen Waldfriedhof. Oft war Anita mit dem Kind dort gewesen. Als Constance noch klein war, hatte sie immer betroffen geschaut, wenn die Mama so schmerzlich weinte.

»Der Papa hat doch so schöne Blümchen«, hatte sie gesagt, »brauchst doch nicht weinen. Dann, später, hatte sie über den Mann, den sie nicht kannte, von dem sie nur Fotos gesehen hatte, nachgedacht. Aber wie hätte er ihr vertraut sein sollen.

Nun würde auch die Mama, die nicht ihre Mutter war, übermorgen hier zur Ruhe gebettet werden.

Als Constance vor dem schon geschlossenen Sarg stand, kamen ihr seltsame Gedanken, und sie meinte die Stimme von der Mama zu hören.

Manche Kinder haben gar keinen Vater, manche Mütter geben ihre Kinder zur Adoption frei. Und sie werden doch geliebt, Conny, diese Kinder, die bei anderen Eltern aufwachsen, die von anderen Müttern sehr geliebt werden.

Nun begriff sie, warum Anita Clement dies so oft gesagt hatte. Schuldgefühle hatte sie verdrängt, aber alle Liebe, der sie fähig gewesen war, hatte sie ihr gegeben.

»Liebe Mama, es gibt nichts zu verzeihen«, flüsterte Constance. »Jetzt brauchst du nicht mehr zu leiden, und ich werde dich immer liebbehalten…«

Dann fuhr sie zu Dr. Rückert, den sie kannte, weil er oft Bücher für seine kranke Frau in der Buchhandlung kaufte.

»Constance«, sagte er überrascht, als sie vor ihm stand. »Habe ich vergessen, eine Rechnung zu bezahlen?«

Sie konnte da tatsächlich flüchtig lächeln. »Deshalb würde ich doch nicht kommen, Herr Doktor. Ich heiße eigentlich auch Cindy, aber das wollte ich Ihnen eigentlich erst erklären. Falls Sie ein paar Minuten Zeit für mich haben«, fügte sie schüchtern hinzu.

»Für Sie immer«, erwiderte er. »Kommen Sie herein. Meine Frau möchte Sie schon lange kennenlernen, weil Sie ihr immer genau die richtigen Bücher heraussuchen.«

»Meine Mutter ist gestorben«, sagte Constance leise. »Deshalb möchte ich Sie sprechen.«

»Oh, das ist schlimm. Was kann ich für Sie tun?« sagte er stockend.

»Ich weiß nicht, ob Sie etwas tun können. Es ist eine so verzwickte Geschichte. Sie war nämlich nicht meine richtige Mutter, aber das wußte ich auch nicht. Und dann habe ich da noch einen Brief.«

»Wir reden in aller Ruhe darüber, Constance«, sagte er. »Mündig sind Sie ja. Das Vormundschaftsgericht brauchen wir nicht einzuschalten.«

»Das beruhigt mich auch«, erwiderte sie leise. »Aber es bleiben so viele Fragen offen.«

Dann saß sie in einem weichen Ledersessel und erzählte. Und sie gab ihm den Brief ihrer Mutter und den verschlossenen Umschlag.

Der nüchterne Jurist, dem schon manche verzwickte Lebensgeschichte zu Ohren gekommen war, kam aus dem Staunen nicht heraus, denn dies übertraf alles. Daß sich Anita Clement strafbar gemacht hatte, sprach er nicht aus. Sie war tot und konnte nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden. Das hatte sie wohl auch gefürchtet, und deshalb hatte sie geschwiegen. So mußte er es sehen, obgleich Constance keinen Vorwurf äußerte.

Dann öffnete er den Brief, der tatsächlich nicht die geringste Spur aufwies, daß er schon einmal geöffnet worden wäre. Dr. Rückert empfand ein Unbehagen, als er das Blatt Papier entfaltete.

Die Handschrift war flüchtig, unausgeglichen und verriet, daß der Brief in großer Hast geschrieben worden war

Ich, Pieter Lorring, habe Franco Clement gebeten, diesen Brief an einen Anwalt weiterzuleiten. Ich habe zwei Tage vergeblich in St. Moritz gewartet, daß meine Frau zu einem Gespräch bereit sein würde. Sie ist dieser Bitte nicht gefolgt. So hatte ich mich entschlossen, mit meiner Tochter Cindy das Land zu verlassen, doch nach einem Gespräch mit Franco Clement habe ich mich anders entschieden. Herr Clement wird Cindy zu meiner Frau zurückbringen. Ich selbst werde ins Ausland gehen. Ich erkläre mich ausdrücklich mit der Scheidung meiner Ehe einverstanden und habe mich überzeugen lassen, daß ein Kind in gesicherten Verhältnissen aufwachsen muß. So trenne ich mich schweren Herzens von meiner Tochter Cindy, die ich über alles liebe. Datum und Unterschrift bildeten den Abschluß.

»Und dann kam alles ganz anders«, sagte Dr. Rückert tonlos.

»Dann kam diese Lawine«, sagte das Mädchen leise. »Ob sie auch meinen Vater getötet hat?«

»Es wird sich feststellen lassen«, sagte der Anwalt.

»Ich werde nach St. Moritz fahren, wenn Mama begraben ist«, erklärte das Mädchen. »Ich heiße eigentlich Cindy Lorring, aber meine Papiere lauten auf Constance Clement.« Sie blickte zu Boden. »Was raten Sie mir, Herr Dr. Rückert. Soll ich weiterleben als Constance Clement?«

»Vielleicht leben noch Angehörige, die vergeblich nach Ihnen forschten«, sagte er.

Fröstelnd zog sie die Schultern zusammen. »Ich habe Angst davor«, flüsterte sie. »Vielleicht ist Constance Clement als Cindy Lorring begraben worden. Es ist so schwer zu begreifen.«

Für ihn war es auch schwer zu begreifen, daß eine Frau so lange mit ihrem Geheimnis leben konnte. Was war dieser Pieter Lorring für ein Mann? Aus diesem Schreiben ging nur hervor, daß er Franco Clement vertraut und auf dessen Rat gehört hatte. Clement war also ein Ehrenmann gewesen. Wäre er nicht getötet worden durch diese Lawine, hätte er Cindy zu ihrer Mutter gebracht. Aber wenn diese Mutter wußte, daß ihr Mann sich mit dem Kind in St. Moritz aufhielt, hätte sie doch nach ihrem Kind forschen müssen. Was war dies also für eine Frau? Die Ehe schien zerrüttet gewesen zu sein. Nicht einmal den Vornamen seiner Frau hatte Pieter Lorring erwähnt.

Dr. Rückert konnte nur tiefes Bedauern mit dem Mädchen empfinden, das sich nun erhob. Ein Mädchen, dem man nur Gutes wünschen konnte, das man gern haben mußte. Ob es nicht gar ein Glück für sie gewesen war, bei Anita Clement aufwachsen zu können, innig geliebt zu werden von dieser verzweifelten Frau, der man in jeder Beziehung mildernde Umstände zubilligen mußte, wenngleich sie eine schwere Schuld auf sich geladen und mit dieser gelebt und gelitten hatte!

»Soll ich für Sie Nachforschungen anstellen?« fragte Dr. Rückert zögernd.

»Ich weiß noch nicht, wie ich mich entscheide«, erwiderte Cindy. Der Name war ihr schon vertraut. Seltsamerweise lehnte sie ihn nicht ab. »Ich muß alles überdenken.«

Sie sah den Anwalt offen an. »Wenn ich gewußt hätte, was in diesem Brief steht, hätte ich ihn vielleicht doch selbst geöffnet«, sagte sie.

»Niemand hätte Ihnen einen Vorwurf machen können«, sagte er.

»Sie werden dies nicht anzeigen?« fragte sie stockend.

»Dazu besteht keine Veranlassung. Ich bin gern bereit, Ihnen zu helfen, Fräulein Clement, oder soll ich jetzt Lorring sagen?«

Sie schüttelte den Kopf. »An Cindy kann ich mich gewöhnen, an Lorring nicht«, erwiderte sie. »Ist das nicht merkwürdig?«

»Zumindest beginnen beide Namen mit dem gleichen Buchstaben«, bemerkte er. »Informieren Sie mich, wie Sie sich entscheiden, Cindy?«

»Selbstverständlich.«

»Ich hoffe, daß sich eine gute Lösung findet«, sagte er und umschloß warm ihre kalte kleine Hand.

*

Von Unruhe und Ungeduld geplagt wartete Tim auf Cindys Anruf. Auch er konnte sich schnell auf diesen Namen einstellen. Er konnte auch der toten Anita Clement manchen Vorwurf nicht ersparen, so innig sie das Kind auch geliebt haben mochte. Ihn bewegten widersprüchliche Empfindungen, und zudem versetzte es ihn in Erregung, daß sein Vater so schnell nach München kommen wollte.

Dann wieder überwog die Sorge um Cindy. Er wartete nicht mehr auf einen Anruf. Er fuhr zu ihr. Und er traf mit ihr vor der Haustür zusammen, da sie gerade von Dr. Rückert kam.

Sie war so blaß und verschlossen, daß er erschrak. »Bitte, laß mir doch Zeit, Tim«, sagte sie leise. »Ich bin jetzt ein Mädchen mit zwei Namen.«

»Gut«, sagte er. »Für mich bist du jetzt Cindy, dabei werden wir bleiben, und bald wirst du Cindy Thornhill heißen, dann hast du einen dritten Namen, aber den wirst du behalten.«

»So einfach ist das nicht, Tim«, sagte sie leise. »Es muß noch sehr viel geklärt werden. Wenn Mama begraben ist, werde ich nach St. Moritz fahren.«

»Mit mir«, sagte er energisch. »Du sagst immer noch Mama?«

»Was soll ich sonst sagen? An eine andere Mutter kann ich mich nicht erinnern. Vielleicht wirst du es bedauern, mir jemals begegnet zu sein, wenn ich alles über meine Herkunft herausgefunden habe.«

»Du sollst nicht so reden, Cindy«, sagte er leise. »Es tut mir weh. Morgen wird mein Vater kommen, und du wirst sehen, daß er dir beide Hände entgegenstreckt.«

»Du bist ein Optimist, Tim«, sagte sie ironisch. »Du kannst ihm doch nicht ein Mädchen mit einer unklaren Herkunft präsentieren.«

»Was kannst du dafür! Du bist so, wie ich dich liebe. Ich bitte dich inständig, nicht zu zerreden, was uns verbindet, Cindy.«

Heiße Tränen liefen ihr da über die Wangen. Er nahm sie in die Arme und küßte diese Tränen weg. »Es wird alles gut, mein Liebling«, sagte er beschwörend. »Mein Vater hat die besten Verbindungen zur Schweiz. Er wird uns helfen, alles schnellstens zu klären.«

Ob er morgen auch noch so denken wird, ging es Cindy durch den Sinn. Doch bei allen Zweifeln, die sie bewegten, empfand sie auch das Glück der Geborgenheit in seinen Armen.

*

Fee Norden hatte ein ewiglanges Telefongespräch mit Anne geführt, und nach diesem herrschte in ihr genauso Aufruhr wie in Anne. Hier wie dort auf der Insel gab es bereits die Gewißheit, daß Cindy Clarissas Tochter sein mußte.

Anne überlegte, wie man es Clarissa beibringen solle. Fee wartete voller Ungeduld auf ihren Mann, um mit ihm darüber zu sprechen.

Anne konnte bald mit ihrem Mann sprechen. Dr. Johannes Cornelius, sonst die Ruhe in Person, geriet diesmal aus der Fassung. Aber dann dachte er wieder ruhig über das Gehörte nach.

»Auf keinen Fall dürfen in Clarissa Hoffnungen geweckt werden, die noch nicht bewiesen sind. Nach all diesen spannungsvollen Jahren muß erst eine völlige Klärung erfolgen.« Er machte eine Gedankenpause. »Und dann sage mir mal, Anna, wer Euripides noch widerlegen mag, der da ja sagte: Dunkel sind die Wege, die das Schicksal geht.«

»Und manchmal führen sie doch ins Licht«, meinte Anne nachdenklich. »Hätte Clarissa doch nur früher mit mir darüber gesprochen!«

»Und was hättest du tun können?« fragte er.

»Ja, was hätte ich tun können«, flüsterte Anne. »Es gab ja keinen Hinweis, wo Cindy geblieben ist. Kannst du diese Frau Clement verstehen, Hannes?«

»Ich verstehe es. Man muß sich die Verzweiflung einer Frau vor Augen führen, die ihren Mann verloren hat, die ihr Kind vermißt und ein anderes im Arm hält, das fast gleichaltrig ist. Niemand zweifelt, daß es sich um ihr Kind handelt. Niemand scheint dieses Kind zu vermissen. Lorrings Leiche wird erst Jahre später gefunden. Clarissa lebt in dem Glauben, daß er mit dem Kind durchgebrannt ist. Nachforschungen verlaufen im Sande. Und als er dann gefunden wird, gibt es noch immer keine Spur von Cindy. Dieses andere Kind scheint immer noch unter den Schneemassen zu liegen.«

»Ein schrecklicher Gedanke«, flüsterte Anne.

»Ja, schrecklich für Clarissa, denn hätte man dieses andere Kind gefunden, wäre festgestellt worden, daß es nicht Cindy gewesen ist. Man hätte herausgefunden, daß es sich um die kleine Constance Clement handelt. Für dich ist dieser Tag nun wieder gegenwärtig.«

Anne legte ihre Hände vor ihr Gesicht. »Ich weiß nur noch, wie ich um Katjas Leben kämpfte«, flüsterte sie. »Sonst habe ich keine Erinnerungen mehr. Ich könnte nicht sagen, mit wem ich gesprochen, wen ich gesehen hätte. Ich habe nur gebetet, daß Katja leben darf.«

»Und dein Gebet wurde erhört«, sagte Johannes Cornelius leise. »Clarissa hätte auch gebetet für das Leben ihres Kindes, wenn sie gewußt hätte, daß es dort war, aber sie war in Pontresina und erfuhr alles erst, als es schon vorbei war. Aber wenn ich es so recht bedenke, könnte es ja sein, daß sie mit all ihren Gedanken bei Cindy war, die von ihrem Vater mitgenommen wurde, daß auch ihr Gebet erhört wurde, daß dem Kind kein Leid widerfahren solle. Aber was nützt alles Nachdenken, Anne. Wir sind machtlos gegen das, was uns von der Vorsehung beschieden ist. Wir haben uns durch dieses schreckliche Geschehen gefunden. Was des einen Glück ist, ist des andern Leid gewesen.«

Anne griff nach seiner Hand und drückte sie an ihre Wange. »Ich schaue jetzt nach Clarissa«, sagte sie.

»Aber sage ihr bitte noch nichts. Ich meine, das sollten wir Tim überlassen.«

»Er kennt doch die ganze Wahrheit selbst noch nicht«, sagte Anne.

»Dann sollte er sie zuerst erfahren…«

*

Clarissa war nicht in ihrem Appartement. Anne machte sich auf die Suche und traf sie dann nahe bei der Quelle.

»Jetzt mußt du aber etwas sagen«, sagte sie energisch.

Clarissa nickte. Ihr Blick war in sich gekehrt. Anne nahm ihren Arm.

»Es tut mir leid, daß alles in dir aufgewühlt wurde«, sagte sie leise.

»In dir ja auch«, erwiderte Clarissa. »Wenn ich doch nur wüßte, was mit Cindy geschah. Ich hätte die Nachforschungen nicht aufgeben dürfen, nachdem ich von Pieters Tod erfuhr. Ich hätte jeden fragen müssen, der an der Unglücksstelle zugegen war.«

»Ich glaube nicht, daß einer der Beteiligten sich nach drei Jahren noch an Einzelheiten hätte erinnern können«, sagte Anne. »Diejenigen, die sich vorher gekannt hatten, waren nur froh, wenn sie Freunde und Angehörige lebend fanden.«

»Aber Cindy hätte doch bei ihm sein müssen, in seiner Nähe«, flüsterte Clarissa.

»Durch die Wucht der Lawine waren auch mein Mann und Katja auseinandergerissen, Clarissa.« Anne lag es auf der Zunge, ihr nun doch zu sagen, was sie erfahren hatte, aber blieb nicht doch ein Zweifel, wie Clarissa reagieren würde?

Nein, heute sollte sie es noch nicht erfahren. Und in München kam Daniel auch zu dem Entschluß, mit Tim darüber persönlich zu sprechen.

Er konnte ihn telefonisch nicht erreichen. Fee meinte, daß Tim wohl bei Cindy sein würde. Auch sie hatte sich schon auf diesen Namen eingestellt. Doch auch dort meldete sich niemand, denn Tim hatte es erreicht, daß Cindy doch mit ihm zum Essen gegangen war.

»Morgen ist auch noch ein Tag«, meinte Fee. »Alles auf einmal können sie sowieso nicht verdauen.«

Sie rief dann am nächsten Morgen gegen neun Uhr bei Cindy an. Aber die sagte ihr, daß Tim in seiner Wohnung sei. Er würde auf seinen Vater warten.

Fee war sprachlos. Robert Thornhill kam jetzt schon nach München, gerade jetzt?

»Ist gut, dann rufe ich dort an«, sagte sie. »Wie geht es?«

»So einigermaßen«, erwiderte Cindy. »Mama wird morgen beerdigt.«

Mama, sagte sie, und Fee wurde es dabei eiskalt, weil sie an Clarissa denken mußte.

Und auch Tim dachte an Clarissa, an seine bisher so geliebte Mummy. Cindy hatte ihm den Brief gegeben, den Pieter Lorring geschrieben hatte, und er hatte ihn immer wieder gelesen. Aber aus diesem ging ja nicht hervor, wodurch die Ehe in die Brüche gegangen war. Auch Tim hatte kein Wort verloren von dem, was er wußte. Auch in ihm stritten Zweifel und Sorge miteinander.

Als ihn Fees Anruf erreichte, läutete es gerade. »Entschuldige, Fee, ich erwarte meinen Vater«, sagte er hastig. »Ich melde mich bei euch.«

Robert Thornhill stieg aus dem Lift. Man sah ihm an, daß er eine schlaflose Nacht hinter sich hatte. Aber wenn man die beiden Männer nebeneinander sah, konnte nicht der geringste Zweifel aufkommen, daß es sich um Vater und Sohn handelte, so ähnlich waren sie sich.

»Wo ist das Mädchen?« platzte Robert heraus.

»Immer mit der Ruhe, Dad. Laß mich erst erzählen.«

»Du ahnst ja nicht, was das bedeuten könnte«, stieß Robert hervor.

»Ahnst du es?« staunte Tim. »Oder weißt du es schon?«

»Was sollte ich wissen?«

»Daß sie nicht Constance Clement heißt, sondern Cindy Lorring. Letzteres ist allerdings noch nicht bewiesen.«

»Cindy Lorring«, flüsterte Robert. »Nach so vielen Jahren. Mein Gott, wie wird Clarissa…«, er unterbrach sich. »Bitte, erzähle mir zuerst alles, Tim. Gib mir ein Glas Wasser. Meine Kehle ist trocken.«

»Ich habe schon Tee gebrüht«, sagte Tim heiser.

Er hatte alles erzählt, ohne einmal von seinem Vater unterbrochen zu werden. Wie er Cindy als Constance Clement kennen- und liebengelernt hatte. Er erzählte, warum Daniel Zweifel gekommen waren, daß Anita Clement Cindys Mutter sei, wie Anita dann so bald gestorben war und sie ihre Geschichte gelesen hatten.

Da richtete sich Robert erstmals auf. »Kann ich das lesen?« fragte er.

»Der Brief ist bei Cindy, Dad, aber der Brief, den Lorring hinterließ, ist hier.« Er holte ihn, und Robert las. Er griff sich an die Stirn.

»Es ist unfaßbar, unbegreiflich«, murmelte er. »Er hintergeht Clarissa, betrügt seinen Schwiegervater, verschwindet mit dem Kind, ohne eine Nachricht zu hinterlassen, und dann drückt er einem fremden Mann diesen Brief in die Hand. Clarissa hat doch keine Ahnung gehabt, wohin er mit Cindy gefahren ist. Es ist doch gar nicht wahr, daß er sie um eine Aussprache gebeten hat.«

»Bist du da ganz sicher, Dad?« fragte Tim miß­trau­isch.

Robert starrte seinen Sohn befremdet an. »Clarissa hat mich nie belogen. Sie hatte keinen Grund dazu. Sie lag mit Fieber im Bett, als Lorring mit dem Kind verschwand. Er hat keine Nachricht hinterlassen. Er wußte ja, daß Clarissa krank war.«

»Und wann hast du Clarissa kennengelernt, Dad? Damals schon?«

»Aber nein. Zwei Jahre später. Da gab es noch immer keine Spur von Lorring und dem Kind. Wir hätten lange mit der Heirat warten müssen, wenn Lorring dann bei der Schneeschmelze nicht gefunden worden wäre, weit entfernt von der Stelle, an der die Lawine heruntergegangen war. Dort war natürlich nicht gesucht worden. Es war purer Zufall, daß seine Leiche entdeckt wurde, weil ein Wanderer dort abgestürzt war.«

Tim überlegte angestrengt. »Und sein Wagen? Sagtest du nicht, daß er mit dem Wagen weggefahren wäre?«

»Der Wagen wurde niemals gefunden. Du siehst, es kamen viele unselige Zufälle zusammen.«

»Aber er hielt sich in St. Moritz auf«, beharrte Tim.

»Er war in keinem Hotel gemeldet. Es wurde nachgeforscht, Tim. Ich habe die Zeitungsausschnitte mitgebracht, in denen die Suchmeldungen veröffentlicht wurden, Fotos von Lorring und Cindy. Ich möchte sie jetzt kennenlernen, und dann muß ich schnellstens zu Clarissa.«

»Meine Mutter ist also auch Cindys Mutter«, murmelte Tim.

Ein flüchtiges Lächeln huschte um Robert Thornhills Mund. »Sagen wir es besser so: Cindys Mutter wurde dann deine Mummy. Und diese Frau Clement hat Cindy die schönsten Jahre ihrer Kindheit genommen.«

»So darfst du es nicht sehen, Dad. Sie hat rührend für Cindy gesorgt. Sie war eine kranke Frau, und jetzt ist sie tot. Ich habe auch kein Verständnis für dieses Schweigen, aber es ist nichts rückgängig zu machen.«

»Du hast Cindy gefunden«, sagte Robert gedankenvoll. »Es sollte so sein. Du bringst sie Clarissa zurück. Du schenkst sie uns. Es ist ein Wunder geschehen, Tim.«

»Ich werde Cindy heiraten, Dad.«

»Meinen Segen hast du jetzt schon, und jetzt spann mich nicht länger auf die Folter. Wir können doch alles gemeinsam besprechen.«

»Gut, dann fahren wir zu Cindy.«

*

Cindy hatte die Wohnung aufgeräumt. So viele Jahre hatte sie hier verbracht, nicht ahnend, welches Geheimnis ihr Leben umgab. Es fror sie bei diesem Gedanken.

Vielleicht wäre es besser gewesen, ich hätte es nie erfahren, dachte sie. Und dann läutete es. Ihr Herz schlug noch unruhiger, als sie die Tür öffnete.

Robert Thornhill dachte in diesem Moment das gleiche, was auch Tim gedacht hatte, als er in Cindys Augen blickte. Es waren Clarissas Augen.

Er schob Tim zur Seite und nahm Cindy in die Arme. Wortlos drückte er sie an sich, und Cindy wußte nicht, wie ihr geschah.

»Mein Gott, was wird Clarissa sagen«, murmelte er dann, aber Tim sagte warnend: »Dad, immer langsam.«

Zärtlich umschloß Robert Cindys blasses Gesicht, küßte sie auf die Stirn, die Augen und die Wangen.

»Wie ähnlich du deiner Mutter bist«, flüsterte er. »Ich muß es doch sagen, Tim. Meine Frau ist deine Mutter, Cindy, daran kann kein Zweifel bestehen.«

»Tims Mummy?« flüsterte Cindy bebend. »Aber wieso…«, jetzt küßte sie Robert auch auf die Lippen, aber das wurde Tim zuviel. »Ich habe Cindy heute auch noch nicht gesehen, Dad«, grollte er.

»Dieser Junge, dieser Tausendsassa«, rief Robert aus. »Er hat uns nie Kummer bereitet, aber daß er dich gefunden hat, ist das beste. Wir müssen sofort zur Insel fahren. Wir dürfen Clarissa nicht eine Stunde mehr warten lassen.«

»Ich kann doch nicht weg«, sagte Cindy leise. »Ich muß morgen zur Beerdigung gehen.«

Robert runzelte die Stirn, aber dann schluckte er einen Widerspruch herunter.

»Ich meine auch, daß Mummy vorbereitet werden muß«, warf Tim ein. »Sie ist doch die einzige, die völlig ahnungslos ist.«

»Ist es denn auch wirklich wahr?« fragte Cindy stockend. »Kann es nicht doch einen Zweifel geben?«

»Keinen«, sagte Robert. »Okay, reden wir noch darüber. Ich fahre dann allein zur Insel, und ihr kommt morgen nach. Bestell mir einen Leihwagen, Tim.«

»Verschnauf dich doch erst einmal, Dad«, sagte Tim. »Die Nordens wollten mich auch dringend sprechen. Fee und Daniel können uns sagen, wie wir es Mummy am besten beibringen.«

»Ich würde gern wissen, was damals geschehen ist«, sagte Cindy. »Was wirklich geschehen ist, bevor mein Vater sich von meiner Mutter trennte.«

»Das wird dir Clarissa am besten selbst sagen«, erwiderte Robert. »Ich kann dir nur beweisen, wie sehr und wie lange sie dich suchte.« Er legte die Zeitungsausschnitte auf den Tisch, die er seinem Aktenkoffer entnommen hatte. »Und ich würde gern lesen, wie es Frau Clement geschildert hat«, fügte er bittend hinzu.

Cindy gab ihm den Brief. Und sie las, was in diesen Zeitungen stand. Sie sah die Fotos von ihrem Vater, von der kleinen Cindy. »Wer kann Auskunft geben über den Aufenthalt von Pieter Lorring und seiner Tochter Cindy«, hieß es da, und später: »Clarissa Lorring sucht ihre Tochter Cindy. Eine hohe Belohnung ist für jeden Hinweis ausgesetzt.«

Dann hieß es: »Pieter Lorring wurde gefunden. Wo aber ist Cindy Lorring. Zehntausend Schweizer Franken Belohnung! Hunderttausend Dollar demjenigen, der Cindy lebend zu seiner Mutter bringt.«

Robert blickte auf, als Cindy leise aufschluchzte. Er ging zu ihr und legte den Arm um sie. »Clarissa wollte es nicht glauben, daß du nicht mehr lebst«, sagte er leise. »Wir haben wirklich alles versucht, um dich zu finden, und ich kann mir nicht vorstellen, daß Frau Clement keine dieser Anzeigen, die auch in allen großen deutschen Zeitungen veröffentlicht wurde, gelesen hat.«

»Doch, ich kann es mir vorstellen«, sagte Cindy. »Sie hat niemals eine Zeitung gelesen, solange ich denken kann. Sie mag wohl Angst davor gehabt haben, so etwas zu lesen.«

»Ihr habt nie mit mir darüber gesprochen«, sagte Tim grollend. »Ich hätte doch auch geholfen, Cindy zu finden.«

»Du hast sie ja gefunden«, sagte Robert. »Du hast sie gefunden, ohne etwas zu wissen. Als du erwachsen geworden warst, hatten wir jede Hoffnung längst aufgegeben, Tim. Es war wirklich eine göttliche Fügung, daß du diesen Buchladen betreten hast.«

»Weil Mummy Bücher haben wollte und Fee sagte, daß ich sie in diesem Laden bekommen kann«, erklärte Tim. »Die gute Fee hat das Wunder bewirkt.«

*

Die gute Fee riß die Augen dann ganz weit auf, als Cindy zwischen den beiden Thornhills ihr Haus betrat. Robert küßte ihr beide Hände.

»Was sagst du nun, Fee, ich bringe dir meine Tochter, die zugleich meine Schwiegertochter wird.«

»Deine Tochter?« fragte sie atemlos.

»Wir haben doch was gegen das Wort Stieftochter«, sagte er, »wie Clarissa nie das Wort Stiefsohn hören wollte. Ihr Kind ist mein Kind, und mein Kind ist ihr Kind. Jetzt brauchen wir nur noch sie zu unterrichten.«

»Aber nicht per Telefon«, rief Fee aus. »Daniel hatte ja gleich solche Ahnungen, nachdem er Cindy untersucht hatte. Darf ich mal schauen, wo bei dir das Muttermal sitzt, Cindy?«

Cindy deutete mit dem Finger darauf. Sie mußte den Kragen etwas zurückschieben.

»Eine raffinierte Stelle«, sagte Fee. »Nicht sofort zu entdecken. Nun, ich muß sagen, daß dies allein kein überzeugendes Kennzeichen wäre.«

»Man braucht Cindy doch nur anzuschauen, um festzustellen, daß sie nur Clarissas Tochter sein kann«, sagte Robert fast beleidigt.

Fee lächelte. »Du kennst Clarissa schon länger als wir. Es kann durchaus sein, daß Cindy in zwanzig Jahren ebenso ausschauen wird wie ihre Mutter, aber jetzt gibt es da noch keine völlige Übereinstimmung. Bis auf die Augen«, räumte Fee dann ein. »Aber wenn man dann genauer hinschaut, dann entdeckt man schon noch mehr.« Ein träumerisches Lächeln verklärte nun ihr Gesicht. »Es wird ein wunderschöner Tag für Clarissa sein, wenn sie ihre verlorengeglaubte Tochter in die Arme schließen kann.«

Cindy ließ ihren Blick in die Ferne schweifen. »Ich muß erst das eine Kapitel hinter mich bringen«, sagte sie leise. »Ich habe sechzehn Jahre zu einer anderen Frau Mama gesagt. Nein, du darfst jetzt nichts sagen, Dad, ich bitte dich. Sie war gut zu mir. Sie war ein armer, bedauernswerter Mensch. Sicher wäre sie glücklicher gewesen, wenn ihr Kind gerettet worden wäre. Dann wäre ich tot. Aber ich darf leben.«

»Gott sei es gedankt«, sagte Robert, und Tim nahm sie in die Arme und küßte sie.

Währenddessen wurde Clarissa von einer ihr unerklärlichen Unruhe hin und her getrieben.

Ein paarmal hatte sie versucht, Tim zu erreichen, und wieder war es vergeblich.

Ruhelos lief sie durch den Park, ohne einen klaren Gedanken fassen zu können. Dann kam Mario angelaufen.

»Onkel Bob ist am Telefon, Tante Clarissa«, rief er. Da setzte sie sich schnell in Bewegung. Atemlos erreichte sie das Telefon. »Bob?« schluchzte sie fast.

»Was ist denn, Darling?« fragte er.

»Ich bin so schnell gelaufen. Lieb, daß du anrufst. Ich hatte solche Sehnsucht nach dir.«

»Ich bin ja bald bei dir, mein Liebes«, sagte er zärtlich. »Ich bin in München bei Tim. Aber ich fahre jetzt gleich los.«

»Was machst du in München, schon jetzt?« fragte Clarissa noch immer atemlos.

»Ich mußte etwas ganz Dringendes erledigen.«

»Ich habe schon ein paarmal versucht, Tim zu erreichen.«

»Er war mit mir unterwegs und muß jetzt auch noch einiges besorgen. Ich bin bald bei dir, mein Liebstes. Es fehlt dir doch hoffentlich nichts?«

»Du fehlst mir, Bob. Du fehlst mir sehr.«

Ja, nur mit ihm konnte sie über all das, was sie bewegte, sprechen.

So lieb sie Anne hatte, so gut sie sich mit ihr und Johannes Cornelius verstand, manches konnte sie eben doch nur ihrem Mann anvertrauen, mit dem sie in einer so tiefen, innigen Liebe verbunden war.

Für ihn war ihre zittrige Stimme jedenfalls ein Zeichen, sich sofort in Bewegung zu setzen. Einen Leihwagen hatte Tim schnell besorgt. Sie waren bei der Firma schon seit Jahren bekannt.

»Bist du auch nicht zu müde, Dad?« fragte Tim.

»Ach was. Diese kurze Strecke, und ich kenne sie doch«, erwiderte Robert. »Paß nur gut auf dein Schwesterchen auf«, scherzte er dann.

»Denkste, Schwesterchen«, konterte Tim. »Ich bin sehr froh, daß sie nicht meine Schwester ist.«

»Das kann ich mir gut vorstellen. Wir haben halt den gleichen Geschmack«, meinte Robert schmunzelnd. Aber schnell wurde sein Gesicht wieder ernst. »Es wird Clarissa weh tun, daß Cindy eine andere Frau als Mutter liebgehabt hat«, sagte er.

»Es ist besser so, als wenn Lorring sie verschleppt hätte«, sagte Tim.

»Wirst du mit Cindy zum Friedhof gehen?« fragte sein Vater.

»Selbstverständlich, Dad. Ich lasse sie keine Stunde mehr allein «

»Und dein Studium hängst du an den Nagel?«

»Kommt doch nicht in Frage. Es gibt auch verheiratete Studenten.«

»Wir werden Cindy aber bei uns haben wollen, Tim. Du mußt es Clarissa zugestehen.«

»Dann gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder zieht ihr nach München, oder wir kommen eben nach London.«

»Wir werden schon eine Lösung finden. Ein paar Wochen können wir in München bleiben, und dann… aber jetzt muß ich wirklich zu meiner Frau.«

Herzlich wurde Tim von seinem Vater umarmt. »Mein Junge, mein guter Junge«, sagte Robert, und tiefe Rührung schwang in seiner Stimme.

*

»Nun, was sagst du zu Dad?« fragte Tim, als er wieder oben in der Wohnung war.

»Er ist lieb. Ja, wenn man solchen Vater hat…«

»Dann taugt auch der Sohn etwas«, sagte er ohne zu überlegen.

»Und wie mag mein Vater gewesen sein?«

»Du hast eine sehr liebenswerte Mutter, Cindy«, erwiderte Tim. »Ist es nicht hübsch, daß unsere Eltern gleichzeitig auch unsere Schwiegereltern sind?«

Sie nickte. Dann aber sagte sie verhalten: »Ich weiß jetzt, wie sehr meine Mutter gelitten hat und ich denke, daß der Herrgott auch mit Anita Clement gnädig war, daß er sie sterben ließ. Ich habe viel darüber nachgedacht, Tim. Wenn sie nicht auch noch diese Fehlgeburt gehabt hätte, vielleicht hätte sie mich meiner Mutter dann doch zurückgegeben. Ich möchte so etwas nicht erleben, nicht das, was sie erlebte, und nicht das, was Mummy erlebte. Aber sie hatte dann wenigstens euch, einen wundervollen Mann und einen so liebenswerten Sohn.«

Tim schluckte schwer, so innig sagte sie das. Ihm war die Kehle eng, und seine Augen begannen zu brennen.

»Aber sie hat uns diese wundervolle Tochter geschenkt«, sagte er, und seine Stimme war heiser vor Zärtlichkeit. »Mein Allerliebstes, du hattest einen Schutzengel, und deshalb werde ich Anita Clement auch nicht gram sein.«

»Sie hielt uns beide an den Händen, so hat sie es geschrieben, und das glaube ich, Tim. Conny wurde ihr entrissen. Es ist seltsam, aber manchmal glaube ich jetzt, mich an diesen Augenblick erinnern zu können.«

»Du stellst es dir vor«, sagte er. »Es ist keine Erinnerung, Cindy. Und ich möchte auch, daß du es wieder vergißt. Diese Erinnerung soll uns nicht ein ganzes Leben begleiten.«

»Und wenn Conny nun auch leben würde?« sagte Cindy nachdenklich.

»Nein, sie wäre gefunden worden. Für hunderttausend Dollar wäre sie Clarissa gebracht worden als Cindy, davon bin ich überzeugt.«

»Lorring hat man doch auch gefunden, wenn auch erst Jahre später«, sagte Cindy leise. »Warum nicht auch das Kind?«

»Darauf werden wir wohl niemals eine Antwort bekommen«, sagte Tim. »Aber vorhin hast du Mummy gesagt, das macht mich froh. Den morgigen Tag werden wir auch noch überstehen, und dann denken wir nur noch an die Gegenwart und ein bißchen auch schon an die Zukunft, Cindy.«

Sie hielten sich umschlungen, sie küßten sich, und zu dieser Stunde wurde auch Clarissa von ihrem Mann umarmt und geküßt.

Anne war von Fee schon telefonisch informiert und hatte deshalb Clarissa ganz in Ruhe gelassen. Sie sorgte auch dafür, daß niemand dieses Wiedersehen störte und ging zu ihrem Mann.

»Bob ist schon da«, sagte sie.

»Das wird gut sein. Länger hättest du doch nicht schweigen können«, meinte er neckend.

»Ich hätte es nicht mehr mit ansehen können, wie sie herumlief, so rastlos«, sagte Anne. »So kenne ich Clarissa nicht.«

»Aber erinnere dich, Anne, wir haben oft gedacht, daß Clarissa etwas mit sich herumträgt, was sie noch nicht verkraftet hat.«

»Nun wissen wir, was es war«, sagte Anne, »und sie wird nun bald wissen, daß sie ihre Cindy wiederbekommt.«

Ihre Stimme versagte. Johannes Cornelius legte seinen Arm um sie. »Deshalb brauchst du doch nicht zu weinen, Liebes«, sagte er weich

»Da muß man doch weinen, Hannes. Stell dir das mal vor, nach sechzehn Jahren bekommt sie ihr Kind zurück. Was das für eine Mutter bedeutet!«

»Freuen wir uns darüber, liebste Anne«, sagte er. »Und denken wir auch ein wenig daran, wieviel Eltern nach diesem unseligen Krieg ihre Kinder suchten, wieviel Kinder bei fremden Menschen aufwuchsen und doch lebenstüchtig wurden, und wie glücklich einige sein durften, als sie sich wiederfanden. Es gibt so viele solcher Schicksale, mögen sie auch unter anderen Umständen zum Unglück und doch zum Glück geworden sein.«

Clarissa begriff zuerst gar nichts. Allerdings begann Robert auch sehr, sehr vorsichtig zu erzählen von dem Mädchen, das Tim kennenlernte, in das er sich verliebte.

»Sie hat die gleiche Augenfarbe wie du, mein Liebes.«

»Ja, und, hast du sie kennengelernt? Warum hat Tim mir noch nichts berichtet?«

Einfach war es nicht für Robert, ihre verständliche Neugierde sofort zu stillen. Clarissa hörte ihm gar nicht richtig zu. »Wie heißt sie?« fragte sie hastig.

»Ja, das ist es, Darling«, erwiderte er stockend. »Sie heißt Cindy.«

»Sie heißt Cindy«, wiederholte Clarissa atemlos.

»Und es ist Cindy«, murmelte er.

Clarissa stieß einen leisen Schrei aus. Sie schwankte, aber schon hielt er sie in seinen Armen.

»Lache, weine, freue dich, Clarissa, Tim blieb es vorbehalten, Cindy zu finden.«

Sie schluchzte und lachte und klammerte sich bebend an ihn. »Warum hast du sie nicht mitgebracht? Was ist da noch?« fragte sie.

Nun konnte er alles erzählen. Ab und zu stöhnte Clarissa leise auf oder murmelte »mein Gott«, aber sonst sagte sie nichts. Erst später, nach einem langen, gedankenvollen Schweigen, murmelte sie: »Wie konnte sie das tun?«, und doch fügte sie gleich hinzu: »Vielleicht hätte ich auch so gehandelt in dieser Situation. Ich kann nicht beurteilen, was man empfindet, wenn man von einem solchen Schicksalsschlag getroffen wird, sozusagen aus heiterem Himmel. – Laß uns nach München fahren, Bob.«

»Warum?«

»Du sagtest doch, daß Anita Clement morgen beerdigt wird. Cindy wird ihr diese letzte Ehre erweisen und ich möchte das auch tun. Sie hat für mein Kind gesorgt. Cindy lebt und sie wurde geliebt. Irgendwie schulde ich dieser Frau doch Dank.«

»Du und deine Tochter, wie ähnlich ihr euch seid«, sagte er nachdenklich.

»Ich bin dankbar«, flüsterte Clarissa. »Unendlich dankbar, daß ich nun nicht mehr zu denken brauche, was dem Kind widerfahren ist, und was ich hätte verhindern können.«

»Hatte Lorring dich um ein Treffen in St. Moritz gebeten?« fragte Robert vorsichtig.

»Um ein Treffen? Nein, wie kommst du darauf?«

Er zeigte ihr den Brief. Bestürzung zeigte sich in ihrem Mienenspiel.

»Ich wäre doch gefahren«, flüsterte sie. »Ich hätte jede Chance wahrgenommen, um Cindy zurückzuholen. Auch mit dieser fieberhaften Allergie wäre ich gefahren. Sollte mir jemand diese Nachricht vorenthalten haben, wenn er sie tatsächlich hinterlassen oder geschickt hat? Vater vielleicht? Aber das werde ich wohl nie erfahren. Es ist seltsam, daß Pieter sich diesem Franco Clement anvertraute.«

»Es ist alles seltsam, Clarissa«, sagte Robert sinnend. »Clement muß ein kluger, besonnener Mann gewesen sein.«

»Ein glücklicher Ehemann und Vater«, meinte Clarissa. »Um so verständlicher ist es, daß für Anita Clement eine Welt zusammenbrach, als sie ihn und ihr Kind verlor. Und mein Vater? Ob er nach St. Moritz fuhr, um mit Pieter zu sprechen? Es kann sein. Aber es ist nutzlos, darüber nachzudenken. Vater war unversöhnlich. Und ich war doch schuld an allem, weil ich so töricht war, Pieter zu heiraten. Wie kannst du mich lieben, Bob, das muß ich mich fragen.«

»Weil du kein törichtes kleines Mädchen mehr warst, als ich dich kennenlernte«, erwiderte er zärtlich. »Frage jetzt bitte nicht auch noch, ob ich es nie bereut hätte, dich zu heiraten. Du weißt doch genau, wie sehr ich dich liebe.«

»Du bist so voller Güte und Verständnis. Bitte, laß uns nach München fahren.«

»Morgen früh«, erwiderte er. »Es ist Zeit genug.«

*

»Ich will froh sein, wenn auch dieser Tag vorüber ist«, sagte Fee beim Frühstück zu ihrem Mann. »Hat eigentlich eine Obduktion stattgefunden?«

»Die war doch nicht mehr nötig«, erwiderte er. »Es war die Parkinsonsche Krankheit, Fee.«

»Red nicht schon am Morgen über Krankheit, Papi«, sagte Danny, der sich zum Schulgang rüsten mußte. »Da schmeckt es einem ja gar nicht.« Dabei kaute er aber unverdrießlich. Er entwickelte einen sehr gesunden Appetit.

»Entschuldige, mein Sohn«, sagte Daniel schmunzelnd.

»Aber du könntest mal in die Schule kommen, Mami. Unsere Lehrerin ist bestimmt auch krank. Sie muß sich manchmal festhalten, wenn sie steht, und dann wird sie ganz blaß. Und dann schluckt sie auch so, als ob es ihr schlecht ist.«

Daniel sah seinen Sohn etwas nachdenklich an. »Du hast eine gute Beobachtungsgabe«, stellte er fest. »Ist das jeden Tag bei Frau Petersen so?«

»Schon ein paar Tage«, erwiderte Danny. »Ich möchte nicht, daß sie krank wird. Sie ist sehr nett.«

Daniel tauschte mit Fee einen langen Blick, und sie nickte unauffällig.

»Manche lassen sich wegen jeder Kleinigkeit krankschreiben«, stellte Daniel fest, »und andere haben Angst um ihre Stellung. Wie Herr Gröbner. Ich muß in die Praxis. Er muß seine Spritze kriegen, bevor er ins Büro geht.«

»Und ich bringe Danny zur Schule«, sagte Fee.

»Guckst du dir dann Frau Petersen mal an, Mami?« fragte Danny. »Vielleicht hat sie keinen guten Doktor. Ich möchte auch mal so ein guter Doktor werden wie Papi und Opi. Meinst du, daß ich dafür gescheit genug bin?«

»Du mußt halt fleißig lernen, Danny, aber noch wichtiger ist es, daß du viel Geduld und Verständnis aufbringst. Aber du hast noch viel Zeit.«

»Mit dem Lernen kann man gar nicht zeitig genug anfangen«, erklärte er eifrig. »Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr, sagte Lenni.«

»Recht hat sie«, lächelte Fee. Dann fuhren sie zur Schule. Frau Petersen war eine schlanke blasse Frau um die dreißig, von sehr sympathischem Wesen, und Fee wußte, daß sie die Kinder gut zu nehmen verstand.

Fee fragte, ob sie ein paar Minuten Zeit hätte. »Selbstverständlich«, erwiderte die Lehrerin. »Aber ich kann ohnehin nur Gutes über Danny sagen. Er ist ein ganz besonders nettes Kind, Frau Dr. Norden.«

»Er macht sich Sorgen um Sie«, erklärte Fee offen.

»Um mich?« Flüchtige Röte stieg in die blassen Wangen der jungen Flau.

»Er beobachtet sehr genau und meint, daß es Ihnen manchmal nicht gutgeht. Er möchte nicht, daß Sie krank werden. Sie nehmen es mir doch nicht übel, daß ich dies so direkt sage.«

»Nein, ich bin nur überrascht, daß er es merkt. Meine Kollegen sehen darüber hinweg. Ich leide entsetzlich unter Migräne, aber wenn ich das sage, glaubt es mir doch keiner. Migräne ist keine Krankheit, die ein Fernbleiben vom Unterricht rechtfertigt, wurde mir gesagt.«

»Nun, da bin ich anderer Meinung«, sagte Fee.

»Man kann ja doch nicht viel dagegen tun. Es kommt und geht.«

»Aber man sollte feststellen, ob nicht etwas anderes dahintersteckt. Manchmal sind auch die Nebenhöhlen schuld, wenn diese Schmerzen auftreten, oder auch ein Halswirbelsyndrom. Es ist zwar nicht gesagt, daß dies auslösend sein könnte, aber es müßte doch untersucht werden. Und wenn dies nicht der Fall ist und die Migräne sporadisch und anscheinend grundlos auftritt, müssen Sie eben daheim bleiben. Jeder vernünftige Arzt schreibt Sie krank.«

»Sie meinen, daß ich einmal Dr. Norden aufsuchen kann, ohne ausgelacht zu werden?«

»Du lieber Himmel, das würde er bestimmt nicht tun. Was meinen Sie, wieviel Fälle echter Migräne er behandelt, allerdings gibt es auch manche eingebildete.«

»Mir wird es dann richtig schlecht«, sagte Frau Petersen.

»Danny hat es gesagt«, nickte Fee.

»Er ist doch noch so klein«, staunte Frau Petersen.

»Uns überrascht er auch manchmal mit seiner Beobachtungsgabe. Aber er möchte vor allem, daß Sie als Lehrerin erhalten bleiben.«

»Das möchte ich auch. Vielen Dank für Ihr Verständnis, Frau Dr. Norden.«

»Gern geschehen. Danny würde es mir übelnehmen, wenn ich seine Worte ignoriert hätte. Man darf das Vertrauen seiner Kinder nie enttäuschen. Ich hoffe, Sie haben es auch so verstanden, Frau Petersen. Sie können jederzeit meinen Mann aufsuchen. Er wird Ihnen wirklich gern helfen, soweit es möglich ist. Oder sind Sie schon bei einem anderen Arzt in Behandlung?«

»Nein, ich habe mich immer gescheut«, gestand die Lehrerin ein. »Wegen Kopfschmerzen geht man nicht zum Arzt, hat schon meine Mutter gesagt.«

»Leider eine völlig falsche Einstellung«, erklärte Fee. »Jeder Schmerz hat eine Ursache, und dem Patienten kann erst geholfen werden, wenn die Ursache ergründet ist.«

»Vielleicht kann ich mal in meiner Freistunde gleich zu Dr. Norden gehen?«

»Gehen Sie nur. Ich sage ihm Bescheid.« Fee lächelte aufmunternd. »Ich möchte auch gern, daß unser Danny seine Lehrerin behält.«

Und wieder einmal hatte sie ein Herz gewonnen.

*

Robert und Clarissa Thornhill waren schon längst auf dem Weg nach München. Anne und Johannes Cornelius hatten sich von dieser Überraschung bereits erholt.

»So wird die Seele der armen Anita Clement wohl doch Ruhe finden«, sagte Anne gedankenvoll.

Die Beerdigung war für elf Uhr angesetzt. Cindy hatte dazu ihr dunkelblaues Kostüm angezogen. Noch einmal fuhr sie sich mit der Bürste durch das seidige Haar. Tim trat hinter sie und legte seine Hände auf ihre Schultern. Da schlug der Gong an.

»Wer könnte das sein«, murmelte Cindy. »Ich mag jetzt mit niemandem sprechen.«

Tim ging zur Tür, aber ihm blieb das Wort in der Kehle stecken, als er sah, wer da vor ihm stand. Clarissa legte den Zeigefinger auf ihre Lippen, sah ihn fragend an, und er deutete mit einer Kopfbewegung zum Wohnraum.

Cindy drehte sich um. Sie stand ihrer Mutter gegenüber, und in diesem Augenblick war jeder Zweifel in ihr ausgelöscht.

»Mein Kind«, flüsterte Clarissa mit erstickter Stimme.

»Mummy«, schluchzte Cindy auf. Sie sanken sich in die Arme. Sie hielten sich umschlungen und küßten sich.

Robert zuckte die Schultern, Tim schüttelte den Kopf, aber dann wurden auch sie in diese unendlich zärtliche Umarmung einbezogen.

»Ich meine, daß ich Anita Clement auch Dank schulde«, sagte Clarissa leise, »daß ich dich so wiedersehen darf, Cindy, daß du lebst, daß du gesund bist, dafür auch, daß Tim dich finden konnte.«

»Sie war gut zu mir, Mummy«, flüsterte Cindy.

Clarissa nickte und streichelte Cindys Wangen. »Wir müssen viel nachholen.«

»Jetzt müssen wir aufbrechen«, sagte Robert heiser.

*

Fee Norden wich ganz schnell in eine dunkle Ecke der Aussegnungshalle zurück, als Cindy und Clarissa zwischen Tim und Robert eintraten. Sie war fassungslos.

Die Hausbewohner, die gekommen waren, begannen zu tuscheln, aber nun wurde ein Choral auf dem Harmonium gespielt, und die Stimmen verstummten.

Kurz war die Ansprache des Pfarrers, dann wurde der mit weißen und roten Nelken überdeckte Sarg hinausgefahren. Benommen folgte Fee dem kleinen Trauerzug. Daß Clarissa gekommen war, bewegte sie tief.

Und sie war die einzige, die abgesehen von den vier Menschen, die vor dem offenen Grabe standen, die die Worte verstand, die der Geistliche hier sagte: »Alles verstehen, heißt alles verzeihen.«

Clarissa und Cindy, Mutter und Tochter hielten sich umschlungen. Blumen und Erde fielen dann auf den Sarg hinab, und schnell wandten sich die vier dann zum Weggang.

Fee folgte ihnen, holte sie dann ein. »Clarissa«, sagte sie verhalten.

Clarissa wandte sich zu ihr um. »Ich mußte doch kommen, Fee«, sagte sie. »Nun ist mein Kind wieder bei mir, bei uns.«

»Wir sind sehr froh darüber«, sagte Fee. »Werden wir uns sehen?«

»Wir bleiben ein paar Tage in München, und dann erholen wir uns gründlich auf der Insel«, erwiderte Clarissa. »Ein paar Wochen werden uns unsere Männer zubilligen, denke ich. Wenn Daniel Zeit hat, können wir uns ja morgen abend treffen.«

»Dann kommt ihr zu uns«, sagte Fee. »Ich muß dich bewundern, Clarissa. Frau Clement hätte es dir gedankt.«

»Euch haben wir auch zu danken«, warf Tim ein.

»Davon kann keine Rede sein«, meinte Fee. Und als sie heimwärts fuhr, dachte sie daran, wieviel Gedanken sie sich eigentlich um Tim und Cindys Lebensglück gemacht hatten, bevor sie die Gewißheit bekamen, daß Cindy nicht Anita Clements Tochter war.

Nun würde es für die Thornhills ein doppeltes Glück geben. Ein schreckensvolles Kapitel im Buch ihres Lebens war abgeschlossen.

»Jetzt müssen wir wohl nachfragen, ob die Bücher, die ich für dich bestellt habe, endlich gekommen sind, Mummy«, sagte Tim.

»Ich werde kaum Zeit zum Lesen haben. Jedenfalls nicht so bald«, meinte sie lächelnd.

»Aber Cindy muß sich von Herrn Korff verabschieden«, sagte Tim.

»Ich muß doch die Kündigungsfrist einhalten«, sagte Cindy.

»Das regeln wir schon«, warf Robert ein. »Ich werde ihm alle Bücher über Säuglings- und Kinderpflege, über alle Ratgeber für werdende Mütter und Väter abkaufen. Vielleicht gibt es auch welche für werdende Großeltern.«

»Du ahnst nicht, was es alles gibt, Daddy«, sagte Cindy. »Du wirst tief in die Tasche greifen müssen.«

»Wie gern«, sagte Robert schmunzelnd.

»Aber so weit ist es noch nicht«, meinte Cindy errötend.

»Weiß man es?« lachte Robert. »Tim ist für jede Überraschung gut.«

»Und du bist frech, Dad«, sagte Tim.

»Ich kann es nicht erwarten, eine Granny zu werden«, sagte Clarissa mit einem verklärten Lächeln. »Ihr werdet sehr nachsichtig mit mir sein müssen, denn ich möchte jeden Tag mein Enkelkind genießen.«

»Du wirst dazu bestimmt öfter als einmal Gelegenheit haben, Mummy«, sagte Tim, und mitten auf der Straße bekam Cindy einen langen zärtlichen Kuß.

Kein dunkler Schatten war mehr vorhanden. Arm in Arm gingen Clarissa und Cindy den Männern voraus.

»Wie ähnlich sie sich sind«, sagte Robert wieder.

»Wir auch, Dad«, meinte Tim. »Was werden das für Kinder werden!«

»Du denkst auch schon daran«, lachte der Ältere. »Jetzt setz dich erst mal auf die Hosen, damit du das Studium schnell zu Ende bringst.«

»Du wirst doch nicht darauf bestehen, daß wir so lange mit der Hochzeit warten?« fragte Tim etwas anzüglich.

»Ich werde mich hüten, wo wir doch so versessen darauf sind, bald Großeltern zu werden, und die sollen schließlich Thornhill heißen.«

Drei Wochen verbrachten Clarissa und Cindy auf der Insel. Sie konnten sich alles sagen, was sie sich sechzehn Jahre nicht sagen konnten. Sie konnten viel nachholen an Liebe, die ihnen versagt geblieben war, und Cindy wurde in dieser Zeit ihrer Mutter noch ähnlicher, da sie an Reife gewonnen hatte.

Robert Thornhill regelte indessen, was es zu regeln gab. Aber dann kam der große Tag, an dem es keine Constance Clement und auch keine Cindy Lorring mehr gab, nur noch eine Cindy Thornhill. Eine bezaubernde Braut, die ihrem Tim klar und deutlich das Ja sagte.

»I will«, sagte sie in der Sprache des Landes, das nun ihr Heimatland geworden war.

Die ganze Familie Norden war gekommen. Johannes und Anne Cornelius durften auch nicht fehlen. Und auch Katja und David Delorme hatten alle anderen Verpflichtungen für diesen großen Tag abgesagt.

David Delorme saß an der Orgel der altehrwürdigen Kirche, in der Tim und Cindy getraut wurden. Ein Künstler von Gottes Gnaden spielte ihnen die Weisen, die sie in ein glückverheißendes Leben führen sollten, ihnen, denen nur göttlicher Wille solches Glück bescheren konnte.

Mit verschlungenen Händen lauschten Clarissa und Robert Thornhill dem Ja ihrer Kinder, und ihre Augen wurden feucht, als Tim sich tief über Cindys Hände neigte und beide küßte.

»So möchte ich auch mal heiraten, Mami«, flüsterte Anneka. »So ist es schön.«

Fee Norden streichelte ihrer Jüngsten die Wangen. »Laß dir Zeit, Kleines«, flüsterte sie zurück.

Ihr verging die Zeit ohnehin zu schnell, und schon knapp neun Monate später kam die Nachricht, daß Cindy einem gesunden Sohn das Leben geschenkt hatte.

Clarissa durfte ihn zuerst in die Arme nehmen, und heiße Tränen des Glücks und der Dankbarkeit rannen über ihre Wangen. »Daniel Robert Timothy Thornhill, keinen Tag deines Lebens möchte ich missen«, flüsterte sie, »und vom dritten Jahr deines Lebens wird deine Granny ganz besonders über dich wachen.«

Aber dazu hatte sie dann gar nicht allzuviel Zeit, denn da kroch auch schon eine Clarissa herum und schrie nach ihrer Granny, weil Cindy bereits ihrem dritten Kind das Leben schenkte.

Sie hatten es eilig, die jungen Thornhills, als wüßten sie es, welch unendliches Glück sie ihren Eltern und Großeltern damit bescherten. Und diesmal waren es sogar Zwillinge. Ein John und eine Anne.

Danny Nordens Kommentar dazu lautete: »Sie sind noch nicht so lange verheiratet wie ihr und haben schon vier Kinder. Wie kommt denn das?«

Daniel und Fee lachten, aber Fee sagte: »Sie haben ja auch gleich zwei auf einmal. Meine Güte, das tät’ uns fehlen. Da wär’ Anneka schön beleidigt, wenn sie nicht allein Papis Herzepoppel wäre!«

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