Читать книгу Dr. Norden Bestseller Paket 4 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 22

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Annedore Diehl blieb vor der Tür zu Dr. Nordens Praxis stehen und zögerte, auf die Klingel zu drücken.

Was soll es überhaupt, dachte sie, in diesem Fall kann er doch auch nicht helfen. Er wird mich nur für die böse Schwiegermutter halten, die dauernd etwas an ihrem Schwiegersohn auszusetzen hat.

Aber dann tat sich die Tür von selbst auf, und eine junge Frau kam heraus. Hinter ihr war Loni, Dr. Nordens Helferin erschienen.

»Guten Tag, Frau Diehl«, sagte sie freundlich, »kommen Sie nur herein. Heute haben Sie es ganz gut erraten. Es macht sich bemerkbar, daß Ferienzeit ist.«

Nun trat Annedore doch ein. Sie war eine schlanke, gutaussehende Frau von achtundvierzig Jahren, sehr gepflegt und apart gekleidet, und nur der bekümmerte Ausdruck in ihren schönen braunen Augen verriet, daß sie einen Kummer mit sich herumtrug. Loni wußte von diesem Kummer. Annedore Diehl war bereits seit vier Jahren Dr. Nordens Patientin, und vorher war ihr Mann von Dr. Norden betreut worden. Der Rechtsanwalt Dr. Diehl war vor vier Jahren an Magenkrebs gestorben. Zu spät hatte er sich in ärztliche Behandlung begeben, wie so manch anderer, der ersten Anzeichen keine Beachtung schenkte.

Es war ein schwerer Schlag für Annedore und ihre Tochter Sandra gewesen, und Loni meinte, daß Annedore Diehl den Verlust ihres Mannes noch immer nicht verwunden hatte. So war es wohl auch, denn oft dachte Annedore, daß manches doch wohl anders gekommen wäre, wenn ihr Mann noch leben würde.

Dr. Norden wußte allerdings sehr gut, was Annedore Diehl quälte. Zuerst hatte er allerdings tatsächlich angenommen, daß sie durch die starke innere Bindung an ihre einzige Tochter zu ungerechter Beurteilung ihres Schwiegersohnes neigte.

An diesem Tag war sie die letzte Patientin, und so konnte er sich Zeit nehmen für sie, wissend, daß sie keine Medizin sondern seelischen Zuspruch brauchte.

»Was bedrückt Sie, Frau Diehl?« fragte er freundlich.

Ein Zucken lief über ihr Gesicht. »Ulrich ist wieder in München«, erwiderte sie bebend. »Er verlangt Nico zu sehen.«

Da war guter Rat nun wirklich teuer, denn Dr. Norden wußte sehr gut, daß auch geschiedene Väter das Recht hatten, ihre Kinder zu sehen, wenn es ihnen bei der Scheidung zugebilligt worden war.

Und so sagte er jetzt: »Ihre Tochter ist inzwischen eine selbständige, tüchtige Frau geworden, Frau Diehl. Bereiten Sie sich selbst doch nicht wieder schlaflose Nächte.«

»Ich fürchte wirklich, daß er alles tun wird, um Nico gegen Sandra zu beeinflussen. Ich habe so sehr gehofft, daß meine Tochter jetzt in Dr. Arnim den richtigen Partner gefunden hat.«

Es wurde noch mehr zwischen ihnen erörtert, während dieser Dr. Arnim, von dem die Rede gewesen war, sich mit den gleichen Problemen befaßte, die auch Annedore Diehl beschäftigten.

Er stand vor Sandras Schreibtisch. »Sollten wir uns nicht in aller Ruhe unterhalten, Sandra?« fragte er. »Warum willst du die Flucht ergreifen?«

»Ich ergreife nicht die Flucht«, widersprach sie heftig. »Es sind Ferien. Ich werde mit Nico wegfahren. Es ist sowieso Sauregurkenzeit. Du wirst ja wohl allein zurechtkommen.«

Es ging ihm nahe, daß sie so aggressiv war, aber er ließ es sich nicht anmerken. »Wohin wollt ihr fahren?« fragte er.

»Irgendwohin, ich weiß es noch nicht.«

»Fährt deine Mutter mit?«

»Nein, ich habe ihr geraten, eine Kur auf der Insel der Hoffnung zu machen. Sie ist heute bei Dr. Norden und wird das mit ihm besprechen. Ich will nicht, daß Nico hin und her gezogen wird.«

Oder sie will Ulrich nicht treffen, dachte Holger Arnim. Sie scheint doch noch an ihm zu hängen. Und das schmerzte ihn noch mehr als ihre Aggressivität.

»Du wirst ihm nicht immer ausweichen können«, sagte er ruhig.

»Ich will ihm nicht ausweichen. Ich möchte Nico in aller Ruhe erklären, warum es zu der Trennung kam, damit er sich nicht von Ulrich beeinflussen läßt, wenn diese Treffen nicht zu vermeiden sind. Ich muß ihn jetzt vom Kindergarten abholen, Holger. Entschuldige, bitte.«

Sie war aufgesprungen, nickte ihm zu und verschwand.

Holger ging an seinen Schreibtisch und ließ sich dort mit einem schweren Seufzer nieder.

Er wußte, wie es zu dieser Ehe zwischen Ulrich Harrer und Sandra gekommen war, und er wußte auch, warum es dann zur Scheidung kam.

Er rief sich alles noch einmal in die Erinnerung zurück.

Sandra war gerade zwanzig Jahre und studierte im dritten Semester Jura, als sie Ulrich Harrer, den Juniorchef einer Elektrofirma, kennenlernte. Der gutaussehende junge Mann aus bester Familie konnte sich des Wohlwollens von Sandras Vater erfreuen. Dr. Diehl hatte nichts gegen die baldige Heirat einzuwenden, da Sandra dennoch ihr Studium beenden wollte. Aber schon bald machte sich seine Krankheit bemerkbar. Holger Arnim trat als Sozius in die Kanzlei ein, da Dr. Diehl diese nicht mehr allein weiterführen konnte. Und Sandra brachte Nicolas zur Welt.

Er bekam diesen Namen, weil er am Nikolaustag geboren wurde. Dr. Diehl konnte sich über die Geburt seines Enkels noch freuen, aber schon bald verschlechterte sich sein Zustand zusehends. Zwei Operationen brachten ihm auch keine Genesung mehr, und er erfuhr auch nicht mehr, daß es schon bald nach der Geburt des Kindes in Sandras Ehe zu kriseln begann.

Ulrich fühlte sich vernachlässigt, weil Sandra sich angeblich dem Kind und auch dem kranken Vater zuviel widmete. Und ganz schlimm wurde es, als Dr. Diehl gestorben war und San-dra oft bei ihrer Mutter weilte.

Für Ulrich waren das gute Ausflüchte, um seinen eigenen Lebenswandel zu vertuschen. Er beschloß, die Niederlassung der väterlichen Firma in Norddeutschland zu übernehmen. Er wußte genau, daß Sandra ihm dorthin nicht folgen würde, nicht so kurz nach ihres Vaters Tod, und sie hatte auch beschlossen, ihr Studium wieder aufzunehmen, da ihre Mutter ja das Kind beaufsichtigen konnte.

Ulrichs Vater war in zweiter Ehe mit einer jungen Frau verheiratet. Sie zeigten kein Interesse an dem Kind, und Werner Harrer ließ seinem Sohn alle Freiheiten, damit der ihm nicht in seine Ehe hineinredete.

Es war dann tatsächlich Annedore gewesen, die ihrer Tochter zuredete, nicht auf sie so viel Rücksicht zu nehmen und doch zu ihrem Mann zu gehen. Sandra entschloß sich, Ulrich zu besuchen, bereit, sich mit ihm zu einigen. Und da fand sie in seiner Wohnung ein junges Mädchen vor, eine neunzehnjährige bildhübsche Schauspielschülerin, die ihr sehr selbstbewußt erklärte, daß es für sie jetzt wohl zu spät sei.

Die Folge war die Scheidung. Eine konventionelle Scheidung ohne alle sonstigen Schwierigkeiten.

Ob sie die Scheidung wirklich gewollt hat? fragte sich Holger jetzt. Ihn beschäftigte gerade ein ähnlicher Fall, und die Klientin erwartete er nun.

Seine Sekretärin rief durch. »Frau Mosch möchte Sie sprechen, Herr Doktor«, sagte sie.

»Ja, sie ist doch angemeldet«, erwiderte er.

»Aber es ist die Mutter«, erwiderte seine Sekretärin mit einem vielsagenden Unterton.

»Na dann«, brummte er.

Helma Mosch war etwa im gleichen Alter wie Annedore Diehl, aber von ganz anderem Wesen, und diesmal handelte es sich um die Mutter des Mannes.

Sie hatte mit Annedore nur gemein, daß sie auch früh verwitwet war. Sie war gut versorgt zurückgeblieben und trug ihren Wohlstand auch zur Schau.

»Meine Schwiegertochter ist erkrankt«, erklärte sie. »So habe ich die Gelegenheit wahrgenommen, mit Ihnen zu sprechen, Herr Doktor. Weil ich es für richtig halte, daß Sie auch meine Meinung zu dieser mißlichen Angelegenheit hören.«

Ihre Stimme war hell und hatte einen klagenden, weinerlichen Unterton. Sie war eine recht flotte Frau, zu der solcher Ton eigentlich nicht paßte. Sie war blond und hatte helle kühle Augen. Der schmallippige Mund verriet, daß sie gewohnt war, ihren Willen durchzusetzen. Solches hatte Dr. Arnim schon von Annette Mosch gehört. Jetzt wußte er, daß die junge Frau Mosch nicht übertrieben hatte.

»Ich würde gerne erst mal wissen, was Annette Ihnen so alles erzählt hat«, begann Helma Mosch.

»Ich bin nicht berechtigt, darüber zu sprechen«, erwiderte er zurückhaltend.

»Ich kann es mir vorstellen. Natürlich bin ich an allem schuld, sie ist ja ein Engel. Aber das lasse ich nicht auf mir sitzen.«

»Darf ich Sie darauf aufmerksam machen, daß ich Frau Annette Mosch vertrete«, warf Dr. Arnim ein. »Wenn Sie sich gegen etwaige ungerechte Vorwürfe zur Wehr setzen wollen, sollten Sie sich selbst einen Anwalt suchen.«

Sie starrte ihn an. »Ich will nur widerlegen, was Annette veranlaßt, die Scheidung einzureichen. Das ist doch mein gutes Recht. Man darf so was doch nicht einseitig sehen, Herr Doktor.«

»Aber ich kann wiederum nur erwidern, daß Frau Annette Mosch meine Klientin ist.«

Doch so schnell sollte er Helma Mosch nicht loswerden.

Inzwischen hatte Dr. Norden seine Unterhaltung mit Annedore Diehl beendet, da er dringend zu einem Hausbesuch gerufen wurde, eben zu jener Annette Mosch.

»Auch so ein Fall von zerrütteter Ehe«, sagte er zu Annedore, ohne den Namen Mosch zu erwähnen. »Da besteht allerdings ernster Anlaß zur Besorgnis. Sie verstehen, daß ich mich verabschieden muß.«

»Selbstverständlich. Ich bedanke mich herzlich, daß Sie mir so viel Zeit gewidmet haben, Herr Dr. Norden.«

»Sie fahren jetzt erst mal zur Insel und erholen sich, Frau Diehl. Ihre Tochter ist erwachsen und wird schon die richtige Entscheidung treffen. Ich weiß, daß Sie es gut meinen, aber manchmal ist es gut, wenn man sich überhaupt nicht einmischt.«

Daß Frau Moschs Einmischung tatsächlich der Grund zu schwerwiegenden Komplikationen in einer an sich ganz normalen Ehe geführt hatte, wußte er sehr gut. Für diese Frau hatte er weit weniger Verständnis als für Frau Diehl.

Bei Annette Mosch lagen die Verhältnisse anders als bei Sandra Diehl. Sie hatte Haus und Vermögen in die Ehe eingebracht. Heiner Mosch hatte zwar eine gutbezahlte Stellung als Diplomingenieur, aber er hätte Annette niemals das bieten können, was sie von Haus aus gewohnt war.

Dies hatte Annette jedoch nie hervorgekehrt. Es war alles gutgegangen, bis sich Helma Mosch mehr und mehr bei ihnen eingenistet hatte. Zwar hatte sie eine eigene Wohnung, aber nach dem Tode ihres Mannes hatte sie viel Zeit, und sie klammerte sich nun doppelt an ihren Sohn.

»Mein Heiner«, war ihr zweites Wort, und die kleine sechsjährige Bettina wurde ihrer Ansicht nach völlig falsch erzogen.

Ja, noch etwas verband Annette und Sandra, ohne daß eine von der andern um deren Probleme wußte. Annettes Tochter Bettina besuchte den gleichen Kindergarten wie Nico.

Annette Mosch befand sich in einem Zustand völliger Verzweiflung, als Dr. Norden kam.

»Ich weiß nicht mehr weiter, Dr. Norden«, schluchzte sie. »Ich weiß wirklich nicht mehr, wie es weitergehen soll. Gestern kam es wieder zu einer Auseinandersetzung mit meiner Schwiegermutter. Mein Mann ist gerade auf einer Geschäftsreise.«

»Jetzt beruhigen Sie sich doch erst mal, Frau Mosch«, sagte Dr. Norden.

»Wie soll ich mich beruhigen? Ich wollte Bettina vom Kindergarten abholen, aber meine Schwiegermutter hatte sie schon geholt, und jetzt weiß ich nicht, wo sie mit dem Kind ist. Sie will mich restlos fertigmachen und nutzt die Gelegenheit, wo Heiner nicht da ist, um das Kind gegen mich aufzuhetzen. Sie will nicht, daß es zu einer Versöhnung zwischen uns kommt.«

Dr. Norden hatte Helma Mosch kennengelernt. Er wußte, daß die junge Frau nicht übertrieb, aber er wollte die Glut nicht noch mehr schüren.

»Ist denn auch Ihr Mann zu einer Versöhnung bereit?« fragte er.

»Ach, es ist alles so verfahren. Heiner nimmt immer wieder Rücksicht auf seine Mutter. Er bedauert sie, weil sie ihren Mann so früh verloren hat. Er war ja erst fünfzehn, als sein Vater starb und seine Mutter hält ihm stets vor, was sie alles für ihn getan hätte. In alles mischt sie sich ein, aber jetzt – mein Kind lasse ich mir nicht wegnehmen! Es war alles in Ordnung, bis sie hierherzog.« Sie zitterte am ganzen Körper. »Das Schlimmste aber ist, daß ich ein Kind erwarte, Herr Doktor. Jetzt ist es gewiß. Und wenn sie es erfährt, wenn wir zusammenbleiben, wird es immer so weitergehen. Sie meint es ja nur gut, das bekomme ich immer wieder zu hören, wenn Heiner dabei ist. Und dann, wenn wir allein sind, gibt es nur Sticheleien. Ich habe sie mehrmals aufgefordert, nicht mehr zu kommen, aber dann heißt es nur, daß ich es immer wieder herauskehre, daß es mein Haus sei und daß Heiner sich dadurch gedemütigt fühlt.«

»Und was sagt Ihr Mann?«

»Er glaubt mir nicht, nein, er glaubt es mir nicht, er denkt, daß ich übertreibe. Ich will das Kind nicht, Dr. Norden, ich halte nicht mehr durch.«

»Denken Sie nicht daran, daß gerade das Kind Ihre Ehe retten könnte?«

Sie lachte blechern auf. »Sie würde Bettina doch nur einreden, daß ich nun nichts mehr für sie übrig hätte.«

»Soll ich mit Ihrem Mann sprechen, Frau Mosch?« fragte Dr. Norden.

»Würden Sie das tun?« fragte Annette leise. »Vielleicht hört er auf Sie. Sie können ihm doch sagen, daß seine Mutter ganz gesund ist, daß sie keinen Grund zum Jammern hat, daß sie nur simuliert, um ihn weichzustimmen.«

»Sie ist in den Wechseljahren, da sind viele Frauen unberechenbar, Frau Mosch. Ich weiß, daß es kein Trost für Sie sein kann, aber das sind Vorgänge, die auch einem Arzt Rätsel aufgeben. Sie haben sich jetzt aufgeregt, weil Ihre Schwiegermutter Bettina aus dem Kindergarten geholt hat. Sie kann Ihnen das Kind nicht vorenthalten.«

»Sie wird Bettina wieder etwas kaufen, was ich abgelehnt habe. Vielleicht ein Fahrrad. Oh, sie weiß, wie sie es anfangen muß. Und Sie wissen doch, wie zart Bettina ist.«

Ja, das war ein schwieriger Fall, und Dr. Norden wußte nicht, wie er Annette jetzt beruhigen sollte, da man bei einer Schwangerschaft auch sehr vorsichtig mit Beruhigungsmitteln sein mußte. Vielleicht sah auch Annette in ihrem Zustand alles noch düsterer. Doch bald sollte Dr. Norden erfahren, wie begründet alle Ängste dieser jungen Frau waren.

*

Bettina hatte durchaus nichts dagegen gehabt, daß die Oma sie abgeholt hatte. Sie wußte schon, daß sie nun wieder etwas bekommen würde. In ihrem kindlichen Unverstand konnte sie nicht begreifen, daß dies alles, was sie heimlich bekam, eine wahrhaft hinterhältige Bestechung war.

Helma Mosch hatte genau gewußt, daß Annette durchdrehen würde, wenn sie im Kindergarten erfuhr, daß Bettina bereits von der Großmutter abgeholt worden war, und sie hatte auch gewußt, daß sie dann den Termin bei Dr. Arnim nicht wahrnehmen würde.

»Die Mami fühlt sich nicht wohl«, hatte sie zu dem Kind gesagt. »Ich muß jetzt nur etwas erledigen, dann gehen wir essen, und dann kaufen wir ein Fahrrad für dich. Das wünschst du dir doch.«

Bettina strahlte. »O fein, Oma«, rief sie aus, »du bist lieb!«

So was hörte Helma Mosch gern. »Von der Mami bekommst du ja doch keins«, fügte sie hinzu.

»Mami hat immer bloß Angst, daß ich mir weh tue«, sagte Bettina. »Aber sie wird böse sein, wenn du mir ein Fahrrad schenkst.«

»Ach weißt du, das lassen wir bei mir, und dann besuchst du mich eben öfter«, sagte Helma Mosch.

Bettina machte sich darüber noch keine Gedanken. »Der Papi wird es schon erlauben«, sagte sie zuversichtlich.

»Aber sicher. Er hat doch als Kind auch ein Rad gehabt.«

In der Vorfreude auf das Fahrrad blieb Bettina brav im Auto sitzen, während Helma Mosch Dr. Arnim aufsuchte. In gereizter Stimmung kam sie dann zurück, und sie hatte plötzlich keine Lust mehr, mit dem Kind essen zu gehen. Das war Bettina auch nicht so wichtig.

»Aber das Fahrrad kaufst du mir schon, gell, Oma?« fragte sie.

»Ja, das kaufe ich dir.«

Und es wurde gekauft. »Aber du sagst der Mami noch nichts davon, erst wenn Papi zurück ist«, mahnte Helma. »Und du sagst auch nichts, wo ich vorher gewesen bin.«

Manches kam Bettina doch ein bißchen merkwürdig vor. »Warum kannst du Mami eigentlich nicht leiden?« fragte sie.

»Frag doch mal deine Mutter, warum sie mich nicht leiden kann«, entfuhr es Helma.

Der Ton mochte wohl zu giftig gewesen sein, oder es war ihr Blick, daß Bettina so erschrak.

»Schau, dein Papi ist mein Kind«, fuhr Helma rasch fort, als das Kind sie vorwurfsvoll anblickte. »Und eine Mutter liebt ihr Kind, das bleibt immer so, auch wenn Kinder erwachsen sind.«

»Und ich bin Mamis Kind, und sie hat mich auch sehr lieb«, sagte Bettina. »Und das bleibt auch immer so. Und Mamis Mutter ist leider im Himmel. Ich möchte jetzt nach Hause.«

»Jetzt habe ich das Fahrrad gekauft, und nun wirst du ungezogen«, sagte Helma gereizt.

»Ich bin nicht ungezogen. Ich möchte zu Mami. Das Fahrrad bleibt ja sowieso bei dir.«

»Und du darfst nur damit fahren, wenn du lieb bist.«

»Ich kann ja noch gar nicht fahren«, sagte Bettina trotzig. »Muß es erst lernen.«

Helma war jetzt auf der Hut. Sie wollte das Kind nicht gegen sich aufbringen, gerade jetzt nicht, da Annette soweit war, sich scheiden zu lassen. Von Zugewinngemeinschaft hatte der Anwalt gesprochen. Daß geteilt werden müsse, was während der Ehe erworben worden war. Selbstverständlich bezog Helma Mosch den Wert des Hauses da mit ein, und sie hatte sich schon längst erkundigt, was das wohl wert sein mochte. Schlecht würde Heiner keinesfalls bei einer Scheidung abschneiden.

Skrupel kannte sie nicht. Sie fuhr Bettina nach Hause. Annette erschien in der Tür. Ihr Blick war eisig.

»Oma hatte mich abgeholt«, sagte Bettina kleinlaut.

»Und ich war vergeblich da«, sagte Annette.

»Oma hat gesagt, daß du krank bist.«

»Das möchte sie wohl gern«, sagte Annette aufgebracht. »Zumindest möchte ich gefragt werden, wenn du das Kind holst«, wandte sie sich an die Ältere.

»Du mußt alles dramatisieren«, sagte Helma spitz.

»Du treibst alles auf die Spitze«, konterte Annette. »Aber du kannst es dir hier bequem machen. Ich werde mit Bettina verreisen.«

»Das kannst du nicht, Heiner kommt bald zurück«, widersprach Helma.

»Ich kann zu meinem Vater fahren, wann ich will«, sagte Annette. »Er hat das gleiche Recht, das Kind zu sehen wie du, wenn du darauf hinaus willst. Er würde sich nur niemals in meine Ehe einmischen. Ich brauche Tapetenwechsel, und Bettina wird die Gebirgsluft auch guttun.«

»O ja, ich freue mich«, rief das Kind. »Ich fahre sehr gern zu Opi.«

Nun stand Helma da. Nicht einmal mit dem Rad konnte sie das Kind locken. Wortlos, einen haßerfüllten Blick auf Annette werfend, verließ sie das Haus.

Bettina war so aufgeregt und voller Vorfreude, daß sie sich keine anderen Gedanken machte.

Schnell hatte Annette einen Koffer gepackt. So schnell, wie sie den Plan gefaßt hatte, wurde er auch ausgeführt. Schon eine Stunde später fuhr sie mit Bettina geradewegs den Bergen zu.

*

Bei den Diehls herrschte zwar auch nicht gerade eine fröhliche Stimmung, aber doch ein ganz anderer Ton. Als Sandra mit Nico heimkam, hatte Annedore schon das Mittagessen zubereitet.

»Wir haben schnell noch ein paar Einkäufe gemacht, Mutsch«, sagte Sandra.

»Für den Urlaub«, fügte Nico hinzu. »Fahr doch mit uns mit, Ömchen.«

»Fahr du ruhig mal allein mit der Mami«, erwiderte Annedore. »Ich bin ja sonst viel öfter mit dir beisammen.«

»Und jetzt mußt du dich mal von mir erholen«, sagte Nico spitzbübisch. »Frau Mandi sagt auch, daß ich ganz schön anstrengend bin.«

Frau Mandi war die Kindergärtnerin, die allerdings einige Sträuße mit Nico ausfechten mußte, weil er eben schon weiter war als die andern und dauernd Fragen stellte. Aber ihm allein konnte sie sich ja nicht widmen.

»Gar so anstrengend bist du auch nicht, Nico«, sagte Annedore weich, »aber die weite Fahrerei ist mir zu beschwerlich und Mami möchte etwas von der Welt sehen.«

Nico betrachtete sie gedankenvoll. »Bettina hat nicht so eine liebe Omi«, sagte er. »Ich mag sie nicht. Sie hat einen bösen Blick.«

»Wie kommst du denn darauf?« fragte Sandra bestürzt. »Du kennst sie doch gar nicht.«

»Freilich kenne ich sie. Sie hat Bettina heute abgeholt und neulich auch schon mal. Und sie hat zu Frau Mandi gesagt, daß die Kinder nichts Gescheites lernen im Kindergarten. Was sind Proleten, Mami?«

»Hat sie dieses Wort gebraucht?« fragte Sandra empört.

»Klar, ich hab’s vorher doch noch nie gehört.«

»Das ist so eine Bezeichnung für Menschen, die nicht viel besitzen«, erklärte Sandra, »aber manche gebrauchen es beleidigend. Ganz verstehst du das noch nicht, Nico.«

»Klar verstehe ich es, wenn du es mir erklärst. Ein Auto besitzen aber alle Eltern von den Kindern. Arm ist da keiner.«

Manchmal gab sich selbst Sandra geschlagen, wenn Nico solche Argumente vorbrachte. Und sie wußte, daß die Diskussion endlos werden konnte, wenn sie keine Bremse einlegte.

»Wir haben mit Bettinas Oma nichts zu schaffen«, erklärte sie deshalb.

»Aber Bettina. Stell dir vor, dann ist ihre Mami gekommen, und sie war ganz aufgeregt, weil die Oma Bettina schon geholt hatte. Meine Omi würde so was nicht tun, ohne es dir zu sagen.«

»Nicht alle Großmütter sind gleich«, sagte Sandra. Und Annedore bekam einen liebevollen Blick geschenkt.

Nico beschloß nach dem Essen, die Sachen zusammenzusuchen, die er mit auf die Reise nehmen wollte. Annedore und Sandra tranken noch ihren Mokka.

»Hast du eigentlich je das Gefühl, daß ich dich in irgendeiner Weise beeinflußt habe, Sandra?« fragte Annedore zögernd.

»Aber nein, Mutsch, du weißt doch, was ich für einen Dickkopf habe. Meine Fehler habe ich nur mir allein zu verdanken. Und ich möchte sie auch allein ausbaden. Es gefällt mir gar nicht, wenn du dir meinen Kopf zerbrichst. Du nimmst dir alles viel zu sehr zu Herzen.«

»Bei dir bleibt es auch nicht in den Kleidern hängen«, sagte Annedore.

»Denk aber bloß nicht, daß ich Angst hätte, Ulrich zu treffen. Ich will nur Zeit haben, mit Nico zu sprechen. Er hat ja keine Erinnerung mehr an ihn und könnte in eine Konfliktsituation geraten, wenn Ulrich auftaucht. Du weißt doch, wie liebenswürdig er alle Register ziehen kann.«

»Und wenn er dich wieder umwirbt?«

Sandra sah ihre Mutter fassungslos an, dann lachte sie auf. »Das glaubst du doch nicht? Meinst du, ich handele mir nochmals so ein Fiasko ein? Einen Fehler macht man doch nicht zweimal. Für mich ist das erledigt, restlos erledigt, Mutsch.«

Ein wenig wohler wurde es Annedore nun doch. Allerdings hegte sie doch einige Besorgnis, was Nico betraf. Kinder waren bestechlich, das wußte sie nur zu gut. Sie hatte sich zwar niemals so verhalten wie Frau Mosch, aber sie kannte Großeltern, bei denen Enkel all das erreichten, was ihnen die Eltern versagten, sei es aus Liebe, sei es aus Bequemlichkeit oder aber auch, um eine bedeutende Rolle im Leben dieser Kinder zu spielen. Und so manche Eltern erwarteten sogar Großzügigkeit, Güte und Geduld.

»Du hast ja gerade erlebt, wie scharf Nico beobachtet«, sagte Sandra. »Er kann jetzt schon unterscheiden, wer es wirklich gut meint oder ein falsches Spiel treibt.«

Damit war für sie augenblicklich die Unterhaltung beendet. Ihr war eingefallen, daß Holger von Annette Mosch gesprochen hatte, und jetzt wurde es ihr bewußt, daß es sich um Bettinas Mutter handelte. Flüchtig waren sie sich schon ein paarmal begegnet, hatten einander freundlich gegrüßt, auch mal ein paar Worte gewechselt, doch das war alles, und Sandra wußte sonst nichts über die Frau.

Und Holger Arnim wunderte sich nun, daß Sandra sich nach ihr erkundigte.

Sandra erklärte es ihm kurz, was Nico gesagt hatte. »Und recht hat der Junge«, erwiderte er. »Diese Frau ist eine Schlange, eine Intrigantin ersten Ranges. Sei nur froh, daß du nicht eine solche Schwiegermutter hast, Sandra. Solche Frauen können auch die glücklichste Ehe kaputt machen.«

»Annette Mosch will sich tatsächlich scheiden lassen?«

»So deutlich hat sie es nicht gesagt. Aber die Mutter scheint sehr an einer Scheidung interessiert zu sein. Sie denkt wohl, daß für ihren Sohn dabei allerlei herausspringt. Annette Mosch ist recht vermögend, und sie haben keine Gütertrennung bei der Eheschließung vereinbart.«

»Und woran ist der Mann interessiert?«

»Das weiß ich noch nicht, aber ich könnte mir vorstellen, daß er gewaltig unter der Fuchtel seiner Mutter steht. Die junge Frau scheint jedoch trotz allem sehr an ihrem Mann zu hängen.«

»Es scheint manchmal wirklich nur so, Holger. Paß in diesem Fall bitte besonders auf, daß sie nicht nur wegen des Kindes Zugeständnisse macht. Es gibt doch wohl keinen Grund, daß man ihr das Sorgerecht nehmen könnte.«

»Von der Schwiegermutter wird sie als labil und hysterisch geschildert, aber das trifft eher auf die Ältere zu. Wie fühlst du dich, Sandra?«

»Bestens. Morgen starten wir. Mutti fährt am Montag zur Insel der Hoffnung.«

»Könnte sie nicht am Sonntag fahren? Dann würde ich sie hinbringen.«

»Das wäre natürlich nett, aber du kannst es mit ihr verabreden. Ihr versteht euch ja gut.« Ein leiser, spöttischer Unterton klang da mit, aber den hörte Holger nicht.

»Ich wünsche dir und Nico eine schöne Zeit«, sagte er. »Schreibt mal eine Ansichtskarte.«

Irgendwie fühlte Sandra sich nun doch veranlaßt, ihm noch ein paar nette Worte zu sagen.

»Ich kann ja beruhigt sein. Bei dir weiß ich alles in den besten Händen. Du bist ein wirklicher Freund.«

»Du kannst dich jederzeit auf mich verlassen, Sandra.«

»Auch wenn ich im Unrecht bin?«

»Dann hast du ja einen Anwalt, der alles zurechtbiegt«, scherzte er, obgleich ihm zum Scherzen wirklich nicht zumute war.

»Auf Wiedersehen, Holger«, sagte sie leise.

Da schrie Nico von der Tür her: »Will Holger auch Wiedersehen sagen.«

Und das konnte Sandra ihm nicht versagen. Nico tat es ausgiebig und mit bedauernden Worten, daß der ar-me Holger arbeiten müsse. »Vielleicht kannst du uns mal besuchen«, beschloß er das Gespräch. »Das wäre fein.

Er ist wirklich sehr lieb, Mami«, sagte Nico. »Warum ist er eigentlich nicht mein Vater, wenn ihr schon zusammen arbeitet?«

»Ich kannte ihn noch nicht, als du geboren wurdest, Nico«, erwiderte Sandra mit erzwungener Ruhe. »Und über deinen Vater werden wir im Urlaub reden.«

»Aber ich will nicht über ihn reden. Ich kenne ihn nicht, und ich brauche ihn nicht«, erwiderte Nico aggressiv. »Ich habe dich und Ömchen und Holger. Das langt.«

Das war deutlich, aber Sandra konnte sich nur mit gemischten Gefühlen darüber freuen. Jetzt dachte er so, aber wie würde er sein, wenn Ulrich kam und sich von seiner besten Seite zeigte.

Sie atmete erst richtig auf, als sie am nächsten Morgen mit Nico die Stadt verlassen hatte. Der Abschied von ihrer Mutter war ihr schon recht schwer gefallen, aber einmal mußte auch das sein? damit sie sich über sich selbst ganz klarwerden konnte. Nico gab sich vorerst auch trüben Gedanken wegen seines Ömchens hin.

»Sie wird es doch gut haben auf der Insel, Mami?« fragte er. »Sie werden doch dort wirklich nett zu ihr sein?«

»Aber ganz bestimmt, Nico.«

»Aber gell, sie ist nicht krank?«

»Nein, sie braucht nur mal Ruhe.«

»Jetzt gehe ich bald zur Schule, dann muß ich auch sehr viel lernen und hänge ihr nicht immer am Rockzipfel.«

Das war wieder ein neuer Ausdruck, den sie aus seinem Munde hörte, und sie fragte ihn, woher er diesen hätte.

»Frau Mandi hat es zu Frau Dorle gesagt«, erwiderte er. »Daß Bettinas Papa seiner Mutter am Rockzipfel hängt. Das habe ich gehört. Und sie hat gesagt, daß sie sich für solchen Mann schönstens bedanken würde. Lieber ärgert sie sich mit fremden Kindern herum.«

»Muß sich Frau Mandi sehr über euch ärgern?« fragte Sandra.

»Na, ja, manche Kinder sind viel frecher als ich. Die fragen nicht so viel wie ich, aber sie machen mehr Blödsinn. Frau Mandi mag ich auch ganz gern, Mami. Sie sagt ja auch, daß sie viel lieber mit mir reden würde, als mit den andern Kindern schimpfen. Aber mit Bettina braucht sie auch nicht zu schimpfen. Wer sind denn nun eigentlich Proleten?«

»Ich finde es von Bettinas Großmutter ungehörig, so etwas zu sagen.«

»Das hat Frau Mandi ihr aber auch gesagt. Jetzt fällt es mir wieder ein«, sagte Nico eifrig. »Bettina kommt mit mir in die Schule, das freut mich schon. Wer weiß, was uns da blüht«, fügte er hinzu.

»Vor allem mußt du zeitig ins Bett gehen und früh aufstehen, Nico.«

»Ich stehe gerne früh auf, aber wenn du spät nach Hause kommst, möchte ich auch noch mit dir reden. Wenn man schon keinen Vater hat, möchte man seine Mami haben. Aber besser kein Vater, als einer, der am Rockzipfel hängt.«

Und da mußte Sandra doch lachen. »Das finde ich auch, Nico«, sagte sie.

»Hat der Vater, den ich mal hatte, auch am Rockzipfel gehangen?« fragte er nach einer kurzen Atempause. Das Thema schien ihm irgendwie zu gefallen.

»Nein, das kann man nicht sagen.«

»An wem hat er denn gehangen, wenn er weggegangen ist von uns? Der Vater von Peter ist weggegangen, weil er eine andere Frau hatte. Aber Peters Mutter ist lange nicht so schön wie du. So eine schöne Mami wie ich hat keiner.«

»Ach weißt du, Nico, daran liegt es nicht. Wir haben dann einfach festgestellt, daß wir uns nicht verstehen.«

»Erst, als ich da war?«

»Nicht so direkt. Auch vorher hatten wir schon Meinungsverschiedenheiten.«

»Ich dachte vielleicht, weil ich viel geschrien habe.«

»Du hast nicht viel geschrien.«

»Peters Schwesterlein hat viel geschrien, und da hat der böse Vater es geschlagen. Deshalb ist die Mutti zornig geworden.«

»Unterhaltet ihr euch über so was?« fragte Sandra staunend.

»Na freilich«, erwiderte Nico. »Jetzt kriegen sie aber einen lieben Papa. Der bringt ihnen immer was mit.«

Und so ist es, dachte Sandra, wenn Kinder schöne Geschenke bekommen, werden sie zutraulich. Leicht war es ihr nicht ums Herz.

»Geschenke machen es nicht, Nico. Man muß Kinder richtig lieben.«

»Ich liebe dich, mein Ömchen und Holger«, sagte Nico. »Und ich wünsche mir zu Weihnachten keine Geschenke, bloß, daß Holger mein Papi wird, damit sie mich in der Schule nicht fragen, wer mein Vater ist und wie er heißt. Ich finde es nämlich dumm, daß du Diehl heißt und ich Harrer. Warum ist das so?«

»Siehst du, Sandra, das war auch ein Fehler, daß du deinen Mädchennamen angenommen hast, sagte sie im stillen zu sich selbst. Aber das war nun nicht mehr zu ändern. »Du heißt Har­rer-Diehl«, sagte sie. Und dann flüchtete sie sich in eine Notlüge. »Und ich nenne mich Diehl, weil mein Vater die Kanzlei gegründet hat. Da wissen die Leute gleich, mit wem sie es zu tun haben.«

Damit gab sich Nico tatsächlich zufrieden, aber bald folgte die nächste Frage: »Und wohin fahren wir jetzt, Mami?«

»Zuerst nach Wien. Da besuchen wir Tante Winnie, und dann fahren wir nach Kärnten.«

»Ich will aber nicht dauernd wen besuchen«, sagte Nico unwillig.

»In Kärnten machen wir Urlaub.«

»Ist es da schön?«

»Ja, sehr schön.«

»Ist da das Meer?«

»Nein, nur Seen.«

»Das Meer ist mir auch zu groß. Ich mag lieber Berge.«

Das wiederum hatte er mit Bettina gemeinsam, die überglücklich war, als sie von ihrem völlig überraschten Opa empfangen wurden. Allerdings bereiteten sie ihm eine frohe Überraschung. Nur schien er wirklich sehr erstaunt zu sein, daß sie ohne Heiner kamen.

»Nichts fragen, Paps«, raunte ihm Annette ins Ohr, »alles später.«

Bettina beschäftigte sich schon mit Terry, der Hundedame, die schwerfällig herumtrabte.

»Warum ist sie so dick geworden, Opi?« fragte Bettina.

»Sie wird bald Junge bekommen, Mäuschen«, erwiderte er.

»Kleine Hundchen?« staunte Bettina. »Kann ich sie angucken?«

»Jetzt trägt Terry sie doch noch in ihrem Bauch spazieren«, erwiderte Albert Breiter lachend. Ja, hier wurde gelacht, und Annettes Gesicht entspannte sich.

»Na, was ist denn los?« fragte ihr Vater, als Bettina sogleich den Obstgarten inspizierte.

»Allerhand, Paps. Ich habe meine Schwiegermutter nicht mehr ertragen. Es kommt noch soweit, daß ich mich von Heiner trenne.«

»Immer langsam mit den jungen Pferden«, meinte ihr Vater nachsichtig. »Laß erst mal Dampf ab, Annette. Das kannst du hier.«

Er legte seinen Arm um sie. »Ich ergreife keine Partei, abgesehen davon, daß ich Helma nicht riechen kann.«

»Sie unterjocht Heiner immer noch, mehr denn je, Paps.«

»Sie hat ihren Mann zu früh verloren. Wir müssen ihr einen andern suchen«, meinte er schmunzelnd.

»Der würde mir sehr leid tun«, seufzte Annette.

»Nur kein falsches Mitleid. Dann seid ihr sie wenigstens los. Ich kenne solche Frauen. Sie werden mit dem Witwendasein nicht fertig. Sie haben zuviel Zeit. Frauen, die einen Beruf haben, sind da ganz anders. Aber lassen wir mal alles an uns herankommen. Es ist gut, daß du gekommen bist. Wir werden ja sehen, wie Heiner reagiert.«

*

Sandra und Nico waren in Wien angekommen, und sie wurden von Winnie Schwalbe bereits sehnlichst erwartet. Ein kurzer Anruf von Sandra bei der Schulfreundin hatte genügt, um diese in stürmische Wiedersehensfreude zu versetzen.

Sandra wurde abgebusselt und Nico bekam zu hören, wie groß er geworden sei.

»Ich komme ja auch bald zur Schule«, erklärte er stolz.

Winnie, die ebenso emanzipierte, wie tüchtige und charmante Innenarchitektin, hatte sich eine reizende Atelierwohnung eingerichtet, die auch ihren Hang zur Romantik verriet. Sie war eine aparte Blondine, die nach einigen trüben Erfahrungen entschlossen war, Junggesellin zu bleiben. Dazu beigetragen hatte auch Sandras Schiffbruch im Eheleben.

Davon wurde aber nicht geredet. »Ich bin ganz happy, daß ihr mich besucht«, freute sich Winnie.

»Stell dir vor, München ist von Wien genauso weit entfernt, wie Wien von München«, scherzte Sandra. »Du könntest auch mal kommen.«

»Ich habe so irrsinnig viel zu tun«, erklärte Winnie, »aber es hat sich so ergeben, daß ich in Kärnten ein Haus für so einen reichen Knilch einrichten soll, und das habe ich vorgezogen, um euch öfter sehen zu können«, fügte sie verschmitzt hinzu.

»Das ist aber ein toller Zufall«, sagte Sandra erfreut.

»Ich hatte eigentlich erst für nächsten Monat zugesagt, aber ein paar Anrufe haben genügt, um die Termine umzustellen. Ein paar Tage habe ich hier allerdings noch zu tun.«

»Wir fahren gleich weiter«, sagte Sandra.

»Kommt nicht in Frage. Bis morgen bleibt ihr. Es ist ein ganz schöner Schlauch bis Villach. Nico hat schon ganz müde Äuglein.«

»Hunger hab’ ich«, erklärte der Junge. »Richtige Wiener Schnitzel möcht’ ich essen.«

»Sofort«, erwiderte Winnie lachend. »Alles ist schon vorbereitet.«

»Hast du gewußt, daß ich Schnitzel essen möchte?« fragte Nico.

Winnie zwinkerte ihm zu. »Bist doch mein Patenkind, und ich esse Schnitzel auch am liebsten.«

Nico wurde zufriedengestellt und fand sich auch bereit, früh zu Bett zu gehen. Die Freundinnen setzten sich noch mit einer Karaffe Wein auf die Dachterrasse.

»Du hast dich rasch entschlossen zu diesem Urlaub, Sandra«, sagte Winnie nachdenklich, »das hat doch einen triftigen Grund.«

»Ulrich ist wieder in München, und er hat mir telefonisch angekündigt, daß er Nico sehen will.«

»Das fällt ihm jetzt ein«, murmelte Winnie unwillig. »Aber es wird sich wohl nicht vermeiden lassen.«

»Ich werde Nico so einiges sagen, bevor er unter Ulrichs Einfluß gerät. Kinder sind bestechlich.«

Winnie runzelte die Stirn. »Ich möchte nur wissen, was er bezweckt«, sagte sie nachdenklich. »Es ist doch nicht plötzlich erwachte Vaterliebe. Vielleicht will er sich jetzt mit der prominenten Anwältin schmücken.«

Sandra machte eine abwehrende Bewegung. »So prominent bin ich nicht, und außerdem käme eine Versöhnung überhaupt nicht in Frage für mich.«

»Er hat sich immer unwiderstehlich gefunden«, sagte Winnie. »Inzwischen mag er eingesehen haben, was er sich verscherzt hat. Oder er ist geschäftlich baden gegangen.«

Sandras Augen weiteten sich. »Daran habe ich noch nicht gedacht.«

»Es war auch nur so eine Idee«, sagte Winnie. »Nun, jedenfalls gehört Nico dir und selbst wenn er darauf besteht, ihn einmal im Monat zu sehen, brauchst du nicht gleich das Flattern zu bekommen. Nico ist ein ganz schlaues Bürschchen.«

»Zugegeben, aber ich weiß nur zu gut, welchen Konflikten Kinder aus geschiedenen Ehen ausgesetzt sein können.«

»Du hättest wieder heiraten sollen, Sandra. Anscheinend verstehst du dich doch sehr gut mit Holger Arnim. Dann hätte Nico einen Vater.«

»In eine Adoption würde Ulrich niemals einwilligen«, sagte Sandra resigniert. »Und ausgerechnet du solltest mir auch keine zweite Ehe anraten.«

»Ich habe kein Talent zur Ehefrau«, sagte Winnie. »Es würde dauernd Krach geben. Frauen wie mich akzeptiert man vielleicht als guten Kumpel, aber vor einer Bindung schreckt jeder zurück, wenn ich meinen Standpunkt klarlege.« Sie lächelte spöttisch. »Diese Erfahrung habe ich ja zweimal gemacht, und das langt.«

»Du bist eben noch nicht dem richtigen Mann begegnet, Winnie.«

»Wann weiß man das? Doch erst, wenn man unter einem Dach lebt, und selbst das habe ich schon erfolglos probiert. Ich habe keine Illusionen mehr.«

»Ich auch nicht«, sagte Sandra.

»Aber du hast ein Kind. Du weißt, wofür du lebst und arbeitest.«

Diese Worte ließen Sandra aufhorchen. »Ein Kind möchtest du also schon haben«, sagte sie nachdenk-

lich.

»Schön wäre es schon«, sagte Winnie leise. »Vielleicht adoptiere ich mal eines.«

Sandra wollte ihr jetzt nicht vorhalten, daß dies für eine alleinstehende Frau kein leichtes Unterfangen wäre. Mochte Winnie auch frei von Illusionen sein, Sehnsüchte trug sie doch in sich.

*

Dr. Norden erlebte am nächsten Tag die Überraschung, zu Helma Mosch gerufen zu werden. Folgte er diesem Ruf auch nur widerwillig, so konnte er sich doch nicht davor drücken.

Sie spielte die Schwerkranke, klagte über Herzbeschwerden, Schwindelanfälle und Depressionen. Und er bekam gleich zu hören, daß sie von ihrer Schwiegertochter rücksichtslos behandelt und im Stich gelassen worden sei.

»Da liegt man hilflos, und niemand kümmert sich um mich. Mein Sohn ist ja leider auf einer Geschäftsreise.«

»Es liegen keine Anzeichen für eine ernstzunehmende Erkrankung vor«, erklärte Dr. Norden ruhig. »Der Blutdruck ist normal. Wahrscheinlich haben Sie zu starken Kaffee getrunken, der das Herz etwas schneller schlagen läßt, Frau Mosch.«

»Der Kummer frißt mich auf, Herr Doktor«, klagte sie. »Es wäre alles gut, wenn meine Schwiegertochter mir das Leben nicht so schwer machen würde. Aber vielleicht dreht sie alles um, wenn sie mit Ihnen spricht.« Lauernd blickte sie den Arzt an.

»Sie sagt nichts dergleichen«, erwiderte Dr. Norden ausweichend.

»Sie ist weggefahren und hat Bettina mitgenommen. Jede Freude wird mir versagt. Wie harmonisch geht es in manchen anderen Familien zu.«

»Das ist nur bei gegenseitiger Toleranz möglich. In eine junge Ehe sollte sich niemand einmischen, wenn ich das sagen darf, Frau Mosch. Ich weiß, daß die Ehe Ihres Sohnes bisher auch sehr harmonisch verlief.«

»Ich kann doch nichts dafür, daß ich meinen Mann so früh verloren habe und so allein bin«, heulte sie los. »Ich habe doch niemanden als meinen Sohn, und wir hatten immer ein besonders gutes Verhältnis zueinander.«

»Sie sind aber noch nicht so alt, um sich nicht einen neuen Lebenskreis und Abwechslung zu verschaffen. Finanziell geht es Ihnen doch nicht schlecht. Machen Sie ab und zu eine Reise. Zeigen Sie doch den jungen Leuten, daß Sie gern unabhängig bleiben wollen. Sie haben eine hübsche Wohnung. Schließen Sie Bekanntschaften und laden mal nette Leute ein.«

»Ich kenne hier niemanden. Ich habe doch alle Verbindungen aufgeben, um in der Nähe meines Sohnes und meiner Enkeltochter zu sein.«

»Aber Ihre Schwiegertochter haben Sie darin nicht einbezogen, wie ich Ihren Worten entnehme.«

»Sie war immer dagegen, daß ich hierher ziehe«, stieß Helma Mosch hervor. »Es ist ihr ein Dorn im Auge, daß sie keine Mutter mehr hat und ich Bettinas einzige Großmutter bin. Das Kind hängt so sehr an mir, und Annette ist ja viel zu nervös, um sich mit der Kleinen zu beschäftigen. Ich hätte mein Kind doch nie in einen Kindergarten gegeben, wenn ich den ganzen Tag nichts zu tun habe. Da lernen sie doch nichts Gutes.«

»Sie lernen, sich in der Gesellschaft zu behaupten, bevor sie zur Schule kommen, sie lernen sich auch anzupassen und andere zu akzeptieren. Wir sind diesbezüglich ganz verschiedener Meinung, Frau Mosch. Gerade Einzelkinder brauchen Spielgefährten. Wenn Sie einen Rat annehmen wollen, so steigern Sie sich bitte nicht in ganz falsche Vorstellungen hinein. Schon gar nicht in imaginäre Krankheiten. Schauen Sie sich mal wirklich kranke Menschen an, und wie diese mit ihren Leiden fertig werden. Sie dürfen nicht von mir erwarten, daß ich Ihnen ein Leiden attestiere, das nicht vorhanden ist. Sie können jedoch gern andere Ärzte konsultieren.«

»Ich weiß jedenfalls, was mich erwartet, wenn ich pflegebedürftig werden sollte«, begehrte sie auf.

»Ich glaube nicht, daß Ihr Sohn dann den ganzen Tag Händchen halten kann. Er hat schließlich einen Beruf. Raffen Sie sich auf! Gehen Sie an die frische Luft, unternehmen Sie etwas! Ich muß jetzt Schwerkranke besuchen. Sollten Sie das Gefühl haben, daß meine Diagnose nicht zutrifft, würde ich Ihnen empfehlen, sich in klinische Behandlung zu begeben.«

Mit zusammengekniffenen Augen blickte sie ihm nach, doch kaum hatte er die Wohnung verlassen, stand sie auf und kleidete sich an. Wenn Heiner zurückkam, war es Zeit genug, wieder in die Rolle der Kranken zu schlüpfen. So meinte sie, doch diesmal sollte ihr ein Strich durch die Rechnung gemacht werden, denn als sie gegen sechs Uhr von ihrem ausgiebigen Stadtbummel zurückkam, stand Heiner vor der Tür.

Sie war so überrascht über sein vorzeitiges Kommen, daß sie nicht sogleich wieder ihre Trauermiene auf das Gesicht zaubern konnte.

»Du bist schon da?« stotterte sie.

»Wo ist Annette?« fragte er.

»Wie soll ich das wissen? Komm erst mal herein. Mir ging es nämlich gar nicht gut. Ich war beim Arzt.«

»Du siehst nicht krank aus, Mama«, sagte er. »Du warst beim Friseur, also kann es nicht schlimm gewesen sein.«

»Jetzt fängst du auch schon an, an mir herumzunörgeln. Ja, ich war beim Friseur, weil ich mich morgen in der Klinik anmelden will zu einer Durchuntersuchung.«

»Was läßt du dir jetzt wieder einfallen?« fragte er.

»Annette hat mich maßlos aufgeregt, Heiner«, flüsterte sie entsagungsvoll. »Sie hat die Scheidung eingereicht.«

Er starrte sie bestürzt an. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen.

»Das kann doch nicht wahr sein, Mama!« stöhnte er.

»Wenn ich es dir sage! Und dann hat sie Bettina genommen und ist mit ihr weggefahren.«

»Wohin?«

»Das hat sie mir natürlich nicht gesagt. Ich habe sie inständig gebeten, doch hierzubleiben und erst mit dir zu sprechen, aber du kennst sie ja, wenn ich etwas sage, wird sie gleich fuchsteufelswild.«

»Ja, ich kenne Annette«, sagte er tonlos und mit aller Selbstbeherrschung. »Du mußt mir alles genau erzählen, Mama.«

Sie bekam Oberwasser. »Jetzt hast du wirklich ernsthafte Gründe, dich von ihr zu trennen, Heiner«, sagte sie. »Sie hat dich böswillig verlassen.«

Was in ihm vorging, konnte sie nicht von seinem Gesicht ablesen. Worüber Heiner Mosch in der Zeit seiner Abwesenheit nachgedacht hatte, wußte sie auch nicht. Ebenso nicht, daß er mit einigen anderen Männern Gespräche geführt hatte, die ihn zum Nachdenken angeregt hatten. Und diesmal verhielt er sich ganz diplomatisch, weil er wußte, daß er von seiner Mutter nur die Wahrheit erfahren konnte, wenn er ihr Recht gab.

»Ich mache dir gleich mal was zu essen«, sagte sie. »Ich habe natürlich für dich immer etwas da.«

»Ich habe jetzt noch keinen Hunger, Mama. Hast du ein Bier?«

»Aber freilich, mein Junge«, erwiderte sie. »Ich wußte doch, daß du vor verschlossener Tür stehen würdest.«

Er starrte zu Boden. »Nun, dann werden wir mal reinen Tisch machen«, sagte er, und das stimmte sie noch zuversichtlicher. Und zum erstenmal bemerkte er das boshafte Blitzen in ihren Augen so richtig.

»Du hast anscheinend alles klarer gesehen als ich, Mama«, sagte er schleppend.

»Von Anfang an, aber nun wirst du ja endlich auf mich hören. Es kann ja so nicht mehr weitergehen. Nun

siehst du ja, daß Annette nicht das geringste Interesse an dir hat. Sie fährt einfach weg. Sie brauche Tapetenwechsel, hat sie gesagt.«

»Wann ist sie gefahren?«

»Gestern. Sie hat sich nicht wohl gefühlt, und da habe ich Bettina vom Kindergarten abgeholt, um ihr das abzunehmen. Und darüber hat sie sich dann wieder aufgeregt. Man weiß ja gar nicht, woran man bei ihr ist. Sie ist dann tatsächlich mit Bettina weggefahren. Das arme Kind, was wird es aushalten. Du kannst dir wohl nicht vorstellen, wie elend mir heute war. Ich habe Dr. Norden kommen lassen, aber er hat mir empfohlen, mich in klinische Behandlung zu begeben.«

Sie drehte alles so zurecht, wie sie es wollte. Das hatte sie schon immer verstanden, aber sie hatte Heiner tatsächlich wieder schwankend gemacht, da von Dr. Norden die Rede war.

»Mir ist dann durch den Kopf gegangen, was sie bei dem Anwalt gemacht haben könnte.«

»Hat sie davon gesprochen?« fragte Heiner.

»Natürlich nicht, aber als ich gestern mit Bettina dort beim Einkaufen war, sagte mir das Kind, daß Annette in dem Haus gewesen sei. Nun, so bin ich gestern noch zu ihm gegangen. Er war zwar sehr reserviert, aber einige Auskünfte hat er mir doch gegeben. Bei einer Scheidung müßte Annette nämlich alles mit dir teilen. Also würdest du nicht draufzahlen. Und dadurch, daß sie dich böswillig verlassen hat, werden wir auch Bettina bekommen.«

»Hat das der Anwalt auch gesagt?« fragte Heiner sarkastisch, was ihr aber nicht bewußt wurde.

»Nein, das denke ich mir. Du hast sie ja nicht verlassen. Du hast dir die erdenklichste Mühe gegeben, die Ehe harmonisch zu gestalten, und schließlich wollte ich Annette ja nur entlasten, damit sie mehr Zeit für dich hat. Es wird am besten sein, wenn du auch gleich zum Anwalt gehst, Heiner.«

»Ja, das werde ich tun«, erwiderte er.

»Das ist gut, mein Junge. Dir wird ja nichts abgehen, du hast ja deine Mutter.«

Und was für eine Mutter, dachte er. Sie denkt und handelt für mich, selbstherrlich und skrupellos. Jetzt war es ihm so richtig bewußt geworden. Nicht ein einziges Mal hatte sie gefragt, ob er noch etwas für Annette empfände.

Er fuhr zur nächsten Telefonzelle, suchte die Nummer von Dr. Arnim heraus und rief ihn an. Ob er ihn heute noch sprechen könne, es sei sehr dringend, sagte er.

In diesem Fall machte Dr. Arnim eine Ausnahme, obgleich er noch mehr Termine hatte. Er bestellte Heiner Mosch zu halb sieben Uhr.

So hatte Heiner jetzt noch Zeit, zu Dr. Norden zu fahren, der ja bis sechs Uhr Sprechstunde hielt. Da rief er nicht vorher an.

Die ganze Familie kommt angekleckert, dachte Loni nicht gerade erfreut, aber Heiner Moschs Gesicht verriet ihr, daß er sehr mitgenommen war.

Von Dr. Norden erfuhr Heiner einiges mehr, nur nicht, wohin Annette gefahren war.

»Ich wollte ohnehin mit Ihnen sprechen, Herr Mosch. Ihre Frau bedarf dringend der Schonung. Selbst auf die Gefahr hin, Ihren Widerspruch herauszufordern, muß ich Ihnen sagen, daß Ihre Mutter sich in einem Maße in die Belange Ihres Ehelebens einmischt, der für eine junge Frau, die ihr zweites Kind erwartet, unerträglich wird.«

»Annette erwartet ein Baby?« entfuhr es Heiner fassungslos. »Davon weiß ich nichts.«

»Sie hat die Bestätigung auch jetzt erst bekommen.«

»Aber wie kann sie dann auf Scheidung bestehen?«

»Ich glaube nicht, daß sie darauf besteht. Sie sieht darin, zumindest in einer räumlichen Trennung, wohl nur den einzigen Ausweg, sich den ständigen Nörgeleien und Sticheleien Ihrer Mutter zu entziehen.«

»Meine Mutter sagte mir, daß Sie ihr empfohlen hätten, sich in klinische Behandlung zu begeben.« Augenblicklich wußte Heiner wirklich nicht, was er glauben und denken sollte.

»Ja, das habe ich ihr empfohlen, damit ihr schwarz auf weiß bewiesen wird, daß sie simuliert und sonst kerngesund ist. Mein Eindruck ist wirklich, daß sie alles, was sie tut, mit kalter Berechnung tut. Sie zwingt Ihnen immer wieder ihren Willen auf.«

»Sie hat mir nach dem Tode meines Vaters leid getan und sich so sehr gewünscht, uns nahe zu sein«, sagte Heiner stockend.

»Um bei Ihnen das Regiment zu übernehmen, wie mir scheint. Entschuldigen Sie, daß ich das so unverblümt sage, aber leiden tut nur Ihre Frau. Sie wird systematisch zermürbt.«

»So habe ich das nie gesehen, aber ich werde mit Annette darüber sprechen und selbstverständlich auch mit meiner Mutter.«

»Ihre Mutter wird einen Ohnmachtsanfall bekommen und über Herzbeschwerden klagen«, sagte Dr. Norden, »aber ich versichere Ihnen, daß sie ein sehr gesundes Herz hat. Sie hat sich so in ihre Rolle hineingelebt, daß sie schon gar nicht mehr von sich aus zur Einsicht kommen kann. Man muß ihr sehr deutlich sagen, was wahr ist!«

»Ich werde mich danach richten. Wissen Sie, wo meine Frau hingefahren ist?«

»Sie hat angedeutet, daß sie ihren Vater besuchen wolle, aber ich weiß nicht, ob sie es auch getan hat.«

»Ich danke Ihnen, Herr Dr. Norden. Ich weiß, wie ich mit meiner Mutter reden muß. Jetzt weiß ich es.«

Na, hoffentlich fällt er nicht wieder um, dachte Dr. Norden.

Doch Heiner Mosch hatte einen gewaltigen Schuß vor den Bug bekommen. Und als er Dr. Arnim gegenübersaß, machte er auch einen entschlossenen Eindruck.

»Meine Frau war bei Ihnen, Herr Doktor«, sagte er heiser.

»Und auch Ihre Mutter«, sagte Dr. Arnim.

»Hat meine Frau die Scheidung eingereicht?«

»Nein, das nicht. Sie hat sich beraten lassen, was im Falle einer zeitlich räumlichen Trennung auf sie zukommen und was die Folge sein könnte. Und ich habe ihr Auskunft gegeben und ihr geraten, mit Ihnen darüber in aller Ruhe zu sprechen. Dann aber erschien Ihre Mutter.«

»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir das genau erzählen würden. Ich habe nicht die Absicht, mich von meiner Frau zu trennen, auch nicht auf Zeit, sozusagen zur Bewährung. Ich möchte, daß unsere Ehe gerettet wird. Ich liebe meine Frau.«

»Aber Sie fühlen sich Ihrer Mutter verpflichtet.«

»Ja, ich fühle mich ihr verpflichtet.«

»Älteren Menschen fehlt oft die Einsicht, daß die Jungen ein Anrecht auf ihr eigenes Leben haben«, sagte Dr. Arnim.

»Das ist mir auch klargeworden. Geben Sie mir einen Rat, wie ich mich verhalten soll.«

*

Helma Mosch stand am Fenster und trommelte ungeduldig an die Scheiben. Es dauerte ihr zu lange, bis Heiner zurückkam. Aber dann atmete sie auf, als sie seinen Wagen sah.

»Endlich«, sagte sie erleichtert. »Ich war schon ganz unruhig.«

»Weshalb, Mama? Ich bin kein kleiner Junge mehr«, erwiderte er.

»Für mich bleibst du das immer. Warst du beim Anwalt, Heinerle?«

»Ja, ich war beim Anwalt.«

»Und was hat er gesagt?«

»Daß einer konventionellen Scheidung nichts im Wege steht.«

»Siehst du, es ist ganz einfach.«

»So einfach nun auch wieder nicht, Mama. Das Haus und das Vermögen hat Annette in die Ehe gebracht. Es fällt nicht unter die Zugewinngemeinschaft.«

»Wieso nicht? Sie hat ja nicht mitgearbeitet für den Lebensunterhalt.«

»Jetzt laß mal die Kirche im Dorf, und höre mir zu. Für den Fall, daß ich mich scheiden lassen würde, behält Annette das Haus und auch das Kind, und ich müßte, meinem jetzigen Gehalt entsprechend vierhundertundzwanzig Euro für Bettina an Unterhalt zahlen. Selbstverständlich müßte ich mir auch eine eigene Wohnung suchen. Natürlich könnte ich bei dir wohnen, aber es wäre mir unerträglich, so in der Nähe zu bleiben. Ich werde dann also das Angebot meiner Firma annehmen und nach Irland gehen.«

»Wo dauernd diese Unruhen sind? Das wirst du nicht! Dorthin würde ich nicht mitkommen«, stieß sie hervor.

»Ich würde dich auch nicht mitnehmen, Mama, damit das klar ist. Du hast hier deine Wohnung, du hast dein Auskommen und wahrscheinlich hast du auch erreicht, daß unsere Ehe nicht mehr zu kitten ist. Aber so schnell gebe ich nicht auf. Ich liebe Annette und meine Tochter. Ich werde zumindest versuchen, einen neuen Anfang mit ihnen zu finden.«

Sie schnappte nach Luft und griff nach ihrem Herzen.

»Und jetzt fall bitte nicht in Ohnmacht, Mama«, sagte Heiner ruhig. »Ich war auch bei Dr. Norden. Du hast ein gesundes Herz. Wenn du dennoch krank spielst, lasse ich dich sofort in die Klinik bringen.«

»Wie redest du mit mir? Wie kannst du es wagen, so etwas zu sagen«, kreischte sie.

»Ich weiß nicht, was du alles zu Annette gesagt hast. Aber sie erwartet ein Baby, und das beweist ja wohl, daß unsere Beziehungen ihre Gültigkeit haben, wenn du nicht dazwischenfunkst.«

»Sie erwartet ein Baby? Weißt du auch, ob du der Vater bist?« höhnte sie.

Er erstarrte. »Das hättest du nicht sagen dürfen, das nicht«, brachte er mühsam über die Lippen. »Damit ist alles erledigt, was ich mit dir auf gütlichem Wege regeln wollte. Laß dich von deiner Bosheit auffressen. Ich kann jetzt verstehen, warum Annette so verzweifelt ist. Endlich ist mir ein Licht aufgegangen.«

Und dann stürzte er aus der Wohnung. Sie konnte es nicht fassen. Sie hatte sich doch so sicher gewähnt! Hatte gemeint, daß alles nun so werden würde, wie sie es sich vorstellte.

Sie fuhr sich durch das wohlfrisierte Haar, heulte und jammerte, bis ihr dann auch bewußt wurde, daß niemand sie hörte, daß sie allein war und ihr Sohn ihr keine tröstenden Worte sagen würde, wenn sie nun von ihrem geliebten Mann anfangen würde, von ihrer vorbildlichen Ehe und was sie alles für ihren Sohn getan und geopfert hatte.

Dann schöpfte sie doch wieder Hoffnung. Annette würde Heiner bestimmt wegschicken, ganz bestimmt, und er würde heimkehren zu seiner Mutter. Wer anders sollte denn für ihn sorgen als sie.

Aber im tiefsten Innern erwachte doch der Gedanke, daß es nicht so sein würde, daß sie zuviel gewagt und alles aufs Spiel gesetzt hatte.

*

Heiner war heimgefahren. Das Haus kam ihm leer vor. Ja, er hatte oft gedacht, daß es eigentlich Annettes Haus sei, daß er durch sie ein angenehmes, sorgloses Leben führen konnte und dadurch auch weitaus schneller vorwärtskam, als es sonst wohl möglich gewesen wäre.

Es schnürte ihm die Kehle richtig zu, denken zu müssen, daß seine Mutter erwartet hatte, er würde Annette um ihr eingebrachtes Vermögen bringen.

»Warum soll ich mir eine eigene Wohnung nehmen?« hatte sie damals gesagt. »Euer Haus ist doch groß genug.«

»Annette hat nie den Vorschlag gemacht, daß ihr Vater bei uns leben könnte«, hatte er erwidert. »Und schließlich ist das Haus mit seinem Geld gebaut worden.«

»Ein Mann muß versorgt werden, eine Mutter kann helfen«, hatte sie gesagt.

Und damals hatte er nicht gewagt, ihr zu sagen, daß Annette erst mal energisch ihre Meinung kundgetan hatte.

»Meinetwegen kann Mutter nach München ziehen, aber nicht in unser Haus.«

Alles ging Heiner durch den Sinn, als er nach dem Telefon griff und die Nummer seines Schwiegervaters wählte.

»Ach, du bist es, Heiner«, sagte der freundlich. »Ja, Annette und Bettina sind bei mir. Sie hatte es deiner Mutter doch gesagt, daß sie hier zu erreichen ist.«

»Darf ich kommen, Papa?« fragte Heiner.

»Natürlich. Komm morgen. Jetzt schlafen die beiden schon.«

»Ich hatte eine Auseinandersetzung mit meiner Mutter. Ich bin nicht ihrer Meinung, Papa. Würdest du das Annette bitte sagen?«

»Das sag ihr lieber selbst«, erwiderte Albert Breiter. »Ich ziehe dir die Ohren nicht lang, Heiner. Wir reden von Mann zu Mann miteinander.«

»Danke, Papa«, sagte Heiner leise.

Kaum hatte er den Hörer aufgelegt, läutete das Telefon. Die schluchzende Stimme seiner Mutter tönte in Heiners Ohr.

»Du mußt kommen, wir müssen miteinander sprechen. Mit wem hast du eben telefoniert?« fragte sie, ohne Luft zu holen.

Er legte auf, ohne ein Wort der Erwiderung. Doch das Telefon läutete wieder. Er ließ es läuten.

Er ging durch das Haus, dachte an vergangene Jahre zurück, an die ersten Jahre seiner Ehe, dachte dann auch daran, wieviel deutlicher er Annette hätte zu verstehen geben müssen, daß sie an erster Stelle in seinem Leben stand.

Das Telefon läutete unentwegt. Er nahm den Hörer ab, drückte auf die Gabel und legte den Hörer dann daneben.

Dann trank er noch ein Glas Milch, aß ein paar Kekse und ging ins Bad.

Als er geduscht hatte, läutete es an der Tür. Er wußte, daß es seine Mutter war, und er wußte auch, daß sie nicht aufgeben würde.

Er öffnete die Tür. Sie stand vor ihm. »Ich möchte jetzt schlafen«, sagte er.

»Du kannst nicht so mit mir reden, Heiner. Ich bin deine Mutter.«

»Ja, das weiß ich«, erwiderte er bitter. »Wir haben uns nichts mehr zu sagen.«

»Ich bringe mich um, wenn du mich im Stich läßt«, sagte sie drohend.

»Tu es doch, wenn dir nichts Besseres einfällt«, entfuhr es ihm.

Da schlug sie auf ihn ein, wie eine Furie. »Das ist der Dank, der Dank für alles, was ich für dich getan habe!« schrie sie.

»Und was hast du getan, was nicht jeder Mutter selbstverständlich ist?« fragte er tonlos. »Soll ich dir auf den Knien danken, daß du mich in die Welt gesetzt hast? Was du heute kaputt gemacht hast, kannst du nicht mehr kitten. Schläge habe ich auch früher bekommen. Ich habe sie hingenommen und vergessen. Diese vergesse ich nicht. Was war ich für ein Narr, daß ich es soweit kommen ließ, daß Annette deinem Mutwillen ausgesetzt wurde.«

»Bevor ich mich umbringe, werde ich einen Brief schreiben, daß du mich soweit gebracht hast«, zischte sie.

»Das ist wahre Mutterliebe«, sagte er tonlos. »Ich lasse mich nicht mehr erpressen, begreif das endlich. Du hast die Maske fallen lassen. Es hat schon Mütter gegeben, die ihre Kinder, ihre erwachsenen Kinder, aus purem Egoismus umgebracht haben. Ich glaube jetzt, daß du dazu auch fähig wärest. Aber mein Leben wäre sowieso sinnlos, wenn ich Annette und Bettina verliere. Ja, es wäre völlig sinnlos.«

Vielleicht kam sie durch diese Worte zu sich, wenigstens für den Augenblick. Sie drehte sich auf dem Absatz um und ging zu ihrem Wagen. Mit aufheulendem Motor fuhr der davon.

*

Dr. Norden kam von einem späten Hausbesuch, als der gelbe Wagen ihm die Vorfahrt nahm. Aber er war auf so etwas immer gefaßt. Im Licht seiner Scheinwerfer erkannte er dann für den Bruchteil einer Sekunde Helma Mosch, aber schon raste sie weiter.

Anscheinend hat sie doch nicht alle Tassen im Schrank, dachte er. Die Frau ist ja gemeingefährlich. Um ein Haar hätte sie ihn voll gerammt, wenn er nicht so vorsichtig gewesen wäre. Doch zwei Straßen weiter war ein anderer nicht so vorsichtig. Da krachte es gewaltig, aber wie durch ein Wunder kam die schuldige Helma Mosch ohne Verletzung davon. Und sie ergriff Fah-rerflucht, als ihr Wagen wieder ansprang, bevor jemand auf der Bildfläche erschien.

Dr. Norden stillte seinen Durst gerade mit einem eiskalten Mineralwasser, als das Telefon läutete. Fee Norden nahm rasch den Hörer ab.

»Unfall an der Lerchenstraße, Daniel«, sagte sie. »Der Notarzt ist im Einsatz.«

»Mein armer Schatz, ich hatte mich gerade auf ein Verschnaufstündchen gefreut«, sagte Daniel.

»Mein armer Mann«, sagte Fee mitfühlend. »Soll ich dich begleiten? Dann sind wir wenigstens beisammen.«

Diesmal erhob er keinen Einwand. »Vielleicht kann ich dich brauchen, Fee«, sagte er. »Aber werd’ nicht schwach, wenn Blut fließt.«

»Alles habe ich nicht vergessen«, erwiderte Fee, die approbierte Ärztin war. »Schwach werde ich nur, wenn bei unseren Kindern Blut fließt.«

Sie waren schnell an der Unfallstelle. In dem Kleinwagen war ein junges Pärchen eingeklemmt worden. Der Fahrer war noch gut davongekommen, aber er stand unter einem schweren Schock.

»Ich war nicht schuld«, stammelte er immer wieder, »was ist mit Ina?«

Das Mädchen war schwer verletzt. Der andere Wagen hatte die Breitseite voll erfaßt. Aber Dr. Norden hatte noch keine Ahnung, daß Helma Mosch den Unfall verursacht hatte. Er bemühte sich jetzt nur um das Mädchen, während Fee den Fahrer verband und beruhigend auf ihn einredete.

Zum ersten Mal in ihrer Ehe waren sie gemeinsam bei der Arbeit, und als beide Verletzte dann in die Behnisch-Klinik transportiert wurden, wie Dr. Norden es anordnete, sagte Fee: »Endlich konnte ich dir mal helfen.«

»Vorhin hätte es mich auch bald erwischt, Fee«, sagte er nachdenklich. »Die Mosch ist wie eine Irre die Straße langgerast. Aber ich bin vorsichtig, auch wenn ich Vorfahrt habe.«

»Die alte Mosch?« fragte Fee.

»So alt ist sie nicht, und fahren tut sie wie der Teufel.«

»Könnte sie das nicht auch gewesen sein?« fragte Fee.

Er hielt den Atem an. »Zeitlich könnte es vielleicht hinkommen. Mal sehen, was die Polizei herausfindet. Ich will mich nicht zum Denunzianten machen.«

»Aber wenn sie dich gefährdet hat, und du hast sie erkannt, kannst du Anzeige erstatten. Was meinst du, wie mir zumute wäre, wenn man dich so finden würde, wie diese beiden jungen Leute.«

»Mein Wagen ist ein bißchen widerstandsfähiger«, sagte er. »Warten wir ab. Ich möchte dem jungen Mosch nicht noch zusätzlich Probleme schaffen. Er hat genug zu knabbern. Und jetzt ist es wichtiger, daß dieses junge Mädchen am Leben bleibt, Fee.«

»Der andere Wagen muß aber doch auf jeden Fall schwer beschädigt sein«, sagte Fee, »egal, wer ihn gefahren hat.«

»Ganz bestimmt, und man wird ihn finden, dessen bin ich sicher. Die Spurensicherung wird feststellen, um was für einen Wagen es sich gehandelt hat.«

»Gehandelt haben könnte«, warf Fee ein.

»Aber die Farbe wird man mit Sicherheit feststellen können. Welche Farbe hatte der Wagen von Frau Mosch?« fragte Fee.

»Hell war er, gelb oder orange, bei Nacht kann man das so genau nicht sehen. Ich kenne den Wagen nicht. Ich wußte gar nicht, daß sie einen hat.«

»Und der Kleinwagen war auch gelb«, sagte Fee gedankenvoll.

»Gelb und Gelb ist nicht dasselbe, vor allem bei verschiedenen Modellen nicht.«

»Und wenn sie nun betrunken war?« fragte Fee weiter.

»Frau Mosch?«

»Natürlich Frau Mosch. Du hast sie erkannt. Du würdest es nicht gesagt haben, wenn du nicht sicher gewesen wärest. Wenn man sie erst morgen schnappt, falls sie diesen Unfall verursacht hat, wird man kaum noch feststellen können, ob sie Alkohol im Blut hatte.«

»Dennoch bleibt der Tatbestand ein schweres Verkehrsvergehen. Willst du, daß ich zu ihr fahre?«

»Nein, du brauchst mir nur die Adresse zu sagen. Ich fahre hin«, erwiderte Fee.

»Na schön, wie du willst, aber vergiß nicht, daß elf Uhr vorbei ist. Da schlafen ältere Herrschaften meist noch.«

Daniel Norden war bei der Behnisch-Klinik ausgestiegen. Der Notarztwagen hatte die Verletzten schon gebracht. Fee hatte sich ans Steuer gesetzt und fuhr zu der Wohnanlage am Stadtpark. Kaum ein erleuchtetes Fenster bemerkte sie. Auf der Straße standen aneinandergereiht die Autos. Ein gelbes sah sie auch, aber es war nicht ein bißchen beschädigt, wie sie auch feststellte, als sie herumging und es abtastete. Sie stellte sich den Unfall vor und kam zu der Überzeugung, daß zumindest ein Scheinwerfer beschädigt sein müßte. Das war bei diesem Wagen nicht der Fall.

Sie stellte sich auch vor, was ein Fahrer überlegte, wenn er Fahrerflucht beging. In einer Tiefgarage würde er seinen beschädigten Wagen wohl nicht abstellen

Sie nahm die Taschenlampe aus dem Handschuhfach und leuchtete die Hausglocken ab. Den Namen Mosch fand sie schnell. Sie schöpfte tief Atem und drückte auf die Klingel. Eine Ausrede würde ihr schon einfallen, aber es rührte sich nichts.

Es blieb Fee nichts übrig, als zur Klinik zurückzufahren. Und dabei dachte sie an einen Unfall, der sich vor gar nicht langer Zeit am Waldweg abgespielt hatte, der nicht weit entfernt lag. Da hatte es auch so einige Probleme gegeben, bis der geklärt wurde. Sie gab sich ihren Gedanken hin, bis Daniel endlich kam und ihr sagen konnte, daß das junge Mädchen außer Lebensgefahr sei. Sie waren beide jetzt zum Umfallen müde.

»Ich habe geläutet, aber sie hat sich nicht gemeldet«, sagte Fee gähnend.

»Ich habe nichts anderes erwartet, mein Schatz«, murmelte er.

»Vielleicht war sie wirklich nicht da«, sagte Fee.

»Oder sie denkt sich wieder eine hübsche, dramatische Geschichte aus. Sie ist eine schlaue Person, Fee.«

»Der Krug geht solange zum Wasser, bis er bricht«, sagte Fee. »Mir tun die beiden jungen Leute leid.«

»Der Wagen ist hin, aber er liebt sie und denkt an nichts anderes. Das ist mehr wert, Fee. Und sie werden einen anderen Wagen bekommen.«

»Wenn sie überhaupt noch einen wollen nach dem Schock.«

»Sie werden ihn schnell vergessen haben, Fee. Sie sind jung.«

*

Ahnungslos, was sich da zugetragen hatte, war Heiner Mosch dann doch eingeschlafen. Er wurde wieder einmal vom Läuten des Telefons geweckt, das er doch wieder aufgelegt hatte, nachdem seine Mutter verschwunden war, denn es konnte ja sein, daß Annette am Morgen anrufen würde.

Aber es war wieder seine Mutter. »Leg nicht gleich auf, Heiner«, sagte sie verblüffend ruhig, »ich wollte dir nur sagen, daß mein Wagen gestohlen worden ist.«

»Melde es der Polizei«, sagte er.

»Kannst du mir nicht wenigstens noch diesmal ein bißchen behilflich sein?«

»Nein, ich habe zu tun. Du bist doch sonst nicht auf den Mund gefallen.« Er blickte auf die Uhr. »Es ist erst sieben Uhr vorbei. Wieso hast du es schon gemerkt?« fragte er dann.

»Weil ich wegfahren wollte, wie du es mir geraten hast«, erwiderte sie. »Nun stehe ich da. Könntest du mich nicht wenigstens nach Würzburg bringen?«

»Was willst du denn dort?«

»Alte Freunde besuchen.«

»Es gibt Zugverbindung dorthin«, erklärte er nach einem kurzen, unschlüssigen Zögern. »Und außerdem mußt du erst den Diebstahl des Wagens melden.«

»Sie werden wieder unheimlich viele Fragen stellen.«

»Sie werden die Meldung aufnehmen, nichts weiter. Ich habe heute etwas anderes vor.«

»Du bist mir böse. Es tut mir ja leid, daß ich gestern so unbeherrscht war. Ich habe die Nerven verloren, verzeih mir, Heiner.«

»Es kommt ganz auf dich an, wie wir in Zukunft miteinander auskommen. Nun, jetzt hast du wenigstens etwas zu tun, was dich ablenkt«, fügte er dann ironisch hinzu. »Ich fahre jetzt weg.«

»Wohin?«

»Das geht dich nichts an.«

»Es könnte doch sein, daß Annette zu ihrem Vater gefahren ist. Vielleicht hat sie das auch gesagt, und ich habe nicht richtig hingehört, weil ich so erregt war. Ich werde mich gern bei ihr entschuldigen, wenn du es willst, Heiner. An mir soll es nicht liegen, wenn…«

»Schluß jetzt«, schnitt er ihr das Wort ab. »Sag nichts, wozu du nicht wirklich bereit bist.« Dann legte er den Hörer auf, und diesmal störte ihn kein Läuten mehr, bis er das Haus verließ.

Erst als er unterwegs war, kamen ihm Zweifel, daß der Wagen gestohlen worden wäre. Vielleicht war das wieder so eine Masche von ihr gewesen, um ihn am Wegfahren zu hindern. Auf die Wahrheit kam er allerdings nicht, denn Fahrerflucht traute er seiner Mutter doch nicht zu, und er erfuhr auch nichts von dem Unfall, da er das Autoradio nicht anstellte.

Zum ersten Mal war Helma Mosch wirklich auf sich gestellt und dies in einer solchen Situation.

Als sie die Polizei anrief, zitterte ihre Stimme vor Angst und Aufregung, aber da sie ihren Wagen als gestohlen meldete, maß man ihrer Aufregung keine andere Bedeutung bei. Das geschah erst, als Dr. Norden dann sagte, daß es genau zehn Uhr fünfzehn gewesen sei, als der gelbe Wagen ihm die Vorfahrt genommen hätte, und er hätte am Steuer Frau Mosch erkannt, die als Patientin schon bei ihm gewesen wäre. Der Unfall war knapp fünf Minuten später passiert und wie festgestellt wurde, nahe der Straße, in der Frau Mosch wohnte.

Immerhin waren fast zwei Stunden seit ihrem Anruf vergangen, als der beschädigte gelbe Wagen ziemlich weit entfernt gefunden wurde. Frau Mosch trafen die Polizisten zu Hause allerdings nicht an. Die Hausmeisterin sagte, daß sie mit einem Taxi weggefahren sei. Sie müsse dringend verreisen, weil ihre Schwiegertochter im Urlaub erkrankt sei, hätte sie gesagt. Wann Frau Mosch am gestrigen Abend heimgekommen sei, konnte die Hausmeisterin jedoch nicht sagen.

Auch das erfuhr Dr. Norden. Ihm war es ein Rätsel, daß Helma Mosch ohne jede Verletzung davongekommen sein sollte. Zumindest Stauchungen hätte sie seiner Ansicht nach davontragen müssen, auch wenn sie angeschnallt gewesen war.

Doch diese begann Helma Mosch erst jetzt zu spüren, als sie im Zug saß und Richtung Westen fuhr. Die Kopfschmerzen wurden immer schlimmer. Übel war es ihr auch und so manche Symptome, die sie früher nur vorgetäuscht hatte, machten sich ernsthaft bemerkbar. Es gelang ihr nicht, klare Gedanken zu fassen, und da sie die ganze Nacht nicht geschlafen hatte, schwanden ihr schließlich die Sinne. Was später um sie vor sich ging, spürte sie nicht mehr.

*

Annette war maßlos überrascht, als plötzlich der Wagen ihres Mannes vor dem hübschen Landhaus hielt.

»Papi kommt«, jubelte Bettina, und wieder einmal wurde es Annette bewußt, wie sehr das Kind an seinem Vater hing. Sie waren ja auch eine glückliche kleine Familie gewesen, bis Helma ihre Harmonie störte und dann systematisch zu zerstören begann.

Insgeheim hatte Annette ja gehofft, daß Heiner kommen würde, aber daß dies so bald sein würde, hatte sie nicht erwartet.

Dann stand er vor ihr, das Kind noch im Arm haltend.

»Bitte, schick mich nicht fort«, sagte er leise.

»Aber Papi, wir freuen uns doch, daß du da bist«, sagte Bettina. »Kannst du auch Urlaub machen?«

»Ein paar Tage habe ich Zeit«, erwiderte er verhalten. »Ich möchte mit Mami einiges besprechen, Bettina.«

»Erst mußt du aber Opi Grüß Gott sagen. Er wollte sowieso mit mir ins Dorf fahren und einkaufen.«

Ja, Albert Breiter hatte eigentlich nicht da sein wollen, wenn Heiner kam, aber so früh hatte auch er nicht mit dessen Erscheinen gerechnet.

»Ja, dann werden wir uns gleich mal auf die Beine machen, Bettina«, sagte er, »damit wir was Gutes auf den Mittagstisch bringen. Du weißt ja, was der Papi am liebsten ißt.«

»Schweinebraten und Knödel, gefüllte Pfannkuchen und überhaupt alles«, zählte Bettina auf. »Und Marmorkuchen mögen wir sehr gern, wie Mami ihn bäckt, ohne Zitrone, gell, Papi. Oma macht immer Zitrone dran.«

Sie verschwanden, und Annette sah ihren Mann forschend an. »Ich dachte nicht, daß sie es dir sagen würde, wo ich bin«, murmelte sie.

»Sie hat es mir auch nicht gesagt. Dr. Norden hat mir den Tip gegeben.«

»Du warst bei ihm?« fragte sie stockend.

»Ja, Annette, und ich habe etwas erfahren, worüber wir uns doch beide freuen sollten.«

»Ich kann mich nicht freuen«, sagte sie heiser.

»Ich war auch bei dem Anwalt, und dann hatte ich mit Mama eine ernste Unterredung, Annette. Es wird anders werden, ich verspreche es dir.«

Als Tränen in ihre Augen traten, nahm er sie in die Arme. »Ich weiß jetzt, was hinter meinem Rücken vorgegangen ist, Liebes, wie es wirklich gewesen ist, und nicht, wie sie es mir immer darstellte. Und sie weiß, daß ich nicht daran denke, unsere Ehe ganz zerstören zu lassen. Bitte, gib mir die Chance, es dir zu beweisen. Sie wird unsere Kreise nicht mehr stören, dafür werde ich sorgen.«

Annette schluchzte leise auf. »Sie findet immer wieder Mittel und Wege, um mich zu quälen, Heiner. Wenn ich nur wüßte, warum.«

»Du bist jung und schön, so schön, wie sie nie war, und außerdem bist du auch vermögend, wie sie es gern sein wollte. Das ist mir ganz gewiß geworden, als sie davon sprach, was ich bei einer Scheidung herausschlagen könnte. Aber ich schwöre dir, daß ich nichts davon haben will, wenn du auf der Trennung bestehst, Annette. Dann hätte ich alles verloren, was ich liebe, wirklich liebe, dich und Bettina. Ja, ich habe mich meiner Mutter verpflichtet gefühlt, ich habe immer wieder nachgegeben und ihr alles recht machen wollen. Und ich gebe auch zu, daß ich oft dachte, du würdest ungerecht sein. Jetzt sehe ich, wie es in Wahrheit ist. Ich habe ihr gesagt, daß es im Falle einer Scheidung für mich nicht in Frage käme, mit ihr zusammenzuleben. Ich habe ihr gesagt, daß ich dann nach Irland gehen werde.«

»Das willst du doch nicht wirklich, Heiner?« fragte Annette ängstlich.

»Nur dann, wenn ihr mitkommt. Es wäre ein Sprung nach oben für mich. Ich würde dort eine leitende Stellung bekommen. Aber die Entscheidung überlasse ich dir, wenn du bei mir bleibst, Annette.«

»Ich will mich ja gar nicht scheiden lassen«, flüsterte sie. »Ich konnte es nur nicht mehr ertragen, sie jeden Tag zu sehen, jeden Tag ihre Stimme zu hören, mit ansehen zu müssen, wie sie Bettina mehr und mehr an sich heranziehen wollte.«

»Ich glaube nicht, daß Bettina es so aufgefaßt hat. Aber das werden wir schon herausbekommen, wenn du mich nicht wegschickst.«

»Ich schicke dich nicht weg. Ich bin froh, daß wir endlich mal allein miteinander sprechen können. Paps wird uns dazu bestimmt Zeit lassen.«

Noch fester schloß er sie in seine Arme und küßte sie. »Und wir werden uns auf unser Baby freuen«, sagte er zärtlich.

»Ob Bettina sich auch freuen wird?«

»Wenn sie nicht gegenteilig beeinflußt wird, bestimmt, und ich werde dafür sorgen, daß dies nicht geschieht. Ich verspreche es dir, Annette.«

Annette wollte ja so gern daran glauben. Hoffnung und Zuversicht erfüllten sie jetzt.

*

Sandra hatte auf Anhieb eine hübsche Ferienwohnung gefunden, dank Winnies Empfehlungen. Winnie kannte die Gegend. Sie war dort aufgewachsen, und die Wohnung war auch groß genug, daß Winnie dann bei ihnen wohnen könnte, denn das Haus, das sie einrichten sollte, lag nur fünf Kilometer entfernt.

Nico gewöhnte sich ein, nachdem er mit seiner Omi ein langes Telefongespräch geführt und erfahren hatte, daß sie wohlauf sei. Annedore hatte ihm auch gesagt, daß sie schon am Sonntag zur Insel der Hoffnung fahren würde, weil Holger sie dann hinbringen konnte.

»Das ist mir sehr recht, Mami«, sagte Nico. »Ich habe es gar nicht gern, wenn Omi allein fährt. Sie wird leicht nervös, wenn viel Verkehr ist.«

Was er alles denkt, dachte Sandra. Man müßte tatsächlich mal seinen Intelligenzquotienten prüfen lassen. Sie wußte ja, daß Kinder mit einem hohen Quotienten sich oft in der Schule nicht leicht taten, einmal, weil sie sich langweilten und zum andern auch, weil die Lehrer irritiert wurden.

Nico war mit allem früh dran gewesen und schon mit drei Jahren hatte er einen Wortschatz und ein Gedächtnis gehabt, das verblüffend war. Das hatte sie allerdings nicht so beachtet, weil ihr Vergleiche fehlten. Es hatte ihr geschmeichelt, ein so intelligentes Kind zu haben, und ihr war ja auch alles spielend zugefallen. Nur Hausfrau und Mutter zu sein, hatte ihr nicht genügt. Jetzt aber genoß sie es, sich nur ihrem Sohn widmen zu können.

»Du wolltest über Papa mit mir sprechen«, wurde sie jedoch gleich erinnert, als sie den ersten Ausflug mit ihm unternahm. Er schien auch das richtige Gespür für Zeit und Raum zu solchen Gesprächen zu haben.

»Einfach ist es nicht, Nico«, sagte Sandra, da er ihr so entgegenkam.

»Das kann ich mir denken, Mami. Wenn ihr euch liebhättet, wäre er ja bei uns. Wart ihr eigentlich richtig verheiratet?«

Dieser sechsjährige Dreikäsehoch versetzte seine Mutter immer wieder in Verblüffung. Hätte Sandra nicht vor ein paar Tagen zufällig durch ihren Beruf davon Kenntnis bekommen, daß ein Mandant von ihnen mit drei Wunderkindern gesegnet, möglicherweise auch gestraft war, die schon im frühkindlichen Alter ihre Eltern mit Kenntnissen verblüfften, die dann zu schweren Differenzen zwischen den Eheleuten führten, wäre sie über ihren Nico wohl sprachlos gewesen.

»Natürlich waren wir richtig verheiratet«, erwiderte sie.

»Natürlich ist das nicht, es gibt auch Leute, die Kinder haben, ohne verheiratet zu sein«, erklärte Nico. »Warum hast du den Mann weggeschickt, Mami?«

Er sagte Mann, das gab Sandra Mut. »Weggeschickt habe ich ihn nicht, Nico. Wir haben uns getrennt, weil wir zu verschiedene Ansichten hatten.«

Nico dachte angestrengt nach. »Hat er jetzt eine andere Frau und andere Kinder?«

»Das weiß ich nicht. Es könnte aber sein, daß er öfter mit dir beisammen sein möchte.« Nun war das heraus.

»Warum?« fragte Nico.

»Weil er eben dein Vater ist«, erwiderte sie.

»Wenn er nicht bei uns wohnt, finde ich es doof, wenn er mit mir beisammen sein will. Ich will aber auch nicht, daß er bei uns wohnt.«

»Das wird er auch nicht.«

»Dann soll er mich doch in Ruhe lassen«, sagte Nico. »Kommt er etwa hierher?« fragte er gleich darauf mißtrauisch.

»Nein, das bestimmt nicht. Es ist nur so, daß er darauf bestehen kann, einen Tag im Monat mit dir zusammen zu verbringen. Einen Samstag oder Sonntag.«

»Wenn du auch nicht arbeiten mußt? Das kommt überhaupt nicht in Frage«, sagte Nico. »Du bist doch Rechtsanwalt, kannst du dagegen nichts machen?«

»Nein, leider nicht.«

Er sah mit durchdringendem Blick unverwandt zu ihr auf. »Du willst auch nicht, daß ich mit ihm beisammen bin«, sagte er nachdenklich.

»Der Gedanke gefällt mir nicht«, gab Sandra zu.

»Meinst du, daß ich ihn mögen könnte?«

»Er wird wohl alles versuchen, daß du ihn magst.«

»Ich weiß nicht, Mami, wenn er dich geärgert hat, mag ich ihn nicht, und allein sein will ich auch nicht mit ihm. Aber jetzt haben wir ja erst mal Ferien. Ich weiß Bescheid, Mami.«

»Was meinst du damit?« fragte sie erstaunt.

»Daß du ihn nicht gern sehen willst.«

»Es geht nicht um mich, Nico. Es geht doch um dich«, sagte sie. »Du sollst nicht hin und her gezogen werden.«

»Aber ich kann ja mal mit ihm reden, wenn er kommt. Ich kann ihm sagen, daß wir gut ohne ihn auskommen.«

Da sagte Sandra nichts mehr. Sie hatte begriffen, daß sie mit zuviel Erklärungen eher Probleme schaffen als ausräumen konnte.

*

Am Sonntagmorgen holte Holger Arnim Annedore ab. Sie hatten sich schon zu Lebzeiten von Dr. Diehl gut verstanden. Es war Annedore in ihrem großen Kummer auch ein großer Trost gewesen, daß Holger die Kanzlei ganz im Sinne ihres Mannes weiterführte und auch Sandra den Start als Anwältin erleichtert hatte.

Sie waren längst Freunde geworden. Für Annedore war Holger die Verkörperung von Zuverlässigkeit und Anständigkeit.

»Na, wie ist dir zumute, Annedore?« fragte er, als er sich ans Steuer setzte.

»Gemischt«, erwiderte sie.

»Hat Sandra noch nichts von sich hören lassen?«

»Doch, wir haben gestern miteinander telefoniert. Das heißt, die meiste Zeit habe ich mit Nico gesprochen. Sie haben eine hübsche Ferienwohnung in der Nähe von Villach gemietet. Heute wird Winnie zu ihnen kommen. Du hast sie ja schon kennengelernt. Sie ist eine tüchtige Frau, jedenfalls keine Transuse.«

Holger lachte leise. »Das ist Sandra auch nicht«, sagte er.

»Aber sie braucht Aufmunterung. Es hängt ihr wohl doch an, daß sie als Juristin so ein Fiasko erlebte.«

»Juristen sind auch Menschen, Annedore«, sagte Holger. »Man kann ihr keinen Vorwurf machen, und sie braucht sich auch keinen zu machen. Es schien doch alles zu stimmen.«

»Sie waren beide zu jung«, seufzte Annedore. »Ich meine, sie blickt erst jetzt richtig durch.«

»Sie ist dauernd mit Ehescheidungen beschäftigt«, meinte Holger, »und manchmal gehen Ehen aus läppischen Gründen kaputt. Immerhin ist Sandra zu der Erkenntnis gekommen, daß einfach nichts zwischen ihnen stimmte.«

»Bist du davon überzeugt?«

»Ja, davon bin ich überzeugt.«

»Das beruhigt mich. Manchmal mache ich mir Sorge, daß Ulrich sie doch wieder herumkriegt.«

Holger verriet nicht, daß er sich solche Gedanken auch machte. Er gab sich weiterhin zuversichtlich.

»Darf ich sagen, daß ich es gern sehen würde, wenn ihr zusammenbleiben würdet?« fragte Annedore stokkend. »Auch privat?«

»Dann müßten wir erst mal zusammenkommen, Annedore. Ich hätte nichts dagegen. Aber Sandra bleibt distanziert.«

»Meistens ergreifen die Männer die Initiative«, sagte Annedore.

»Es kommt immer auf die Gegebenheiten und Aussichten an. Ich möchte nichts zerstören.«

»Ihr kennt euch lange«, sagte Annedore eigensinnig. »Sandra weiß, was sie von dir zu halten hat. Du würdest sie nicht enttäuschen.«

»Sie sieht einen Freund in mir, und das bin ich, und das soll auch immer so bleiben. Jetzt schalte du auch mal ab, Annedore. Sandra ist erwachsen und eine sehr tüchtige Anwältin.«

»Für andere kann sie die richtigen Entscheidungen treffen, aber sich selbst schafft sie Probleme.«

»Du doch auch«, sagte er offen. »Ihr seid aufeinander fixiert. Jeder will für den andern nur das Beste, und vielleicht schafft gerade das Probleme. Ist Sandra telefonisch zu erreichen?«

»Ja, willst du sie anrufen?«

»Es handelt sich um einen wichtigen Fall. Es wird sie interessieren, wie sich dieser entwickelt.«

»Für mich seid ihr zwei der schwierigste Fall«, sagte Annedore.

»So ernst sehe ich das nicht«, erklärte Holger. »Nehmen wir mal an, Sandra lernt einen Mann kennen, in dem sie alles findet, was sie sich erträumt.«

»Ach was, sie träumt nicht mehr«, fiel Annedore ihm ins Wort. »Sie ist zum wandelnden Gesetzbuch geworden. Frauen sollten einfach nicht zuviel Verstand haben.«

»Männer sind verschieden, Annedore. Ich könnte mit einer dummen Frau nichts anfangen.«

»Man braucht ja nicht gerade dumm zu sein.«

»Nun, Sandra hat eine Menge Vorzüge«, sagte er lächelnd. »Sie hat nichts von ihrer Weiblichkeit eingebüßt. Im Gegenteil!«

»Vielleicht möchte sie das auch mal von dir hören, Holger«, sagte Annedore. »Ich habe gern Komplimente von meinem Mann gehört.«

»Ich hoffe, daß Sandra weiß, was sie mir bedeutet.«

»Du hast eine Engelsgeduld, Holger«, sagte Annedore. »Und wenn ein anderer kommt…«

»Dann könnte ich es nicht ändern. Ich würde ihr nur wünschen können, daß sie glücklich wird.«

»Und wenn es wieder ein Fiasko wäre?«

»Dann hat sie in mir wenigstens einen Freund.«

*

Nico saß mit Sandra noch am Frühstückstisch. Sie hatten lange geschlafen und warteten nun auf Winnie.

»Wie lange ist Winnie deine Freundin, Mami?« fragte Nico.

»Zwanzig Jahre!« Schweigen folgte, Nico rechnete. »Dann warst du acht Jahre, als ihr Freundinnen wurdet. Zwei Jahre älter als ich.«

»Toll, wie du rechnen kannst«, sagte Sandra.

»Aber wie kommt es, daß ihr euch kennengelernt habt?« fragte er weiter. »Winnie wohnt doch in Wien.«

»Damals war ihr Vater in München tätig. Wir sind zusammen zur Schule gegangen, bis zum Abitur. Kurz vorher war Winnies Vater gestorben, und dann zog ihre Mutter nach Wien und nahm Winnie mit.«

»Und warum zog sie nach Wien?«

»Weil sie dort geboren war.«

»Und wo wohnt sie jetzt?«

»Sie ist leider auch gestorben.«

»Dann hat Winnie nicht mal eine Mutsch? Das ist traurig. Wir haben wenigstens unser Ömchen. Ach, wie wird ihr jetzt nur zumute sein, so allein.«

»Holger bringt sie heute zur Insel. Da ist sie nicht allein.«

»Holger könnte uns wirklich auch besuchen.«

»Vielleicht tut er das, wenn du ihn bittest.«

»Warum bittest du ihn nicht?«

»Mir wäre es lieber, wenn du ihn bittest, Nico.«

»Das tue ich auch«, erklärte Nico. »Du, da kommt Winnie.« Er sprang auf und lief ihr entgegen. Zärtlich umarmte er sie.

»Du bist aber lieb«, wunderte sich Winnie.

»Weil ich jetzt weiß, daß du nicht mal eine Mutsch hast, Winnie. Bloß deine Freundin und mich.«

Winnie drückte ihn zärtlich an sich. »Ich bin sehr froh, daß ich euch habe«, sagte sie. »Leider werde ich nicht viel Zeit für euch haben, da es mein Auftraggeber plötzlich sehr eilig hat, sein Haus zu beziehen.«

»Wir können ja helfen«, sagte Nico.

»Du bist geschafft«, sagte Sandra, als sie Winnie umarmte.

»Und wie!« Winnie ließ sich in den Korbsessel fallen. »Aber jetzt bekomme ich wenigstens ein gutes Frühstück. Ich bin weg ohne alles. Erfolg gut und schön, aber es zehrt an den Nerven, Sandra. Doch wem sage ich das! Nachher muß ich mir gleich das Haus anschauen. Nach den Plänen kann man sich kein Urteil bilden.«

»Es sind wohl sehr anspruchsvolle Leute?« fragte Sandra.

»Vor allem reiche. Da ist das Beste gerade gut genug. Ich habe sie noch gar nicht kennengelernt. Der Auftrag ist mir zugeschanzt worden, aber es springt wenigstens was dabei heraus. Und da braucht man nicht zu sparen, und es wird nicht gemeckert.«

»Ist das sonst häufig so?« fragte Sandra.

»Meistens. Die Wünsche sind oft unermeßlich, aber wenn es ans Bezahlen geht, dann wird lamentiert. Aber jeder Beruf hat seine Tücken.«

Später fuhren sie zu dem Haus. »Ein Traumhaus«, sagte Sandra bewundernd.

»Toll«, sagte Nico, als er den Swimming-pool sichtete.

»Stammer ist ein genialer Architekt«, sagte Winnie.

»Danke für das Kompliment«, ertönte eine tiefe Männerstimme, »wenigstens das gestehen Sie mir zu, Winnie.«

Winnie zuckte erschrocken zusammen, Nico betrachtete den schlanken Mann skeptisch, dessen hageres Gesicht von mehreren Narben gezeichnet war und dessen schmallippiger Mund einen spöttischen Zug hatte. Sandra sah zuerst die Augen, und die gefielen ihr. Aber sie spürte sofort, daß Winnie mit ihm auf Kriegsfuß stand.

»Sie haben mir zwar den Auftrag zugeschanzt, aber reinreden lasse ich mir nicht«, sagte sie aggressiv.

»Der Besitzer wird aber doch wohl einige Wünsche äußern dürfen«, sagte Leo Stammer.

»Kommt er her?« fragte Winnie neugierig.

»Er ist schon zugegen«, erwiderte Stammer lässig.

»Wo?«

»Er steht vor Ihnen.«

Winnie starrte ihn betroffen an und errötete. »Sie? Sie sind der Besitzer? Wieso haben Sie mir den Auftrag gegeben?«

»Weil ich Sie für die fähigste Innenarchitektin halte, die ich kenne«, erwiderte er gelassen.

»Das ist ja ganz was Neues«, sagte sie erbost. »Es ist noch nicht lange her, da haben Sie mich als unbelehrbare Emanze bezeichnet.«

Er wurde tatsächlich ein wenig verlegen. »Das ist aus dem Zusammenhang gerissen«, erklärte er schnell. »Aber darüber können wir bei Gelegenheit sprechen. Sollten wir uns nicht bekannt machen?« wandte er sich dann höflich an Sandra.

»Meine Freundin Dr. Sandra Diehl und ihr Sohn Nico«, sagte Winnie bissig. »Sie sollten sich eine andere Innenarchitektin suchen. Vielleicht Insa Keller.«

In seinen Augen blitzte es auf. »Sie haben den Auftrag angenommen und müssen ihn nun auch ausführen«, erklärte er.

»Sie haben mich hinters Licht geführt.«

»Das ist nicht wahr. Ich habe Ihnen gesagt, daß sich der Besitzer ganz auf Ihren guten Geschmack verläßt.«

»Damit Sie dann hinterher meckern können«, brauste sie auf.

»Winnie«, sagte Sandra mahnend.

»Sie hat was gegen mich«, sagte Leo Stammer lächelnd. »Sind Sie auch Architektin, gnädige Frau?«

»Meine Mami ist keine gnädige Frau, sondern sie ist Rechtsanwalt«, warf Nico ein.

Leo Stammer war sichtlich überrascht, aber geistesgegenwärtig sagte er: »Dann kann deine Mami das Schwälbchen ja gleich belehren, daß Verträge erfüllt werden müssen.«

»Winnie hat sich doch auch darauf gefreut«, sagte Nico. »Warum redest du wütend mit dem netten Mann, Winnie?«

»Ja, das würde ich auch gern wissen«, sagte Leo anzüglich.

»Vielleicht sollten Sie jetzt allein mit Winnie sprechen, Herr Stammer«, sagte Sandra einlenkend. »Komm, Nico, wir schauen uns ein bißchen um.«

Nico trabte neben ihr her. »Winnie ist doch sonst so nett«, sagte er nachdenklich.

Sandra hatte so eine ferne Ahnung, warum Winnie sich so aggressiv gab. Und sie hatte auch eine Ahnung, warum Stammer Winnie den Auftrag gegeben hatte. Aber davon sagte sie nichts zu Nico.

»Weißt du, das ist wahrscheinlich gar nicht ernst gemeint, nur so ein Geplänkel.«

»Winnie ist aber ganz schön giftig«, stellte Nico fest. »Das Haus ist doch so toll.«

»Können wir nicht mal Waffenstillstand schließen, Winnie?« fragte Leo Stammer indessen. »Wer hat Ihnen eigentlich von dieser Bemerkung erzählt?«

»Niemand, ich habe sie selbst gehört auf dem Kongreß.«

»Dann hätten Sie aber ein bißchen länger lauschen sollen«, sagte Leo.

»Ich lausche nicht. Ich habe die Bemerkung rein zufällig gehört.«

»Leider aber nicht, daß ich es bedauert habe, daß eine so reizvolle Frau wie Sie einen so männlichen Kurs einschlägt.«

»Ich führe meine Aufträge aus, wie sie verlangt werden«, sagte sie.

»Nun, dieses Haus können Sie so einrichten, als wäre es Ihr eigenes«, sagte er, »mit der weiblichen Note, die ich Ihnen zutraue.«

»Vielleicht gefällt diese der Frau nicht, die darin wohnen wird«, sagte sie spitz.

»Sie haben mich in Verwirrung gestürzt, Winnie. Ich dachte, Sie würden allein kommen.«

»Ich dachte nicht, Sie hier zu treffen«, konterte sie.

»Ich wollte eigentlich schon ein bißchen im Garten arbeiten.«

»Tun Sie sich keinen Zwang an. Wann wollen Sie das Haus beziehen?«

»Das steht noch nicht fest. Es gibt da noch einige Probleme.«

»Ich werde zwei Wochen brauchen. Jetzt möchte ich mir das Haus anschauen.«

»Dann mache ich auf der Terrasse weiter. Bleibt Ihre Freundin länger?«

»Drei Wochen.«

»Ohne Ehemann?«

»Sie ist geschieden, falls sie Ihr Wohlgefallen erregt haben sollte«, erwiderte Winnie anzüglich.

»Sie hat mir gefallen«, erwiderte er lächelnd, »aber Sie gefallen mir nun mal besser, Winnie. Nun schauen Sie sich aber das Haus mal an, falls Sie tatsächlich in vierzehn Tagen damit fertig sein wollen.«

Fassungslos blickte sie ihm nach, als er sich entfernte. Hilfesuchend hielt sie dann nach Sandra Ausschau, aber die hatte sich mit Nico weit entfernt. Geistesabwesend betrat sie dann das Haus, schloß aber gleich geblendet die Augen, denn durch die breite Fensterfront fiel die Nachmittagssonne voll herein. Ihre Füße versanken in dem weichen Teppichboden, die Tapeten, die sie ausgewählt hatte, zierten schon die Wände des Wohnraumes, und auf der Terrasse standen dekorative Schalen mit blühender Blumenpracht. Die Küche und der anschließende Eßraum waren schon komplett eingerichtet, aber sie waren ja von vornherein ausgeklammert worden. Allerdings entsprachen sie auch ganz ihren Vorstellungen.

Leo schaute zum Fenster herein. »Was gibt es auszusetzen, Winnie?« fragte er.

»Nichts«, erwiderte sie gepreßt, »es bleibt ja nicht mehr viel zu tun.«

»Noch genug.«

»Die Teppiche werden schmutzig, wenn die Möbel kommen.«

»Ach was, da werden Planen draufgelegt. Die Teppichböden konnten doch nicht nachträglich verlegt werden. Und für Schmutzarbeiten waren Sie nicht engagiert. Wenn Ihre Freundin kommt, könnten wir auf gutes Gelingen trinken. Vielleicht kann ich bei ihr um Ihre Hand anhalten, wenn es sonst niemanden gibt, Winnie. Als Rechtsanwältin wird sie ja wissen, ob ich vertrauenswürdig genug bin.«

»Sie ist selbst mal reingefallen«, sagte Winnie trotzig.

»Da muß sie aber noch sehr jung gewesen sein. Ich würde jedenfalls die Garantie geben, daß es von mir aus nie zu einer Scheidung kommt. Ich habe lange genug gewartet, bis ich die richtige Frau gefunden habe. Und immerhin kennen wir uns schon drei Jahre.«

»Kennen ist gut gesagt«, spottete sie.

»Nun, wir waren schon mal auf dem besten Wege, uns näher kennenzulernen. Ich wußte nicht, daß eine dumme, falsch verstandene Bemerkung dies dann verhinderte. Ich bitte dafür um Entschuldigung, Winnie. Ich habe die Bemerkung von einem andern aufgegriffen, weil man schon etwas zuviel Kenntnis davon genommen hatte, wie groß mein Interesse für Sie war. Da hatte ich das Haus schon für uns geplant. Ich habe es mir wundervoll vorgestellt, mit Ihnen zusammen zu leben und zu arbeiten. Bitte, sag nicht nein, Winnie.«

Er meint es tatsächlich ernst, dachte Winnie. Ihr Herz begann stürmisch zu klopfen, heiß strömte das Blut durch ihre Adern.

»Frauen wie mich heiratet man nicht«, sagte sie.

»Wer hat dir das denn eingeredet?«

»Das haben mir schon einige Männer gesagt«, erwiderte sie etwas störrisch.

»Das müssen solche Dummköpfe gewesen sein, die es nicht akzeptieren, wenn Frauen Charakter und Erfolg haben. Aber ich bin ganz froh, daß es solche Trottel gibt.«

»Ich schaue jetzt mal, wo Sandra steckt«, sagte Winnie.

»Keine Antwort?« fragte er.

»Es kam mir sehr überraschend«, erwiderte sie stockend. »Ich habe meine Grundsätze.«

»Das weiß ich bereits, aber man kann sie doch auch mal einer Korrektur unterziehen. Was soll ich denn mit dem Haus machen, wenn du nein sagst, Winnie? Ich weiß, daß ich nicht gerade ansehnlich bin, aber…«

»Hör auf mit dem Schmarr’n, das hast du schon mal gesagt«, fiel sie ihm ins Wort. Dann entschwand sie seinen Blicken.

Im Laufschritt eilte sie auf Sandra und Nico zu, als sie die beiden am Waldrand entdeckt hatte. Völlig erhitzt kam sie bei ihnen an.

»Na, habt ihr euch zusammenge-rauft?« fragte Sandra.

»Du wirst es nicht glauben, Sandra, aber er will mich heiraten«, stieß Winnie atemlos hervor.

»So was habe ich mir gedacht.«

»Das hast du dir gedacht? Wieso?« »Man spürt so was.«

»Da könntest du aber wirklich ein bißchen netter zu ihm sein, Winnie«, warf Nico jetzt ein. »Wenn du ihn heiratest, bekommst du doch wirklich das tolle Haus. Dann besuchen wir dich bestimmt jedes Jahr, gell, Mami?«

»Das wäre natürlich ein Argument«, sagte Winnie mit einem glucksenden Lachen.

»Dann muß aber Wasser im Bassin sein«, sagte Nico.

»Halt dich mal ein klein bißchen zurück, Nico«, wurde er von Sandra ermahnt.

»Ich denke, es wird schon bald Wasser im Bassin sein«, meinte Winnie lächelnd. »So eilig, wie Leo es hat. Ich bin total durcheinander, Sandra. Daran habe ich doch überhaupt nicht gedacht.«

»Aber insgeheim hast du die Frau beneidet, die dort einzieht«, sagte Sandra.

»Nein«, protestierte Winnie heftig, »ich wußte doch gar nicht, daß Leo das Haus für sich gebaut hat.« Doch damit hatte sie sich schon verraten. »Ich kenne ihn ja schon ein paar Jahre«, fuhr sie hastig fort, »aber er war immer zurückhaltend.«

»Wer traut sich an dich schon auf Anhieb heran«, sagte Sandra lä­chelnd. »Leo Stammer scheint sehr mutig zu sein.«

»Heiratest du ihn, und kriegt ihr dann Kinder?« fragte Nico. »Ich möchte so gern mal ein ganz kleines Baby sehen, und bei einer Hochzeit möchte ich auch mal dabeisein.«

»Immer hübsch langsam, alles der Reihe nach, Nico«, sagte Winnie schon ganz heiter. Aber da rannte Nico schon auf das Haus zu, und er schien taub zu sein, als Sandra ihm Halt gebot. Er hatte es schrecklich eilig.

*

»Ich glaube schon, daß sie dich heiratet«, raunte er Leo zu, aber dann machte er schnell »pssst«, und legte den Finger auf die Lippen. Aber seine Augen wurden kugelrund, als er den gedeckten Tisch sah und die Sektgläser.

»Wußtest du denn, daß du Besuch kriegst?« erkundigte er sich.

»Ich habe es gehofft«, erwiderte Leo lächelnd.

»Aber mit uns hast du nicht gerechnet, gell?«

»Ich freue mich darüber sehr«, sagte Leo schmunzelnd.

»Dann ist es ja gut, sonst hätte ich mit Mami ja noch mal weggehen können«, erklärte Nico einsichtig. »Sekt dürfen Kinder eh nicht trinken.«

»Für dich habe ich Orangensaft.«

»Du bist wirklich sehr nett, ich habe es Winnie schon gesagt. Oder habe ich es nur Mami gesagt? Dann sage ich es Winnie gleich.«

Das hatte sie aber schon gehört, und als Leo nun auf sie zutrat, ihre Hand ergriff und an seine Lippen zog, brauchte sie nichts mehr zu sagen. In ihren Augen konnte er die Antwort lesen.

Er hatte die Gläser schnell gefüllt, und er sagte: »Auf diesen wunderschönen Tag und daß wir uns hier noch sehr oft treffen!« Er zwinkerte Winnie zu. »Wir freuen uns, wenn lieber Besuch kommt, nicht wahr, Winnie?«

»Das hat Leo sehr schön gesagt«, raunte Nico dann seiner Mami zu. Er fragte dann seltsamerweise auch gar nicht, warum er allein mit Sandra zurückfahren sollte. Er machte einen sehr zufriedenen Eindruck. Und müde war er auch.

»Leo und Holger werden sich bestimmt sehr gut verstehen«, murmelte er, bevor ihm die Augen zufielen, doch dies allein war nicht der Grund, warum Sandra sehr intensiv an Holger dachte. Es mochte wohl Gedankenübertragung sein, denn kurz nach neun Uhr läutete das Telefon, und sie wußte, daß er es war, bevor sie noch den Hörer aufgehoben hatte.

»Ich bin gerade heimgekommen und wollte dir nur Bescheid sagen, daß Ömchen gut untergebracht ist auf der Insel. Wir haben von dort aus versucht, euch zu erreichen, aber ihr wart wohl unterwegs.«

»Mit Winnie. Sie richtet ein Haus ein, und es fand so etwas wie eine kleine Verlobungsfeier statt. Ja, Winnie ist unter die Haube gebracht worden.«

»Das kommt aber plötzlich.«

»Sie kennen sich schon ein paar Jahre. Sie mußten sich nur erst zusammenraufen.«

Er atmete hörbar. »Na, dann brauche ich die Hoffnung wohl doch nicht zu verlieren«, sagte er leise. »Sag Nico schöne Grüße.«

»Er schläft schon. Er wollte dir sagen, daß du uns mal besuchen könntest«, sagte sie verhalten.

»Nächstes Wochenende?«

»Wenn du nichts Besseres vorhast?«

»Was sollte ich schon vorhaben. Ich fühle mich total vereinsamt.«

»Hoffentlich ist dann wieder so schönes Wetter«, sagte Sandra.

»Ich komme auch, wenn es regnet. Aber ich wünsche euch sonnige Tage.«

»Wenn etwas Wichtiges vorliegt, kannst du ja anrufen. Abends sind wir bestimmt da.«

»Und Winnie?«

»Sie richtet das Haus ein. Es wird nämlich ihr zukünftiges Heim sein.«

»Wieso das?« fragte er überrascht.

»Ja, manche Männer lassen sich etwas einfallen, um ihr Ziel zu erreichen«, erwiderte sie mit einem schelmischen Unterton.

Na warte, ich werde mir auch etwas einfallen lassen, dachte er, als er den Hörer aufgelegt hatte. Und Sandra dachte mit einem verträumten Lä­cheln, was wird er sich wohl jetzt einfallen lassen. Es war wohl doch eine Antenne zwischen ihnen.

An Ulrich verschwendete sie jedenfalls keinen einzigen Gedanken mehr. Sie schlief so gut, wie schon lange nicht mehr, und schöne Träume blieben ihr auch noch beim Erwachen gegenwärtig.

Für Holger begann die Woche ernüchternd. Ein Klient von ihm war wegen Betrugsverdachtes verhaftet worden, und er wurde zu ihm ins Untersuchungsgefängnis gerufen.

Wieder einmal erhielt er den Beweis, wie leicht ein gutgläubiger Mensch in ein solches Dilemma geraten konnte, wenn falsche Freunde, in diesem Fall war es eine Freundin gewesen, solche Gutgläubigkeit auszunützen verstanden. Gegen eine Kaution brachte Holger ihn in Freiheit, aber die Verzweiflung, die solcher Demütigung folgte, konnte er ihm nicht nehmen.

Erfreulicher war dann der Anruf von Annette Mosch, die ihm sagte, daß mit ihrer Ehe wieder alles in Ordnung sei. Sie war mit ihrem Mann nach München gekommen. Bettina wollte noch gern bei ihrem Opa bleiben, und das war ihren Eltern nur recht, denn sie meinten ja, daß es mit der Mutter nun zu einer klärenden Aussprache kommen würde.

Aber Helma Mosch war nicht da, und noch hatten sie keine Ahnung, warum sie das Weite gesucht hatte. Annette erfuhr es von Dr. Norden, den sie aufgesucht hatte, während sich Heiner nach dem gestohlenen Wagen erkundigen wollte.

Dr. Norden brachte Annette den Sachverhalt schonender bei als Heiner ihn von der Polizei erfuhr. Aber beide waren gleich entsetzt, und es war dann Annette, die besorgt die Vermutung äußerte, daß sich Helma etwas angetan haben könnte.

»Ach was, sie bringt sich nicht um«, erklärte Heiner da sehr entschieden. »Nicht klammheimlich. Dazu ist sie zu feige. Sie meint vielleicht, mir mit ihrem Verschwinden einen Schrecken eingejagt zu haben, aber vor allem wird sie wohl hoffen, daß ich ihr ein Alibi verschaffe. Wahrscheinlich hat sie schon versucht, mich anzurufen. Daß sie zu so etwas fähig ist, hätte ich niemals für möglich gehalten. Vielleicht ist sie ja wirklich nicht zurechnungsfähig.«

Aber als an diesem und auch am nächsten Tag kein Lebenszeichen von seiner Mutter kam, begann er doch, sich andere Gedanken zu machen. Er konnte ja nicht ahnen, was inzwischen geschehen war.

*

Als Helma Mosch von einem Zugbegleiter bewußtlos in ihrem Abteil aufgefunden worden war, fehlte ihre Handtasche, in der sich Geld, Papiere und die Fahrkarte befunden hatten. Sie war ganz offensichtlich beraubt worden, und da der herbeigerufene Notarzt dann Blutergüsse an ihrem Körper feststellte, nahm man sogar an, daß diese von einem Kampf herrührten. Fern von München, als ein namenloses Opfer eines Überfalls, war sie in ein Krankenhaus eingeliefert worden, und erst dort wurde festgestellt, daß die Prellungen und Blutergüsse eine andere Ursache haben mußten.

Ein Fahrkartenkontrolleur, der auf halber Strecke abgelöst worden war, konnte sich dann erinnern, daß sie in München eingestiegen sei und auf ihn einen verwirrten, abgehetzten Eindruck gemacht hätte. Aber das passierte ja häufig, wenn Fahrgäste den Zug erst auf den letzten Drücker erreichten.

Helma Mosch gelangte erst am Dienstagabend wieder zu Bewußtsein. Als sie dann erfuhr, daß sie ihrer Handtasche beraubt worden war, bekam sie einen Weinkrampf. Als man sie dann aber nach ihrem Namen und ihren Wohnsitz fragte, hüllte sie sich in Schweigen. Sie könne sich an gar nichts erinnern, erklärte sie dann. Das wurde ihr sogar geglaubt, zumindest zu dieser Zeit.

Sie konnte jedoch nicht wissen, daß nun eine Meldung nach München gegangen war mit dem Ersuchen, ob eine weibliche Person der beigefügten Beschreibung eigentlich irgendwo vermißt würde. Und so erschien am nächsten Morgen eine Zeitungsmeldung, daß eine bewußtlose Frau im Zug nach Frankfurt gefunden worden sei. Annette stieß einen leisen Schrei aus, als sie diese Meldung las.

»Die Beschreibung paßt auf Mutter«, flüsterte sie, alles vergessend, was ihr selbst Kummer bereitet hatte. »Du mußt dich darum kümmern, Heiner.«

Seine Miene und seine Gedanken waren düster. Sie verbreitet Unheil, so oder so, dachte er. Aber schließlich handelte es sich um seine Mutter.

Er nahm Annette in die Arme. »Zwischen uns darf es nicht wieder zu Differenzen kommen, Annette«, sagte er gequält. »Wer weiß, was sie sich jetzt ausgedacht hat, um uns auseinander zu bringen.«

»Sie ist krank und hilflos, Heiner«, sagte Annette vernünftig. »Und es mag ja tatsächlich so sein, daß sie durch die Wechseljahre in eine Psychose geraten ist, wie Dr. Norden vermutet hat.«

»Du mußt an dich denken und an das Baby, Liebes, und daran, daß ich dich liebe. Es darf nicht wieder soweit kommen, daß sie uns tyrannisiert.«

Er befand sich in einem tiefen Zwiespalt, als er zu dem Krankenhaus fuhr. Vier Stunden war er unterwegs, und am Ziel hatte er dann nur noch die Hoffnung, daß er am Bett einer fremden Frau stehen würde.

Fremd sah sie allerdings aus. Ihre Wangen waren eingefallen, ihre Augen waren matt und glanzlos.

»Mein Heiner«, schluchzte sie auf, »hilf mir.«

Ein Frösteln kroch durch seinen Körper, als sich ihre Fingernägel in seine Hände drückten.

»Ja, es handelt sich um meine Mutter«, sagte er zu dem Arzt. »Ihr Name ist Helma Mosch. Vielleicht ist es besser, wenn ich allein mit ihr spreche.«

Verständnisvoll zog sich der Arzt zurück, nicht ahnend, daß der Sohn bedauernswerter war als die Mutter.

»Du darfst mich nicht im Stich lassen, Heinerle«, jammerte sie. »Ich bin so verzweifelt. Sie wollen mir den Unfall anhängen, dabei ist mir doch der Wagen gestohlen worden.«

Sie könne sich an nichts erinnern, hatte der Arzt Heiner erklärt gehabt, und man müsse ganz behutsam mit ihr umgehen. Und nun wußte er, daß sie wieder einmal überzeugend simuliert hatte.

»Ich kann dir nicht helfen, wenn du mich auch belügst, Mama«, sagte er heiser.

Sie kniff die Augen zusammen. »Wie kannst du sagen, daß ich lüge? Wie kannst du das deiner Mutter sagen? Ich war dem Tode nahe. Ich wurde überfallen und beraubt. Schau mich doch an. Hast du gar kein Mitgefühl?«

»Es tut mir leid, was dir widerfahren ist, Mama, aber wir wollen bei den Tatsachen bleiben. Ich kenne diese.«

»Was willst du behaupten?« fragte sie schrill.

»Bitte, gebrauch deinen Verstand. Ich weiß, daß du dich sehr gut erinnern kannst. Als du von mir wegfuhrst, hast du Dr. Norden die Vorfahrt genommen. Er hat dich erkannt. Und einige Minuten später geschah der Unfall, bei dem eine junge Frau beträchtlich verletzt wurde.«

»Ich habe damit nichts zu tun. Ich habe niemandem die Vorfahrt genommen. Mein Wagen wurde mir gestohlen. Dr. Norden lügt. Er steckt mit Annette unter einer Decke.«

»Laß Annette aus dem Spiel. Sie ist meine Frau und wird es bleiben. Unsere Ehe wird niemand zerstören, jetzt nicht mehr. Wir werden ein zweites Kind haben, und ich werde nicht dulden, daß sie gekränkt und beleidigt wird.«

»Sie verdreht die Tatsachen. Nun scheint es ihr endlich gelungen zu sein, den Keil zwischen uns zu treiben.«

Heiner schluckte schwer. »Du erwartest von mir Hilfe, Mama, aber du bist zu keiner Einsicht bereit.«

»Ich bin krank. Ich werde falsch verdächtigt. Und nun versagst du mir dein Verständnis. Das ist zuviel.«

»Mama, jetzt hörst du mir mal zu. Du warst an jenem Abend bei mir. Du warst außerordentlich erregt, und ich gebe zu, daß ich auch nicht gerade sanft mit dir umgesprungen bin. Du warst in einer Stimmung, der bei der Verhandlung Rechnung getragen wird. Ich bin gern bereit, diesbezüglich zu deiner Entschuldigung auszusagen.«

»Was redest du von Verhandlung, von aussagen«, fiel sie ihm ins Wort.

»Es wird dir bewiesen werden, daß du den Unfall verursacht hast. Zum Glück leben die beiden jungen Menschen, und so wirst du glimpflich davonkommen. Der Führerschein wird dir entzogen werden, und eine Geldstrafe wirst du auch bekommen. Die werde ich übernehmen, wenn du jetzt vernünftig bist und die Tatsachen nicht wegreden willst.«

»Ich kann mich an nichts erinnern«, sagte sie verstockt, »an gar nichts. Ich weiß nicht, wovon du redest.«

»Man kann beweisen, daß der Wagen in dieser kurzen Zeitspanne gar nicht gestohlen werden konnte«, sagte Heiner mit einem schweren Seufzer.

Sie lachte klirrend auf. Es klang fast gespenstisch. »Und ich sollte bei dem Unfall ohne Verletzungen davongekommen sein? Das ist doch geradezu lächerlich.«

Sie kann sich tatsächlich solange etwas einreden, bis sie selbst daran glaubt, dachte Heiner tief bestürzt.

»Du hast Prellungen und Blutergüsse davongetragen. Es ist häufig so, daß man dies erst am Tag danach bemerkt«, sagte er deprimiert.

»Ich wurde im Zug niedergeschlagen, daran kann ich mich jetzt erinnern«, beharrte sie.

Er erhob sich. »Du wirst dich in so viel Widersprüche verwickeln, daß es nur gegen dich spricht, und dann kann ich dir bestimmt nicht helfen«, erklärte er. »Wenn du doch nur einmal deine Fehler eingestehen würdest. Annette hat dir doch auch nichts getan. Du kannst es nur nicht ertragen, daß ich sie liebe, und ich frage mich, was deine angebliche Liebe für mich bedeuten kann, wenn du mir dieses Glück nicht gönnst. Es ist sinnlos, darüber zu diskutieren. Verschwendete Zeit. Ich werde einen Rechtsanwalt beauftragen und ihm sagen, daß du dich in einem solchen Zustand der Verwirrung befindest, daß du eine Schuld nicht einsehen kannst.«

»Du bringst es wirklich fertig, mich als unzurechnungsfähig hinzustellen«, zischte sie.

»Das tust du selbst, Mama. So bedauerlich es auch ist, man wird an deinem Verstand zweifeln, wenn du dich weiterhin in solche Lügen und Widersprüche verstrickst. Hier glauben ja die Ärzte sogar, daß du an Gedächtnisschwund leidest. Mich kannst du allerdings nicht mehr täuschen. Ich kann nicht einmal mehr Mitleid empfinden.«

»Dann geh doch«, kreischte sie, »geh zu deiner Annette. Vergiß, daß du eine Mutter hast.«

»Dir ist wohl wirklich nicht zu helfen«, sagte er müde. »Solltest du dich doch auf dich selbst besinnen, laß es mich wissen.«

»Du mußt hierbleiben, du kannst mich nicht allein lassen«, verlangte sie.

»Ich habe auch noch einen Beruf, Mama«, erwiderte er.

Ihre Hände verkrampften sich in der Bettdecke. »Du brauchtest nur zu sagen, daß ich noch bei dir war, als dieser Unfall geschah«, sagte sie heiser.

»Nein, ich lüge nicht«, erwiderte Heiner.

»Gut, dann werde ich eben sagen, daß deine Beleidigungen mich zur Verzweiflung getrieben, mich kopflos gemacht haben.«

»Tu es«, erklärte er tonlos. »Tu das, was du tun willst, und ich tue das, was ich verantworten kann. Es ist schlimm genug, daß es soweit kommen mußte. Es wäre alles noch viel schlimmer, wenn Annette sich von mir abgewendet hätte. Lange genug habe ich ihr nämlich Unrecht getan, aber sie hatte Verständnis dafür, daß ich meiner Mutter nicht weh tun wollte. Ja, sie hat mich veranlaßt, hierher zu fahren.«

»Sie ist ein Engel«, höhnte Helma Mosch.

»Sie liebt mich trotz allem«, sagte er leise.

*

Wie soll das noch weitergehen, dachte er, als er die Heimfahrt antrat. Es war spät geworden, er fuhr in die Nacht hinein. Fast wäre ihm dann auch noch ein anderer Wagen, aus einer Seitenstraße kommend, hineingefahren, doch der bremste gerade noch, und Heiner fuhr weiter. Es war ja nichts passiert. Wie oft ging es noch gut ab, aber manchmal eben doch nicht. Dann mußte man eben dafür geradestehen.

Dachte seine Mutter denn gar nicht daran, daß es um junge Menschen gegangen war, auf die man zu Hause wohl auch gewartet hatte? Dachte sie nicht daran, daß ihm auch solches widerfahren könnte? Wie würde sie sich wohl in solchem Fall aufgeführt haben? Er konnte es sich ganz gut vorstellen, wie gnadenlos sie dann den Schuldigen verdammt hätte.

Wenn er nur die geringsten Gewissensbisse und Schuldgefühle an ihr bemerkt hätte, aber sie verschanzte sich hinter Lügen und Beschuldigungen gegen andere.

Endlich war er daheim. Verwirrt kam Annette aus dem Schlafzimmer. Geschlafen hatte sie noch nicht, aber sie hatte auch nicht damit gerechnet, daß Heiner schon so bald wieder zurückkommen würde.

Sie umarmte ihn und spürte dabei, wie er zitterte. »Du bist ja ganz erschöpft«, sagte sie besorgt.

»Ich bin froh, daß ich wieder bei dir bin«, murmelte er. »Bist du so lieb und machst mir einen Tee?«

»Freilich. Was möchtest du essen?«

Jetzt erst merkte er, daß er auch Hunger hatte. »Was da ist, Liebes. Ich verschwinde erst mal im Bad. Ich muß viel abspülen.«

Sie stellte keine Fragen. Diese Bemerkung hatte ihr viel verraten. Gut, daß sie eine Fleischbrühe gekocht hatte. Etwas Warmes würde Heiner guttun, dachte sie, als sie Schnittnudeln in die Brühe tat. Ein paar Brote richtete sie appetitlich an. Und weil ihr jetzt danach zumute war, stellte sie den Kerzenleuchter auf den Tisch.

Ein bißchen wohler sah Heiner jetzt aus. Er nahm ihre Hand und drückte sie an seine Wange. »Jetzt erst verstehe ich dich ganz«, sagte er leise. »Es war alles in allem deprimierend, Annette. Warum ist mir nur nicht früher bewußt geworden, wie egoistisch sie denkt.«

»Denk du jetzt nicht daran«, sagte Annette. »Laß die Suppe nicht kalt werden. Du schaust aus, als hättest du gar nichts gegessen.«

»Habe ich auch nicht. Es wäre mir auch nicht bekommen«, sagte er.

Sie hatte auch kaum etwas gegessen, aber nun leistete sie ihm Gesellschaft.

»Es tut mir sehr leid, daß ich nicht alles von dir fernhalten kann, Liebes, gerade jetzt nicht«, sagte er leise, als sein Hunger gestillt war.

»Ich bin froh, wenn du mich von deinen Sorgen nicht ausschließt, Liebster.«

»Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll, Annette. Sie zeigt keine Einsicht.«

Sie streichelte seine Hand. »Du kannst mir morgen alles erzählen, Heiner. Es war ein langer Tag für dich.«

»Ein schlimmer Tag«, murmelte er. »Aber ich kann nicht schlafen, bevor ich dir nicht alles erzählt habe. Ich hatte nur den einen Wunsch, bald wieder bei dir zu sein, Ruhe. zu finden, zu wissen, daß nicht auch ihr Schatten zwischen uns steht.«

»Jetzt wird er nie mehr zwischen uns stehen«, sagte Annette. »Leg dich nieder. Dann kannst du erzählen, wenn du nicht zu müde bist.«

Und als er dann erzählte, als ihre Hände ineinander verschlungen zwischen ihren Wangen lagen, wußte sie, daß sie das verflixte siebente Jahr ihrer Ehe bereits überstanden hatten, obgleich noch ein paar Monate fehlten. Jetzt waren sie so Mann und Frau, wie sie es sich ersehnt hatte.

»Nichts wird uns trennen«, flüsterte sie, als er an ihrer Schulter einschlief.

»Ich wünsche mir eine Tochter, die so ist wie du«, murmelte Heiner.

»Wir haben doch schon eine«, sagte sie, aber das hörte er nicht mehr. Tiefe Atemzüge verkündeten, daß er nun endlich frei war von quälenden Gedanken. Und dann kam ihr noch flüchtig der Gedanke, wie ähnlich Bettina ihrem Vater war, aber der zwang nur ein Lächeln um ihre Lippen, denn sie liebte ja den Vater ihres Kindes. Sie hatte alle Zweifel überwunden.

*

Auch für Winnie gab es keine Zweifel mehr, daß sie aufrichtig geliebt wurde, und dennoch war dieses Erleben wie ein schöner Traum. So schnell konnte die Liebe einen Menschen verändern. Sandra konnte nur noch staunen, doch sie war klug genug, sich dies nicht anmerken zu lassen.

Sie machte lange Ausflüge mit Nico, um dessen übergroßes Interesse an der Einrichtung des Hauses zu dämpfen, solange Leo noch anwesend war. Der mußte dann allerdings bereits am Mittwoch nach Wien zurück, um ein großes Bauprojekt zu beaufsichtigen.

Am Abend dieses Tages überraschte Winnie ihre Freundin mit der Nachricht, daß die Hochzeit bereits in zwei Wochen stattfinden würde.

»Dann seid ihr noch da und gleichzeitig wird auch das Haus eingeweiht«, erklärte Winnie freudig.

»Nun, zu deiner Hochzeit wäre ich auf jeden Fall gekommen, das hätte ich mir nicht entgehen lassen«, meinte Sandra lächelnd. »Aber so ist es natürlich praktischer.«

Es war selbstverständlich für Winnie, daß sie Trauzeugin sein sollte. Und außerdem wollte sie natürlich auch Holger dabei haben.

»Du kannst ihn fragen, wenn er am Wochenende kommen sollte«, meinte Sandra.

»Wirst du ihn heiraten, Sandra?« fragte Winnie.

»Anstecken lasse ich mich von dir nicht«, erwiderte Sandra ausweichend. »Du weißt, daß ich augenblicklich ganz andere Sorgen habe.«

»Nimm Ulrich doch nicht zu ernst. Du weißt doch, wie wankelmütig er ist. Vielleicht möchte er einfach nur in Erfahrung bringen, ob du anderweitig engagiert bist.«

»Genau das habe ich auch schon gedacht, liebe Winnie«, sagte Sandra mit sanftem Spott. »Solange es keinen bestimmten anderen Mann in meinem Leben gibt, verhält er sich abwartend, aber wehe, wenn ich dann ja zu einem andern gesagt habe, dann beginnen die Störmanöver. Ich kenne ihn besser, als du meinst. Ich habe nichts sehnlicher gewünscht, als daß er endlich mal bei einer Frau landet, die ihn ordentlich in die Zange nimmt und nicht mehr ausläßt, und die ihm den Gedanken austreibt, daß er einen Sohn aus erster Ehe hat und ihn mit eigenen Kindern beglückt. Jedenfalls ist Holger zu schade, sich mit ihm auseinanderzusetzen.«

*

Aber schon am nächsten Tag wurde Holger Arnim mit Ulrich Harrer konfrontiert, und das konnte Sandra nicht verhindern. Ulrich erschien in der Kanzlei und verlangte Sandra zu sprechen. Er hatte seinen Namen nicht genannt. Holgers Sekretärin kannte ihn nicht und so verwies sie ihn, gewöhnt, daß manche Klienten anonym bleiben wollten, an Dr. Arnim.

»Ist mir auch recht«, sagte Ulrich ironisch und überzeugt, die noch junge Sekretärin so beeindruckt zu haben, wie er es gewöhnt war.

Holger war keineswegs beeindruckt. Er hatte damit gerechnet, daß Ulrich eines Tages in der Kanzlei auftauchen würde, wenn er Sandra zu Hause nicht erreichen konnte.

»Lange nicht gesehen«, sagte Ulrich zur Begrüßung mit einem arroganten Lächeln. »Wo steckt Sandra? Ich versuche schon seit zwei Tagen, sie zu erreichen. Es lag nicht in meiner Absicht, sie bei der Arbeit zu stören.«

»Sie macht Urlaub«, erwiderte Holger kühl. »Er war lange geplant.«

»Und sie hat meinen Sohn natürlich mitgenommen«, sagte Ulrich gereizt. »Lange geplant, daß ich nicht lache.«

»Meinetwegen können Sie ruhig lachen«, sagte Holger.

»Wohin ist sie gefahren?«

»Das weiß ich nicht.«

Ulrich kniff die Augen zusammen. »Das können Sie mir doch nicht weismachen. Oder arbeitet hier jeder für sich?«

»Allerdings.«

»Ich war der Meinung, daß dies inzwischen ein Familienunternehmen geworden ist«, spottete Ulrich.

»Dann haben Sie sich geirrt, Herr Harrer«, sagte Holger. Er war die Ruhe selbst. Ulrich betrachtete ihn spöttisch, aber Holger ließ sich nicht irritieren.

»Ich habe dringende Termine«, sagte er.

»Ich habe meine Zeit auch nicht gestohlen. Ich will meinen Sohn sehen«, erwiderte Ulrich.

»Das fällt Ihnen neuerdings ein. Sie können doch nicht erwarten, daß Sandra deswegen ihre Pläne über den Haufen wirft. Wozu das eigentlich?«

»Mein Sohn kommt zur Schule. Jetzt kann man schließlich mit ihm reden.«

»Das kann man schon lange.«

»Ich konnte bisher nicht zu Wochenendbesuchen tausend Kilometer fahren. Jetzt lebe ich wieder in München. Mein Vater ist krank. Er möchte seinen Enkel auch endlich kennenlernen. Sie wissen doch sehr genau, wie die Rechtslage ist, sonst müßte ich Ihnen diese von meinem Anwalt klarmachen lassen.«

»Ich habe keinen Einfluß auf gerichtliche Bestimmungen«, sagte Holger, »aber vielleicht denken Sie auch einmal an das Kind. Wollen Sie Nico unbedingt in Konflikte stürzen? Er kennt Sie doch gar nicht.«

»Dann wird es höchste Zeit, daß er mich kennenlernt. Ich werde die Firma meines Vaters übernehmen, und eines Tages wird Nico diese übernehmen. Das können Sie meiner Frau sagen, Herr Dr. Arnim.«

»Ihrer geschiedenen Frau«, sagte Holger eisig. »Und ihr wurde das Sorgerecht für das Kind gerichtlich zugesprochen, wenn ich Sie daran erinnern darf.«

»Und eines Tages wird Nico selbst entscheiden, wer ihm die besseren Möglichkeiten für die Zukunft eröffnet«, sagte Ulrich höhnisch.

Dann ging er grußlos, und Holger blieb an seinem Schreibtisch sitzen. Nur langsam wurde er seiner inneren Erregung Herr. Nun wußte er genau, wovor Sandra sich fürchtete. Ihre schlimmen Ahnungen waren nicht grundlos.

Aber wie sollte er es ihr beibringen, wie konnte er ihr helfen? Er wußte nun auch, warum sie ihm nicht einen Schritt entgegengekommen war.

»So geht es nicht, Herr Harrer«, dachte er laut, »so einfach wird es dir nicht gemacht werden! Nicos Leben wird nicht zerstört!«

*

Nico freute sich unbeschwert über jeden Tag mit seiner Mami, und ein paarmal hatten sie nun auch schon mit dem Ömchen telefoniert, der es auf der Insel so gut gefiel, daß die Trennung viel leichter zu ertragen war, als sie gemeint hatte. Ja, es tat ihr gut, sich ganz entspannen zu können, fern aller Hektik.

Sie telefonierte auch mit Holger. Der hütete sich freilich, ihr von Ulrichs Besuch zu erzählen und er hatte sich auch vorgenommen, davon nichts zu Sandra verlauten zu lassen. Wenigstens die Ferienwochen sollte sie frei von solchen Gedanken und Sorgen genießen.

Von Heiner Moschs Sorgen blieb er nicht verschont. Heiner und Annette hatten hin und her überlegt, wie diese so fatale Angelegenheit möglichst undramatisch erledigt werden könnte und Dr. Arnim gebeten, den beiden jungen Leuten eine angemessene Entschädigung anzubieten. Doch damit war Holger nicht einverstanden.

»Solche Angelegenheiten sollten immer auf dem Rechtsweg bereinigt werden«, sagte er den beiden. »Man weiß niemals, welche Folgeschäden sich noch herausstellen. Es könnte durchaus möglich sein, daß Sie dann ein ganzes Leben zahlen müßten für etwas, was Sie nicht verschuldet haben.« Er sagte ihnen aber auch, daß es das Dümmste von Helma Mosch gewesen sei, den Wagen als gestohlen gemeldet zu haben. Den Schock, den sie erlitten hatte, hätte man strafmildernd beurteilt, die Irreführung der Polizei galt jedoch als erschwerend.

Dann bekam Heiner Mosch aus dem Krankenhaus die Nachricht, daß seine Mutter einen Schlaganfall infolge eines Blutgerinnsels im Gehirn erlitten hätte, als sie ohne ärztliche Erlaubnis das Bett verlassen hatte. Ihr Zustand sei ernst.

»Ich werde am Wochenende hinfahren müssen«, sagte Heiner beklommen.

»Dann begleite ich dich«, erklärte Annette sofort.

»Du wolltest doch zu Paps und Bettina fahren, Liebes.«

»Bettina ist gut aufgehoben. Paps ist glücklich, sie bei sich zu haben. Ihr fehlt es an nichts. Ich hätte keine Ruhe, wenn ich dich dort jetzt allein wüßte. Wir stehen das gemeinsam durch, Heiner«, sagte Annette.

»Du solltest jetzt aber keinen seelischen Belastungen ausgesetzt werden«, sagte er deprimiert, »auch keinen körperlichen.«

»Ich gehe morgen noch zu Dr. Norden«, versprach sie. »Ich möchte das Baby auch nicht verlieren, aber jetzt müssen wir zusammenhalten, Heiner.«

*

So ganz einverstanden war Dr. Norden nicht, daß Annette sich Strapazen aussetzte, aber er fand es sehr anerkennenswert, daß sie ihren kann nicht allein fahren lassen wollte. Er freute sich darüber, daß diese Ehe die Bewährungsprobe überstanden hatte. Er bedauerte aber auch, daß erst solche Probleme hatten entstehen müssen.

Was die neueste Entwicklung in Helma Moschs Zustand betraf, konnte er nur vermuten, daß sich das Blutgerinnsel durch den Unfall gebildet hatte. Er erklärte Annette, daß es häufiger der Fall war, als man meinte, daß sich solche Folgen herausstellten, wenn der Betroffene sich nicht sofort in ärztliche Behandlung begab. So hatte Helma Mosch dieses Schicksal selbst herausgefordert.

Tröstlich für Annette war es, daß die verletzte junge Frau sich bereits auf dem Wege der Besserung befand und daß für sie nachhaltige Folgen mit aller Wahrscheinlichkeit auszuschließen waren.

Beruhigend war es auch, daß Dr. Norden ihren jetzigen eigenen Zustand als gut bezeichnete, sie aber doch ermahnte, sich nicht zuviel zuzumuten.

»Heiner paßt schon auf mich auf«, sagte sie. »Aber für ihn wäre alles noch schwerer, wenn er dort allein herumsitzen würde.«

»Und Bettina gefällt es beim Opa?« fragte Dr. Norden.

»Ja, sehr. Wir hätten halt schon früher energischer klären sollen, daß auch mein Vater das Recht hat, Bettina zu sehen, genau wie sie es beanspruchte. Vielleicht wäre uns dann doch manches wirklich erspart geblieben.«

»Oder noch schlimmer geworden«, sagte Dr. Norden nachdenklich. »Ein Mensch, der sich so wichtig nimmt, sich allein, ist schwer zu belehren, Frau Mosch. Ich habe diesbezüglich schon viele Erfahrungen gesammelt.«

»Ich kann mir schwer vorstellen, daß es viele solche Menschen, vor allem solche Mütter gibt.«

»Mehr als genug. Leider sind tatsächlich oft die Schwiegermütter schuld, wenn Ehen zerbrechen, jene, die alles besser wissen und besser können.«

Ob Sandra Diehls Ehe auch deshalb zerbrochen ist, fragte sich Annette später, aber sie konnte sich nicht vorstellen, daß eine so liebe und mütterliche Frau wie Annedore Diehl ein Störenfried sein könnte.

Sie mußte jetzt überhaupt öfter an die junge Anwältin denken, deren Sohn Nico für Bettina ein Idol war.

Schön wäre es, wenn man sich öfter mal mit einer solchen Frau, die mitten im Berufsleben stand, unterhalten könnte, aber sie hatte ja gar nicht gewagt, Freundschaften zu schließen, die dann doch nur abfällig kritisiert worden wären. Und es wäre ihr doch nur zum Vorwurf gemacht worden, daß sie kostbare Zeit mit Fremden vergeuden würde, anstatt sich um die Schwiegermutter zu kümmern.

O ja, sie war damals guten Willens gewesen, Heiners Mutter über den schmerzlichen Tod des Mannes hinwegzuhelfen, eingedenk der Tatsache, wie einsam sie sich fühlen mußte. Aber von echtem, tiefem Schmerz war da nichts zu spüren gewesen.

Die hohe Rente genügte ihr nicht. Wozu extra Miete zahlen für eine Wohnung, da ja ein geräumiges Haus vorhanden sei und schließlich könnte man sich ja gegenseitig helfen.

Wie es mit der gegenseitigen Hilfe dann ausgesehen hatte, mußte Annette auch erfahren. Ganz selbstverständlich war es ja, daß die Ältere bedient und umsorgt wurde.

»Bei mir lief der Haushalt auch am Schnürchen«, wie oft hatte Annette das zu hören bekommen. Nie hatte sie ein Wochenende mit Heiner und Bettina allein verbringen können, und selbstverständlich mußte die Mama auch mit ihnen in den Urlaub fahren. Da gab es dann auch immer etwas zu meckern. Das Bett war nicht gut genug, das Essen entsprach nicht ihrem Geschmack, und wenn das Wetter nicht mitspielte, wollte sie gleich wieder heimfahren. Es hatte sich im Laufe der Zeit so allerhand an Groll in Annette angesammelt, und gerade weil sie ihn unterdrückt hatte, kamen dann die Depressionen, die Angst, wie es weitergehen sollte.

Davon war sie jetzt weitgehend frei, obgleich es ja nun auch wieder unsicher war, wie es weitergehen sollte, wenn Helma ein Pflegefall bliebe.

Aber nun war es doch anders, weil sie wußte, daß Heiner zu ihr hielt, daß er Entscheidungen in ihrem Interesse treffen würde, nicht im alleinigen Interesse seiner Mutter, die sich gegebenenfalls damit abfinden mußte, in einem Pflegeheim untergebracht zu werden.

Doch soweit sollte es dann nicht kommen. Als sie die Fahrt hinter sich gebracht hatten bei nicht zu schwülem Wetter und bedecktem Himmel und mit den Ärzten sprachen, erfuhren sie, daß Helma bereits einen zweiten Schlaganfall erlitten hatte und im Koma läge.

Vielleicht war es doch das Schuldbewußtsein, das jeden Lebenswillen in ihr zum Erlöschen brachte. Die Lun-genembolie, hervorgerufen durch die Stauchungen, hatte zur schnellen Verschlechterung ihres Zustandes beigetragen.

Es war kaum zu glauben, daß sie noch vor kurzem eine kerngesunde Frau gewesen war, diese Helma Mosch. Jetzt lag sie, ein Schatten nur noch, als Sterbende in dem Krankenhausbett.

Heiner war still und blaß. Annette wußte auch nicht, was sie sagen sollte. Im Angesicht des Todes schwiegen auch in ihr alle negativen Gedanken und Gefühle.

»Sie wird unversöhnt sterben, uneins mit sich und der Welt«, sagte Heiner, als sie zu ihrem Hotel gingen. Annette sollte sich ausruhen, und sie mußten auch etwas essen.

Es wird keine Gerichtsverhandlung mehr geben, dachte Annette. Sie wird nicht gezwungen werden, ihre Schuld einzugestehen.

Als Heiner wieder zur Klinik gefahren war, rief sie ihren Vater an. Er konnte Bettina langsam darauf vorbereiten, daß die Oma nicht mehr zurückkommen würde. Sie wußte, daß er ihr dies gern abnehmen würde.

»Warum kommt Mami nicht?« fragte Bettina auch gleich, als das Gespräch beendet war. »Papi hat doch gesagt, daß sie sich auch erholen soll.«

»Die Oma ist plötzlich schwer erkrankt, Bettina«, erwiderte Albert Breiter.

»Muß sie sterben?« fragte Bettina.

Diese Frage versetzte ihn in Bestürzung, da sie das Kranksein sogleich mit dem Sterben kombinierte.

»Ja, Bettina«, erwiderte er, »sie wird sterben.«

»Wo kommt dann das Fahrrad hin?« fragte Bettina. »Mami will doch nicht, daß ich eins bekomme. Oma hat mir eins gekauft, aber da sollte ich nur fahren dürfen, wenn ich zu ihr komme.«

»Und du hättest das vor der Mami verheimlicht?« fragte er.

»Alle Kinder haben Fahrräder«, sagte sie, »ich wollte auch eins haben.«

»Nicht alle Kinder haben Fahrräder«, widersprach er. »Aber du hättest sicher auch eines von deinen Eltern bekommen, wenn du kräftiger und vernünftiger bist. Du weißt doch, was alles passiert. Und was meinst du, was die Oma dann gemacht hätte, wenn dir etwas passiert wäre.«

»Dann wäre doch die Mami schuld gewesen«, sagte Bettina naiv. »Die Oma war nie schuld, Opi. Ich hätte es Mami ja auch gesagt, daß ich bei der Oma ein Fahrrad habe. Gekauft ist es ja. Zuerst hätte ich es Papi gesagt, und der hätte es dann wohl Mami gesagt.«

»Und jetzt ist damit Schluß«, sagte Albert Breiter mit unterdrücktem Groll.

»Wenn sie tot ist, kann sie mir nichts mehr kaufen«, sagte Bettina nachdenklich. »Dann kann sie mich auch nicht mehr einfach vom Kindergarten abholen, und Mami braucht sich nicht aufzuregen. Und dann kannst du auch mal mit uns in den Urlaub fahren.«

»Das tue ich nicht, Bettina«, sagte er.

»Warum denn nicht?«

»Weil ich finde, daß Eltern und Kinder gerade im Urlaub allein sein sollten. Ihr könnt mich gerne immer besuchen, wenn ihr Lust habt.«

»Du ziehst nicht zu uns, Opi?« fragte sie betrübt.

»Nein, ich habe doch hier mein Zuhause.«

»Das finde ich aber schade, daß du weit weg bist«, schmollte sie.

»Ich würde dir auch nichts kaufen, was die Mami nicht wissen soll, Bettina«, sagte er.

»Oma wollte Mami ja auch immer ärgern, das willst du nicht«, sagte sie. »Machen wir jetzt wieder einen schönen Ausflug, Opi?«

Dafür war er gleich zu haben und er wußte auch, wie gerne sie im Berggasthof Rast machte. Da gab es gefüllte Pfannkuchen oder Dampfnudeln mit Vanillesoße, und wenn der Hunger ganz groß war, aß Bettina vorher auch noch Schweinswürstel oder Wiener mit Kraut. Über ihren Appetit konnte er nicht klagen, und sie hatte auch schon ganz hübsch zugenommen.

»Wenn du Mami sagst, daß ich jetzt kräftig genug bin, erlaubt sie es sicher, daß ich ein Fahrrad bekomme«, erklärte Bettina, aber sonst verlor sie kein Wort über die Oma. Als sie aber am Abend müde in ihrem Bett lag, legte sie ihre Arme um den Hals des Großvaters.

»Du darfst nicht krank werden, lieber Opi«, flüsterte sie. »Ich möchte jetzt ganz oft zu dir kommen, wenn du schon nicht zu uns kommst.«

»Ich werde euch jetzt auch öfter besuchen«, erwiderte er.

»Vielleicht kriege ich jetzt doch noch Geschwister, wenn die Oma nichts mehr dagegen sagen kann.«

»Du hättest dir doch schon welche wünschen können«, meinte er diplomatisch.

»Die Oma hat aber gesagt, daß Mami nicht mal mit einem Kind fertig wird.«

»Das hätte sie nicht sagen sollen«, brummte Albert Breiter. »Du hast deine Mami doch lieb.«

»Natürlich habe ich sie lieb, aber Oma wollte doch immer, daß ich sie lieber haben soll. Sie tät sich schön ärgern, weil ich dich jetzt so lieb habe.«

Es wird alles in Ordnung kommen, dachte er, auch in ihrer kindlichen Seele.

Helma Moschs Leben verlöschte noch in dieser Nacht. War sie sich ihrer Fehler nicht bewußt geworden, auch ihres Sterbens wurde sie sich nicht bewußt. Der schnelle Tod wurde durch ein Nierenversagen herbeigeführt.

Heiner hatte in der Klink ausgeharrt, doch von den widersprüchlichsten Empfindungen bewegt. Wenn sie doch nur bei seinem ersten Besuch einsichtiger gewesen wäre, hatte er gedacht, wenn sie den guten Willen gezeigt hätte zu einer Versöhnungsbereitschaft, dann wäre ihm jetzt doch nicht so elend zumute gewesen. Aber nun hatte das Herz zu schlagen aufgehört, und doch zeigte ihr Antlitz nichts von innerem Frieden. Es war nur erstarrt.

Und er hatte es nicht über sich gebracht, diese knochigen Hände zu berühren. Heiner Mosch war um Jahre gealtert in diesen Tagen, aber er war auch reifer geworden. Er wußte, wohin er gehörte, wem seine Liebe gehörte. Er ging dann zu Fuß durch die nächtlichen Straßen und atmete tief die kühle Nachtluft ein.

Annette richtete sich in ihrem Bett auf, als er das Hotelzimmer betrat. Sie sah ihn nur an, sprach kein Wort.

»Es ist ausgestanden, Annette«, sagte er leise.

Sie streckte die Hände nach ihm aus und streichelte mit ihren Lippen sein Gesicht, als er sie in die Arme nahm.

»Ich bin müde«, flüsterte er, »entsetzlich müde.«

Und es kommt ein neuer Tag, ein neues Leben, dachte sie.

*

Ein neuer Tag brach an. In Kärnten schien die Sonne, während Annette beim Erwachen in einen grauen Himmel blickte. Er paßte zu ihrer Stimmung, doch sie tröstete sich mit dem Gedanken, daß auch diese Tage bald überstanden sein würden.

Sandra dagegen begann den Tag voll ungeduldiger Erwartung. Sie wollte es sich nicht eingestehen, aber sie wartete tatsächlich sehnsüchtig auf Holger. Und auch Nico schaute zum Fenster hinaus und sagte: »Na, hoffentlich kommt er bald, damit wir baden gehen können. Heute ist es ganz toll heiß, Mami.«

Lange brauchten sie nicht zu warten. Holger war schon beim Morgengrauen losgefahren, ebenfalls schon voller Ungeduld. Ihm war die Woche viel zu lang erschienen, obgleich er viel Arbeit gehabt hatte.

»Gut, daß Winnie schon im Haus wohnt und wir das Zimmer für Holger frei haben«, sinnierte Nico, während er vor dem Haus auf und ab spazierte und Ausschau nach Holgers Wagen hielt, und endlich sah er ihn kommen. Da war er nicht mehr zu halten. Mit Jubelrufen sprang er ihm entgegen und ließ sich dann auch liebend gern durch die Luft schwenken.

»Na, du hast aber schon zugenommen«, schnaufte Holger. »Donner und Doria, und braun seid ihr beide schon.«

Er sah Sandra bewundernd an, und ein zärtliches Lächeln legte sich um seinen Mund.

»Und der arme Holger muß arbeiten«, sagte Nico mitleidvoll.

»Deshalb werden wir ihm auch Ruhe gönnen«, sagte Sandra mahnend zu Nico, als der schon bald zum Aufbruch drängte.

Doch Holger ließ sich gern drängen. Ihn verlangte es auch nach einem erfrischenden Bad. Sandra und Nico hatten schon ein ruhiges und schönes Plätzchen am See erkundet. In der Kühlbox hatte Sandra alles verstaut, was für ein Picknick benötigt wurde. Und nachdem sie sich eine gute Viertelstunde im Wasser getummelt hatten, schmeckte es ihnen doppelt gut.

Nico hatte von Winnie und Leo berichtet und seiner Freude Ausdruck gegeben, daß sie nun bald eine fröhliche Hochzeit feiern würden, dann aber machte er sich auf die Beine, um die Gegend zu erkunden.

*

So keck und naseweis wie er auch sonst manchmal sein mochte, hatte er es doch im Gefühl, wenn er überflüssig war. Nicht so, daß es ihm weh tun konnte, er merkte einfach nur, daß seine Mami und Holger sich so manches zu sagen hatten. Ja, Nico machte sich schon seine eigenen Gedanken, obgleich er doch noch ein kleiner Junge war.

Gut wäre, wenn Holger mein Papi wäre, dachte er jetzt wieder, während er durch hohes Gras wanderte und den bunten Schmetterlingen nachblickte. Dann könnte nämlich der andere nicht kommen und von ihm verlangen, daß er mit ihm reden solle. Irgendwie war dieser Gedanke Nico sehr unbehaglich. Da wehrte sich in ihm etwas dagegen. Und vielleicht gab es dann da auch noch so eine Großmutter, wie Bettinas eine war. Der Gedanke war fast noch schlimmer.

Ein tiefer Seufzer rang sich aus seiner Brust. Er hatte plötzlich Sehnsucht nach seinem Ömchen, und verstohlen wischte er sich auch ein paar Tränen ab, die plötzlich über seine Wangen kullerten. Am allerschönsten war es doch, wenn sie alle beisammen waren. Holger war ja auch oft bei ihnen. Aber es wäre eben doch sehr schön, wenn er sagen könnte, das ist mein Papi, wenn er zur Schule gehen würde.

Bei der Einschreibung war er sehr erschrocken gewesen, als nach seinem Namen gefragt wurde.

»Ich heiße Nico Diehl«, hatte er gesagt.

»Hier steht aber Harrer«, hatte die Lehrerin gesagt, und Ömchen war dann verlegen geworden. Sie hatte ihn weggeschickt und mit der Lehrerin gesprochen. Und er hatte gelauscht und gehört, wie die Lehrerin sagte: »Leider ist das nicht so einfach, Frau Diehl. Ich muß mich an die Vorschriften halten.«

Und während Nico versuchte, sich alles zurechtzulegen, was er dann mit seiner Mami und Holger besprechen wollte, sprachen diese beiden schon über die Probleme, die es zu bewältigen galt. Und Holger kam nicht umhin, Sandra von Ulrichs Besuch zu erzählen.

Sie wurde blaß unter der Sonnenbräune. »Ich habe es ja geahnt«, sagte sie bebend, »er wird mir jetzt erst recht Knüppel zwischen die Beine werfen. Er weiß doch, wie es zugeht, wenn Kinder zur Schule kommen. Er spielt diesen Vorteil aus, daß Nico seinen Namen trägt, und ich kann dagegen gar nichts unternehmen, Holger. Selbst wenn wir vorher heiraten würden, nützte es uns diesbezüglich nichts. Dann würde ich zwar Arnim heißen, aber Nico immer noch Harrer. Er fragt doch nicht danach, was das Kind empfindet. Das ist ihm doch gleichgültig. Er verzeiht es mir niemals, daß ich ihm meine Verachtung gezeigt habe. Ich habe es gewußt, daß er solange wartet, bis sein Name die Rolle spielt, die er auch in meinem Leben spielen sollte. Bisher war Nico eben nur Nico und mein Sohn. Nun sorgt die Bürokratie dafür, daß er als Vater in Erscheinung tritt, und ich ahne schon jetzt, daß er zur Einschulung da sein wird, mit Film und Fotoapparat, mit dem tollsten Auto, das er auftreiben kann. Er wird sich seinen Auftritt verschaffen, um mich bloßzustellen.«

»Noch ist es nicht soweit, Sandra. Du darfst nicht alles zu schwarz sehen. Nico ist nicht das einzige Kind aus einer geschiedenen Ehe.«

»Aber er hat einen eitlen, rachsüchtigen Vater. Ihm kommt es nicht darauf an, Nicos Seele zu vergiften, wenn er mich nur irgendwie verletzen kann.«

»Ich bin da, Sandra. Ich liebe dich, und ich liebe Nico. Ich will, daß er ein fröhliches Kind bleibt. Ich werde alle Möglichkeiten ausschöpfen, um Nico vor diesem Mann zu schützen.«

Sie ahnten nicht, daß Nico schon ganz nahe war und jedes Wort hören konnte. Und der Junge wagte nicht mal zu atmen, um nur alles zu hören, was da gesprochen wurde.

»Ich würde dich ja heiraten, Holger, ich liebe dich doch auch, aber ich weiß, daß Ulrich alles tun wird, um unsere Kreise immer wieder zu stören. Er wird Mutsch kaputtmachen, zum zweiten Mal. Sie hat damals mehr gelitten als ich. Ich habe nicht an die Zukunft gedacht, ich wollte nur frei sein von ihm. Aber Mutsch hatte ihn bis ins Innerste durchschaut.«

»Schaffen wir uns nicht noch zusätzliche Probleme, Sandra. Du weißt, wie geduldig ich warte, meinetwegen noch Jahre warten würde. Es wird nie eine andere Frau für mich geben, und wir werden uns Nico niemals wegnehmen lassen.«

Sandra richtete sich auf. »Er ist schon so lange weg«, flüsterte sie.

»Ich werde ihn suchen, Liebes. Reg dich nicht gleich wieder auf.«

Nico huschte davon und versteckte sich. Als Holger laut seinen Namen rief, rief er zurück: »Hier bin ich doch, such mich mal.« Aber anstatt auf ihn zuzulaufen, kroch er weiter und erst, als er schon dicht am Haus war, begann er zu kichern. »Hier bin ich, ich habe Hunger, Hunger, Hunger.«

Und dann fiel er Holger in die Arme.

»Ich habe euch nicht gefunden«, schwindelte er. »Ich bin von der andern Seite gekommen, weil ich den Schmetterlingen nachgelaufen bin. Es gibt wunderschöne Schmetterlinge, Holger. Kennst du alle beim Namen?«

»Alle nicht, aber viele.«

»Ich kenne aber fast alle«, sagte Nico stolz.

»Ich weiß ja, wie gescheit du bist, Nico, und deshalb können wir ja auch wie Freunde miteinander reden.«

»Du bist doch auch mein Freund. Mit den Buben kann ich nicht Freund sein, die sind dumm und raufen nur. Eigentlich habe ich mich nur mit Bettina richtig vertragen.«

Auf seine Weise drückte er aus, was jetzt in seinem Köpfchen vor sich ging, denn keinesfalls wollte er eingestehen, daß er gelauscht hatte. Das, was er gehört hatte, mußte er noch verarbeiten, doch nun wußte er genau, daß Holger ihn liebhatte und ihn beschützen wollte. Aber er wußte auch, daß seine Mami sich Gedanken machte wegen der Namen. Das war auch wirklich nicht einfach zu begreifen.

Nico überlegte angestrengt, wieviel Wochen noch verstreichen würden bis zum Schulbeginn. Das war ja noch eine ganz schön lange Zeit. Aber Jahre wollte er wirklich nicht warten, bis Holger sein Papi wurde.

Nico dachte sehr viel nach an diesem Tag, und dabei kam er zu dem Entschluß, diesem Mann, dessen Namen er tragen mußte, gehörig die Meinung zu sagen, daß er ihn als Vater nicht haben wolle.

*

Diese zwei Tage vergingen Sandra viel zu schnell. Am Sonntag waren sie dann auch noch für zwei Stunden mit Winnie und Leo beisammen. Die beiden Männer verstanden sich sofort sehr gut, und es war schnell beschlossen, daß Holger der zweite Trauzeuge sein sollte. Gern wollte Winnie auch Annedore Diehl bei der Hochzeit dabei haben, und auch da genügte ein kurzer Anruf, um ihre freudige Zustimmung zu erhalten.

»Dann kannst du Ömchen abholen von der Insel«, meinte Nico zu Holger, »und dann kommt ihr zusammen her. Und nachher fahren wir dann alle zusammen nach Hause.«

Er hätte so gern mal allein mit Holger gesprochen, aber es ergab sich einfach keine Gelegenheit. Und mit seiner Mami wollte er dann auch nicht dieses leidige Thema, das ihn unentwegt beschäftigte, besprechen, da er merkte, daß sie gar nicht fröhlich gestimmt war.

»Warum heiratest du Holger eigentlich nicht, Mami?« fragte er dann aber doch eines Tages, als der Termin von Winnies Hochzeit nun schon vor der Türe stand.

»Wir werden schon mal heiraten«, erwiderte sie geistesabwesend. »Es gibt da noch Probleme.«

»Meinetwegen«, sagte er nachdenklich. Sandra erschrak. Sie wußte nicht gleich eine Antwort.

»Weil ich den anderen Vater habe«, fuhr Nico fort, »den, der Harrer heißt. Ich will aber wirklich nicht, daß sie mich in der Schule so anreden.«

»Wir werden das schon regeln, Nico«, erwiderte Sandra. »Mach dir darüber keine Gedanken.«

»Du machst dir auch welche«, meinte er.

»Übermorgen kommt Ömchen. Ihr wollen wir darüber nichts sagen.«

»Ist doch klar, Mami, sie soll sich nicht aufregen.«

Die Wochen auf der Insel der Hoffnung hatten bei Annedore Diehl Wunder bewirkt. Ihre Nerven waren gestärkt, sie sah blendend aus und verströmte Ruhe und Zuversicht.

Es wurde eine wunderschöne Hochzeit gefeiert. Winnie sah in dem festlichen Brokatdirndl bezaubernd weiblich aus, und Leo sah man es auch an, wie glücklich er war.

Zum Sektfrühstück nach der standesamtlichen Trauung waren die Mitarbeiter von Leo und die Handwerker gekommen. Die kirchliche Trauung fand in einer weiter entfernt gelegenen Dorfkapelle unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. So hatten es Winnie und Leo gewünscht.

Voller Andacht folgte Nico dieser Zeremonie. Es entging ihm aber dennoch nicht, daß Holger Sandras Hand an seine Brust drückte und sie ihren Kopf an seine Schulter lehnte. Nico war zufrieden. Er erklärte seinem Ömchen wenig später, daß die Mami und Holger wohl auch bald heiraten würden.

»Schön wär’s ja!« entfuhr es Annedore.

»Ich werde schon dafür sorgen«, erklärte er.

Was ihn unentwegt beschäftigte, wußte Annedore nicht. Sie war nur sehr erstaunt, als Nico kategorisch nein sagte, als sie den Vorschlag machte, daß er mit ihr doch noch bis zum Schulbeginn in Kärnten bleiben könne.

»Jetzt habe ich lange genug Ferien gemacht«, sagte er. »Ich will wissen, wie es Bettina geht. Sie denkt sonst, daß ich nicht mehr ihr Freund sein will.«

Sandra hatte von Holger zwar erfahren, daß Helma Mosch gestorben und bereits begraben war, aber sie

hatte Nico davon nichts gesagt. Nun aber sagte sie es ihm.

Er riß staunend die Augen auf. »Sie sah aber nicht krank aus«, sagte er nachdenklich. »Und sie konnte ganz schön schimpfen mit Frau Mandi.« Ängstlich blickte er dann seine Omi an. »Gell, du bist gesund, Ömchen«, flüsterte er.

»Ich fühle mich sehr wohl«, beruhigte sie ihn.

»Was wird wohl Bettina gesagt haben«, überlegte Nico.

»Soviel ich weiß, ist sie noch bei ihrem Opa im Gebirge«, erklärte Holger.

Nico sah ihn verblüfft an. »Sie hat einen Opa?« staunte er, »das wußte ich gar nicht. Hoffentlich ist er netter als die Oma.«

Doch nach diesem Gespräch wich er nicht mehr von seines Ömchens Seite, und ständig erkundigte er sich danach, ob sie sich auch richtig wohl fühlte. Der plötzliche Tod von Bettinas Oma beschäftigte ihn auch nachhaltig.

Sandra dagegen war beruhigt, daß es in der Ehe der jungen Moschs nun wieder harmonisch zuging. Sie versprach Nico dann auch, daß er Bettina bald einladen dürfe.

Winnie und Leo verbrachten ihre Flitterwochen in ihrem wunderschönen Haus. Da hatte Winnie tatsächlich zeigen können, was in ihr steckte. Es war ein Traumhaus.

»Ihr wißt, daß ihr uns jederzeit willkommen seid«, sagte Winnie beim Abschied.

»Hast du das nächste Mal, wenn wir kommen, auch ein Kind?« fragte Nico sofort.

»So schnell wird es wohl nicht gehen«, erwiderte Winnie, und dabei wurde sie tatsächlich ein bißchen verlegen.

»Hast du gar kein Ömchen?« fragte Nico dann, »ich meine, wenn du mal Kinder hast?«

Damit konnten Winnie und Leo nicht aufwarten, und Winnie meinte, daß Nico froh sein könne, ein so liebes Ömchen zu haben.

»Aber noch schöner wär’s, wenn Holger von Anfang an mein Papi wäre«, raunte er ihr zu. »Ein bißchen bange ist mir schon, wenn der andere kommt.«

Winnie war es auch bange, um das Kind und auch um ihre Freundin. In dieser Situation fühlte sie sich ganz hilflos.

»Ist ja auch blöd, daß Sandra ausgerechnet an diesen Hallodri geraten mußte«, sagte sie zu Leo, als sie denn den wehmütigen Abschied hinter sich gebracht hatten. »Ich bin wirklich froh, daß mir so was erspart geblieben ist.«

»Hoffentlich enttäusche ich dich nicht«, meinte er neckend.

»Ich ziehe dir die Ohren lang«, erwiderte sie. »Aber wie man sieht, jung gefreit hat doch manchmal schon gereut.«

»Für uns war es aber höchste Zeit, damit unsere Kinder nicht zu alte Eltern bekommen«, meinte er.

»Willst du gleich mehrere?« staunte Winnie.

»Nicht auf einmal, aber hübsch nacheinander. Ich habe so an drei gedacht.« Winnie versank in Schweigen.

»Was meinst du?« fragte Leo verhalten.

»Schön wäre es«, sagte sie träumerisch. »Hoffentlich bin ich nicht wirklich schon zu alt. Ein bißchen bange ist mir schon.«

»Du bist noch keine dreißig, ich gehe schon auf die Vierzig zu, aber mir ist nicht bange, Winnie, jetzt nicht mehr, da du meine Frau bist.«

Sie waren glücklich. An ihrem Ehehimmel gab es keine Wolken, und Winnie hoffte innig, daß es auch so bleiben würde. Sie waren ja nicht mehr so jung, und jeder hatte seine Erfahrungen gemacht.

*

Zu Hause sei es auch wieder schön, hatte Nico festgestellt, doch Annedore entging es nicht, daß er lange nicht so lebhaft war wie früher. Oft ertappte sie ihn, daß er ganz still dasaß und vor sich hin starrte.

Nico wartete, voller Unsicherheit und freudlos, aber er wartete darauf, daß Ulrich Harrer, sein Vater, erscheinen würde. In ihm hatte sich so viel aufgestaut, was er loswerden wollte.

»Wir könnten ja mal vorbeischauen bei den Moschs, ob Bettina wieder daheim ist«, schlug Annedore vor, weil sie vermutete, daß er über seine kleine Freundin nachdachte.

»Ja, das können wir«, sagte Nico sofort bereitwillig.

Es war kein allzu weiter Weg, aber sie trafen niemand an.

»Sie werden sicher noch bei dem Opa sein«, meinte Nico nachdenklich, »aber wenn die Schule anfängt, müssen sie ja heimkommen. Habe ich eigentlich auch einen Opa, Ömchen? Ich meine einen, der Harrer heißt?«

Annedore zuckte zusammen. Nun hatte Nico doch dieses leidige Thema aufgegriffen, das auch sie so gern aus ihren Gedanken verbannen wollte.

»Ich weiß gar nicht, ob der noch lebt«, erwiderte sie ausweichend.

Nach kurzem Schweigen sagte Nico: »Das war sicher kein lieber Opa. Ist ja egal. Ich werde den Harrer einfach so ärgern, daß er gerne wegbleibt.«

»Ich hoffe, daß er gar nicht kommt«, murmelte Annedore.

»Aber Mami hat gesagt, daß er nicht zu bremsen ist. Reg dich darüber aber nicht auf, Ömchen. Das mußt du mir versprechen. Ich wollte ja eigentlich gar nichts sagen. Ich finde es nämlich blöd, wenn man einen Vater hat, den man gar nicht kennt.«

Nun, er sollte ihn bald kennenlernen, schneller als alle geahnt hatten. Als er mit seiner Omi heimkam, stand Ulrich Harrer vor der Tür. Das heißt, er saß noch in seinem Wagen, stieg dann aber schnell aus und begrüßte Annedore sehr höflich.

»Guten Tag, Nico, ich bin dein Vater«, sagte er dann.

Nico musterte ihn von Kopf bis Fuß.

Sonnengebräunt war Ulrich, sportlich gekleidet, und sein Lächeln war überaus freundlich.

»Tag«, sagte Nico lakonisch.

»Willst du mir nicht die Hand geben?« fragte Ulrich.

»Die ist dreckig. Ich muß mich erst waschen«, sagte der Junge.

»Dann wasch dich, und dann fahren wir spazieren«, sagte Ulrich.

»Ich muß erst meine Mami fragen, ob sie es erlaubt«, sagte Nico.

»Deine Großmutter wird es erlauben«, sagte Ulrich.

»Ich erlaube es nicht«, erwiderte Annedore steif. »Jedenfalls nicht, wenn Sandra nicht zustimmt. Ich weiß nur, daß ein Samstag im Monat bewilligt ist.«

»Müssen wir vor dem Kind darüber sprechen?« fragte Ulrich gereizt.

»Ich weiß Bescheid«, warf Nico ein. »Mami hat schon mit mir gesprochen. Aber ich kenne Sie überhaupt nicht.«

»Ich habe dir gesagt, daß ich dein Vater bin, und deine Großmutter wird es bestätigen.«

»Trotzdem kenne ich Sie nicht«, sagte Nico bockig. »Ich bin sechs Jahre alt und habe Sie noch nie gesehen.« Er blieb konsequent bei dem Sie, und er versetzte Ulrich damit in ratlose Verblüffung.

»Als du klein warst, habe ich dich oft gesehen«, sagte er.

»Daran kann ich mich aber nicht erinnern. Es mag wohl zu lange her sein.«

Seine gesetzte Ausdrucksweise irritierte Ulrich noch mehr. »Wir werden uns kennenlernen, Nico«, sagte er. »Es tut mir ja leid, daß ich dich nicht früher besuchen konnte.«

Nico legte den Kopf zurück. »Mir ist es nur recht«, erklärte er. »Haben Sie schon mit Mami gesprochen.«

Ulrich starrte Annedore feindselig an. »Diese Redewendungen sind doch nicht auf Nicos Mist gewachsen«, brauste er auf.

Nicos Augen sprühten Feuer. »Bei uns gibt es keinen Mist«, fauchte er, »bei mir auch nicht. Ich bin nicht dumm. Ich komme in die Schule. Ich bin nämlich auch schlauer als die meisten Kinder. Sie können ja Frau Mandi fragen.«

Ulrich änderte seinen Ton. »Ich habe mich so darauf gefreut, dich zu sehen«, sagte er. »Wir werden uns bestimmt gut verstehen, Nico.«

»Ich gehe erst mit, wenn Mami sagt, daß es nicht anders geht«, erklärte Nico trotzig.

»Gut, ich werde mit ihr sprechen, aber ich habe ein Recht darauf. Am Samstag hole ich dich.«

*

»Nun regst du dich doch auf, Ömchen«, sagte Nico betrübt, als sie im Hause waren. »Du zitterst ja richtig. Werde bloß nicht krank. Ich rufe lieber gleich Dr. Norden an.«

»Ach was, ich werde schon nicht krank.«

»Der denkt, ich falle ihm gleich um den Hals«, sagte Nico grimmig. »Der will uns doch bloß ärgern. Der kann es nicht leiden, daß wir ohne ihn auskommen, aber das werde ich ihm schon noch sagen. Ich lasse mich nicht bestechen.«

Zuerst der Schrecken, nun machte das Erstaunen Annedore atemlos. Er ist doch erst sechs Jahre, noch ein kleiner Junge, dachte sie, aber er benimmt sich wie ein großer.

»Du bist sehr vernünftig«, sagte sie tonlos.

»Ich bin ja vorbereitet. Mami hat vernünftig mit mir gesprochen«, sagte Nico. »Ich finde es einfach dumm, daß er jetzt daherkommt, richtig dumm. Was denkt er sich denn eigentlich?«

Annedore konnte nur die Schultern zucken. Sie fühlte sich ihrem Enkel jetzt nicht gewachsen.

»Ich werde jetzt mit Mami telefonieren«, sagte Nico, und schon wählte er die Nummer von der Kanzlei. Er wurde aber mit Holger verbunden.

»Ist Mami nicht da, Holger, ich muß ganz dringend mit ihr reden«, sagte er.

»Sie hat gerade eine Besprechung, Nico. Kann ich ihr etwas ausrichten?« fragte Holger, der berechtigte Ahnungen hatte, denn eben war Ulrich in der Kanzlei erschienen und in Sandras Büro gestürmt.

»Sag ihr, daß der Harrer hier war und mich abholen wollte, und sie soll sich von ihm ja nicht Märchen erzählen lassen. Ich hab’s ihm nämlich ordentlich gegeben, und ich sage auch bloß Sie zu ihm. Der wird schon noch was erleben.«

Da wäre Holger doch beinahe ein Lä­cheln gekommen, obwohl er sich keineswegs wohl in seiner Haut fühlte.

»Gut, ich werde es ihr ausrichten. Wir reden dann noch darüber, Nico. Es wird alles nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wird.«

»Das werde ich Ömchen sagen«, erwiderte Nico. »Sie zittert nämlich. Ich aber nicht«, versicherte er.

*

Sandra zitterte auch nicht. Kalt blickte sie ihren geschiedenen Mann an.

»Es wäre sehr nett, wenn du mir sagen würdest, was du eigentlich bezweckst, Ulrich«, begann sie. »Ich würde dich besser verstehen, wenn du schon früher Interesse für Nico gezeigt hättest.«

Sie ist noch schöner geworden, dachte er, aber auch noch unnahbarer war Sandra. Er hatte sich immer unsicher gefühlt, wenn sie ihn so forschend gemustert hatte, und gewurmt hatte es ihn, wenn er sich ihr unterlegen fühlte. Ihre Intelligenz, ihr universelles Wissen hatten ihn schockiert und ihm bewußt gemacht, wieviel ihm fehlte, und das wurde jetzt noch deutlicher. Es machte ihn aber auch aggressiv.

»Ich will für meinen Sohn kein Fremder sein«, stieß er hervor.

»Das bist du aber«, sagte sie kühl. »Was erwartest du eigentlich?«

»Wir haben uns doch freundschaftlich getrennt, Sandra. Ich habe zumindest erwarten können, daß du in Nico keine Aggressionen gegen mich erzeugst.«

»Das lag mir fern. Wir haben dich nicht erwähnt. Er hat nicht nach dir gefragt, dich nicht vermißt, also was sollte ich ihm erzählen? Ich habe ihn jetzt nur darauf vorbereitet, daß du ab und zu kommen würdest, um einen Tag mit ihm zu verbringen. Das mußte ich ja leider, da du darauf bestehst. Aber vielleicht denkst du mal darüber nach, daß man bei einem Kind mit einer Pflichtübung überhaupt nichts erreichen kann. Wenn du plötzlich Vatergefühle verspürst, solltest du vor allem daran denken, daß das Leben und die Entwicklung des Kindes nicht gestört werden sollten.«

»Ich habe nicht die Absicht. Ich möchte von Nico nur nicht als fremder Mann oder gar als Feind betrachtet werden. Hast du je daran gedacht, daß dir auch mal etwas zustoßen könnte, Sandra?« begehrte er auf. »Dann nämlich wäre ich der nächste Mensch für Nico, nicht deine Mutter.«

Sandras Miene wurde eisig. »Du hast immer noch eine überaus liebenswürdige Art«, sagte sie abfällig, »aber vielleicht denkst du auch daran, daß dir auch etwas zustoßen könnte. Dann würde sich für Nico nämlich nichts ändern, außer der Tatsache, daß ein Gerichtsbeschluß außer Kraft gesetzt wird. Würde aber mir etwas zustoßen, bekäme er einen Amtsvormund, der sich sehr genau an das Scheidungsurteil halten würde. Nico würde dann wohl in einem Heim untergebracht werden. Für den Fall meines Todes habe ich allerdings schon sehr genaue testamentarische Bestimmungen getroffen, und ich hoffe, daß ich dir nicht den Gefallen tue, vorzeitig das Zeitliche zu segnen.«

»Mein Gott, dreh mir doch nicht das Wort im Munde herum. So habe ich das doch nicht gemeint. Wir waren verheiratet, wir waren sogar glücklich, und wenn du nicht aus jeder Mücke einen Elefanten gemacht hättest, wären wir heute noch verheiratet.«

»Du willst damit sagen, wenn ich die geduldige oder besser gesagt duldsame Frau gewesen wäre, die bei deinen Amouren und sonstigen Extravaganzen immer beide Augen zugedrückt hätte. Unsere Ehe war ein Irrtum, aber manches könntest du gutmachen, wenn du Nico jetzt in Ruhe lassen würdest.«

»Nun, vielleicht ist Nico eines Tages ganz froh, einen Vater zu haben, der sich mehr um ihn kümmert als seine karrieresüchtige, superkluge Mutter«, sagte Ulrich spöttisch. »Ich hole ihn Samstag ab, und du wirst es nicht verhindern.«

»Nico ist darauf vorbereitet«, sagte Sandra tonlos.

*

Als er gegangen war, war es mit ihrer Beherrschung zu Ende. Auch Holger vermochte nicht, sie zu trösten.

»Ich werde es mir nie verzeihen, daß Nico einen solchen Vater hat«, flüsterte sie.

»Wir wollen das Wort Vater nicht gebrauchen, Sandra«, sagte Holger. »Verlassen wir uns auf Nico.«

»Er ist doch ein Kind, und Ulrich wird alles tun, ihm jeden Wunsch zu erfüllen.«

»Sollte ich Nico besser kennen als du?« fragte er sanft. »Aber jetzt siehst du einfach zu schwarz, Sandra. Du darfst den Kopf nicht in den Sand stecken. Überleg einmal, wie oft du in Scheidungssachen schon gesagt hast, daß man auch den Kindern das Recht einer Entscheidung zubilligen müsse. Du wirst doch nicht annehmen, daß Nico sich gegen dich und sein Ömchen entscheiden könnte.«

Sandra hob den Kopf. »Wie kann ich nur so kleinmütig sein, Holger«, flüsterte sie. »Aber mir war so elend, als wir uns gegenübersaßen. Ich konnte es einfach nicht begreifen, daß ich ihn geheiratet habe. Er war damals doch auch nicht anders als heute.«

»Und das mag der Unterschied sein, Sandra. Du bist älter und klüger geworden, er eben nur älter und nicht klüger. Wie wäre es, wenn du einmal mit seinem Vater sprechen würdest?«

»Wozu könnte das gut sein?« fragte sie tonlos.

»Ich habe Erkundigungen eingezogen. Er ist tatsächlich krank, und er ist geschieden von seiner jungen Frau, und außerdem hat er sich ein bißchen zu wenig um seinen Betrieb gekümmert. Man sagt, daß sein Verhältnis zu seinem Sohn keineswegs gut ist.«

»Man sagt«, murmelte Sandra. »Vielleicht setzt er Hoffnungen auf seinen Enkel. Soll ich ihm auch noch nachlaufen?«

»Sein Enkel ist sechs Jahre, und ein kranker Mann von fast siebzig Jahren, dem der Enkel bisher ebenso gleichgültig war wie der Sohn dem Vater, wird kaum zwanzig Jahre weiterdenken in die Zukunft. Aber warten wir ab, was der Samstag bringt.«

»Daß du so ruhig bleiben kannst«, sagte Sandra bebend.

Er war nicht so ruhig, wie er sich gab, aber sollte er alles schlimmer machen?

*

Und der Samstag kam. Die Familie Norden hatte sich auf diesen Tag gefreut, denn sie waren eingeladen, an der Einweihungsfeier einer Kinderklinik teilzunehmen. Anneka war nicht so begeistert davon wie ihre Brüder.

»Ich bleibe lieber bei Lenni«, verkündete sie.

»Aber warum denn?« fragte Fee.

»Nachher behalten sie mich da, wenn ich niesen muß«, erklärte Anneka.

»Warum mußt du niesen?« fragte Daniel.

»Weil ich Schnupfe habe.« Sie sagte immer Schnupfe ohne n.

»Wegen einem Schnupfen kommt man nicht in die Klinik«, wurde sie von Fee beruhigt.

»Sie heult, weil ihr die Kinder leid tun, die in der Klinik liegen müssen«, sagte Danny.

»Tun mir auch leid«, schluchzte Anneka gleich los. »Will nie in die Klinik, nie, nie.«

»Du brauchst ja nicht in die Klinik«, sagte Danny tröstend. »Papi ist Arzt und Mami auch.«

»Aber so ein Glück haben nicht alle Kinder«, sagte Felix.

Er war eigentlich auch so ein Blümchen Rührmichnichtan gewesen, aber in der letzten Zeit hatte er sich gemausert, denn auch ihm stand nun der erste Schulgang bevor, und dafür machte er sich stark.

»Wenn Anneka lieber bei Lenni bleiben will, lassen wir sie eben hier«, sagte Daniel Norden. »Aber du darfst Lenni dann nicht die Ohren volljammern, wenn wir länger ausbleiben, Schätzchen«, redete er auf seine Jüngste ein. »Wir bleiben den Tag am See, wenn die Feier vorbei ist.«

Da wollte Anneka dann doch lieber mitfahren. Es war ein schöner, sonniger Tag. Nicht zu warm, wie schon so manche in diesem Sommer, die tropische Hitze gebracht hatten.

Mit Dr. Seeberg war Dr. Norden durch einen ganz besonderen Fall bekannt geworden, der allerdings schon Jahre zurücklag. Dr. Norden hatte ein kleines Mädchen behandelt, das an schwerem Asthma litt. Als der Vater des Kindes eine Stellung in einer Stadt annahm, die sechzig Kilometer von München entfernt lag, hatte Dr. Norden Erkundigungen nach einem Arzt eingezogen, der die Behandlung des scheuen Kindes fortführen konnte, und da war er durch seinen Schwiegervater Dr. Cornelius auf den Kinderarzt Dr. Seeberg aufmerksam gemacht worden.

Dem war es dann tatsächlich gelungen, die kleine Patientin zu heilen. Allerdings schob er es ganz bescheiden auch auf die Luftveränderung, die dem Kind sehr geholfen hatte.

Und nun, vier Jahre später, hatte Dr. Philipp Seeberg seinen langgehegten Plan verwirklichen können und die Kinderklinik gebaut auf einem Grundstück, das ihm ein alter Onkel vererbt hatte.

»Seeberg-Klinik am See«, sollte sie heißen, denn sie lag oberhalb des Sees.

»Sehr hübsch«, sagte Fee. »Richtig romantisch.«

»Ein duftes Haus«, sagte Danny.

»Das ist die Klinik«, erklärte Daniel.

»Sieht aber gar nicht so aus«, meinte Anneka, und ihr Gesichtchen hellte sich auf.

Dreißig Betten für den Anfang wären genug, hatte Dr. Seeberg gemeint, und teuer genug war auch das geworden. Doch der junge Arzt hatte seinen Wunschtraum verwirklicht und war bereit, persönlich jedes Opfer da-für zu bringen. Nur eine kleine Anzahl von geladenen Gästen nahm an der Einweihungsfeier teil, die im schlichten Rahmen stattfand. Die ersten Patienten wurden schon in den nächsten Tagen erwartet. Die Zimmer waren freundlich und darauf eingerichtet, daß auch die Mütter bei ihren Kindern bleiben konnten, wenn ihnen die Zeit dazu blieb.

Während sich die Nordens mit Dr. Seeberg unterhielten und sich dar­über freuten, wie wohldurchdacht dessen Pläne waren, erschien Ulrich Harrer im Hause Diehl, um Nico abzuholen.

»Jetzt schon«, sagte Nico mürrisch, aber er hielt sich sehr tapfer. »Regt euch bloß nicht auf«, sagte er noch, dann marschierte er wie ein kleiner Held davon.

»Kinder dürfen nicht vorne sitzen«, wurde Ulrich Harrer belehrt, als er ihm die Tür aufhielt.

Dann kletterte er auf den Rücksitz.

»Mami hat hinten auch Gurte«, war dann seine nächste Beanstandung.

»Ich werde noch einiges von dir lernen, Nico«, sagte Ulrich mit nachsichtigem Lächeln.

»Ich hätte gerne noch zu Hause gegessen«, sagte Nico.

»Wir gehen zum Essen. Du kannst aussuchen, was du willst.«

»Ich möchte Blumenkohlsuppe, Rahmschnitzel und Eis«, erklärte Nico. »Das mag ich am liebsten, und das gibt es heute auch bei uns zu Hause.«

Ulrich preßte die Lippen aufeinander. »Du wirst es bekommen. Habt ihr Besuch?«

»Wieso?«

»Ich meine nur.«

Nico hüllte sich in Schweigen. Er starrte zum Fenster hinaus.

»Nach dem Essen gehen wir segeln, das macht dir doch sicher Spaß«, sagte Ulrich.

»Ich bin noch nicht gesegelt. Ich weiß nicht, ob es mir Spaß macht.«

»Bei mir wirst du viel lernen, Nico. Treibst du überhaupt Sport?«

»Natürlich. Ich kann schwimmen und skifahren, und nächstes Jahr lerne ich Tennisspielen.«

»Dann mußt du auch für die Schule lernen.«

»Das kann ich alles schon«, sagte Nico.

Den Appetit ließ er sich nicht verderben. Es war ein sehr feines Restaurant, in das Ulrich ihn geführt hatte.

»Im Jagdhof ißt man noch besser«, stellte Nico fest. »Da hüpfen die Ober zwar nicht so rum, aber die Suppe ist heiß, und die Salate sind ganz frisch. Aber am allerbesten schmeckt es mir bei Ömchen.«

Das mußte er loswerden, und Ulrich mußte wieder einmal schlucken, aber er wollte sich bei Nico einschmeicheln. Er wollte schließlich allerhand in Erfahrung bringen.

»Verstehst du dich eigentlich gut mit Dr. Arnim?« fragte er ganz beiläufig.

»Klar, mit Leo auch«, erwiderte Nico, denn seine besten Freunde wollte er nicht verleugnen.

»Wer ist Leo?« fragte Ulrich.

»Winnies Mann. Sie haben geheiratet. Die haben ein tolles Haus, so was haben Sie noch nicht gesehen.«

»Könntest du dich nicht endlich entschließen, du zu mir zu sagen?« fragte Ulrich unwillig.

»Nein«, sagte Nico lakonisch.

»Deine Mami hat es dir wohl verboten?«

»Mami verbietet nichts. Ich habe meinen eigenen Kopf«, erklärte Nico. »Ich mag nicht gleich alle Leute. Ich wollte ja nicht mitfahren, Sie wollten es. Und Mami hat gesagt, daß man dagegen nichts machen kann.«

»Für dein Alter bist du schon ganz schön keck«, sagte Ulrich.

»Ich darf nicht lügen«, erklärte Nico. »Wenn man lügt, kommt man in die Hölle.«

Er gab Ulrich noch manche Nuß zu knacken, aber als sie dann in einem schnittigen Boot auf den See hinaussegelten, schien es Nico doch zu gefallen.

»Gehört das Boot Ihnen?« fragte er.

»Ja, aber ich schenke es dir, wenn du du zu mir sagst.«

»Was soll ich denn damit anfangen? Ich bin noch zu klein für so was.«

»Dann bekommst du es, wenn du groß bist.«

»Dann ist es alt. Das ist bestimmt wie bei Autos. Da gibt es andere Modelle. Ich will auch nichts geschenkt haben.«

»Du bekommst eine ganze Fabrik, wenn du groß bist«, sagte Ulrich.

»Was soll ich damit? Ich werde Rechtsanwalt.«

»Du weißt wohl alles schon ganz genau, du Dreikäsehoch«, spottete Ulrich.

»Vielleicht werde ich auch Architekt wie Leo.«

Nico hatte sich vorgenommen, Ulrich nicht ein bißchen leiden zu mögen, aber das fiel ihm überhaupt nicht schwer. Diese dauernde Fragerei gefiel ihm überhaupt nicht, und daß er Dreikäsehoch zu ihm sagte, gefiel ihm erst recht nicht. Und es gefiel ihm schon gar nicht, als plötzlich ein Wind aufkam und es von Ferne her donnerte.

Und dann vernahm er ein Tuten. »Was ist das?« fragte er.

»Sturmwarnung«, erwiderte Ulrich. »Wir müssen zurück. Du brauchst keine Angst zu haben.«

Zuerst hatte Nico auch keine Anst, aber dann schlugen die Wellen höher, und er mußte sich ganz festhalten, um nicht hin und her geschleudert zu werden.

Aber plötzlich schlug das Segel herum und der Baum streifte ihn. Es tat weh, und es wurde ihm schwarz vor den Augen.

»Bleib liegen«, sagte Ulrich erregt, »wir sind gleich am Ufer.«

Nico blieb liegen, er konnte gar nicht anders, denn er hatte das Bewußtsein verloren.

*

Die Nordens waren am See entlanggewandert. »Wir könnten eigentlich ein Boot mieten«, hatte Fee vorgeschlagen.

»Lieber nicht, es sieht mir sehr nach einem Gewitter aus«, erwiderte Daniel.

»Die Sonne scheint aber noch«, sagte Danny. Doch im nächsten Augenblick jagten schon finstere Wolken unter dem Himmel dahin.

»Es sind aber noch viele Boote auf dem See«, sagte Felix.

»Es tutet aber Sturm«, wisperte Anneka. »Ich will heim zu Lenni.«

»Machen wir uns auf die Beine«, sagte Daniel. »Bis zum Wagen ist es noch ein ganzes Stück.«.

Er nahm Anneka auf die Schultern – und im Galopp liefen sie den Weg zurück. Nun begann es schon zu tröpfeln. Blitze zuckten nieder. Anneka begann zu jammern.

»Wir könnten das Gewitter in der Seeberg-Klinik abwarten«, sagte Fee atemlos. »Es ist nicht mehr weit.«

Doch da kam ein Mann vom See heraufgekeucht. Er trug ein Kind in den Armen. In diesem Augenblick wußten die Nordens noch nichts von diesem Mann, nur daß er voller Angst war, und daß er kaum noch Kraft hatte.

Fee nahm ihrem Mann Anneka ab. Danny und Felix standen mit weit aufgerissenen Augen da, als ihr Papi sich herabbeugte und heiser sagte: »Das ist doch Nico.«

»Oh, mein Gott«, flüsterte Fee.

»Ich brauche einen Arzt«, stöhnte Ulrich Harrer, »einen Arzt.«

»Ich bin Arzt«, sagte Daniel Norden, »und ich kenne das Kind.«

»Ich bin Nicos Vater. Ich habe keine Schuld. Der Baum des Segelbootes hat ihn getroffen.«

Daniel Norden sah die Schwellung, die sich bläulich färbte, an der Stirn. Eine gefährliche Stelle. Und nun begann es zu schütten. Er hob das Kind empor. »Ich bringe es hinauf zur Seeberg-Klinik«, sagte er mit erzwungener Ruhe. Und alle anderen Gedanken wollte er jetzt ausschalten.

Fee folgte ihm, Anneka an der einen Hand, Felix an der andern. Danny hielt Annekas zweites Händchen. »Hab’ keine Angst, Anneka«, sagte er. »Wir sind ja bei dir. Papi muß doch jetzt dem Nico helfen.«

»Er kommt zu mir in die Klasse«, murmelte Felix. »Gell, Mami, er war auch da bei der Einschreibung.«

Fee drehte sich um, aber Ulrich Harrer war stehengeblieben. Wieso ist er mit dem Jungen beisammen, dachte Fee. Und dann sah sie, wie er sich umdrehte und den Hang hinuntertaumelte.

*

Sandra stand am Fenster. »Es kommt ein Gewitter«, sagte sie heiser.

»Nico hat doch keine Angst vor Gewittern«, sagte Annedore tröstend.

»Wenn ich jedesmal solche Ängste ausstehen muß, Mutsch, wenn er Nico holt, bin ich bald ein Nervenbündel. Und immer wieder muß ich mir sagen, daß es meine Schuld ist, nur meine Schuld.«

Es läutete, Sandra stürzte zur Tür und Holger, der vor ihr stand, in die Arme.

»Ich dachte, er bringt Nico wieder zurück«, schluchzte sie auf.

»Er wird ihn zurückbringen, San-dra«, sagte Holger ruhig. »Und er wird ihn nicht wieder holen. Ich war bei seinem Vater. Er ist wirklich sehr krank, aber man kann mit ihm reden. Er hat mir gesagt, daß er Ulrich enterben wird, wenn er dich und das Kind nicht in Ruhe läßt. Er ist auf deiner Seite, nachdem er das Fiasko mit seiner zweiten Frau erlebt hat. Sie hatte ein Verhältnis mit Ulrich. Vielleicht besteht das noch.«

Sandra starrte ihn fassungslos an. »Du bist einfach zu ihm gegangen?« fragte sie.

»Da du es nicht tun wolltest, habe ich es gepackt«, erwiderte er. »Und wir werden ihn gebührend empfangen. Sei ganz ruhig, Sandra. Es mag sein, daß er seinen Vater mit Nico versöhnen wollte, aber der alte Harrer hat mit dem Leben abgeschlossen. Er wünscht nur, daß Nico nicht so wird wie sein Sohn, und so wird unser Nico niemals werden.«

»Wenn er doch nur erst wieder daheim wäre«, flüsterte Sandra. »Ich habe solche Angst.«

Die Angst einer Mutter, ihre Ahnungen, wer konnte solche Empfindungen erklären. Holger Arnim begriff in diesen Stunden, daß er Sandras Herz nur gewonnen hatte, weil er auch Nicos Zuneigung besaß. Und wie die Zeit dahinschlich und Nico noch immer nicht bei ihnen war, ergriff auch ihn quälende Angst.

Der Regen prasselte gegen die Scheiben, noch immer zuckten Blitze herab, und der Donner grollte gefährlich.

Doch über dem See klärte sich der Himmel schon auf. Wie eine Glucke hielt Fee Norden ihre drei Kinder noch immer in ihren schützenden Armen. Sie mußten lange warten.

»Tot darf der Nico nicht sein«, murmelte Felix. »Er muß doch zur Schule gehen.«

Eiskalt wurde es Fee. Sie dachte an Sandra Diehl, an Nicos Mutter, an diese Frau, die ihr Kind so liebte, wie sie selbst ihre Kinder liebte. Sie dachte an Annedore Diehl, die Großmutter, die gerade erst Kraft auf der Insel der Hoffnung geschöpft hatte, um dieser entsetzlichen Belastungsprobe gerecht zu werden, die durch den geschiedenen Mann ihrer Tochter ausgelöst worden war. Und sie dachte an das Kind.

»Ein gewaltiger Schlag muß das gewesen sein«, sagte Dr. Seeberg zu Dr. Norden. »Nur gut, daß er die Schläfe nicht direkt getroffen hat.«

»Und gut, daß es so ein kerngesunder Junge ist«, sagte Daniel.

»Sie sagen es«, murmelte Dr. Seeberg. »Mein erster Patient in dieser Klinik.«

»Und ich habe ihn gebracht. Hoffentlich bringe ich Ihnen nicht nur Problemfälle. Die Mutter wird nun wohl einer für mich sein. Ich muß mit Harrer sprechen.«

»Wer ist das?« fragte Dr. Seeberg, während er dem Jungen die Infusion anhängte.

»Der Vater. Die Ehe ist längst geschieden, aber neuerdings gab es Probleme, weil er sein Besuchsrecht beanspruchte. Und nun das.«

»Die Gehirnströme sind gut«, sagte Dr. Seeberg.

»Dann werde ich mir den seltsamen Vater vorknöpfen«, brummte Dr. Norden.

Aber der war nicht da. »Er ist zurückgegangen«, sagte Fee. »Ich konnte ihm doch nicht nachlaufen.«

»Nein, das brauchtest du auch nicht«, sagte Daniel zornig. »Dieser Feigling. Drücken kann er sich doch nicht. Aber jetzt muß ich es Sandra Diehl beibringen.«

»Wie geht es Nico?« fragte Fee bebend.

»Er ist noch bewußtlos und wird es auch noch eine Zeit bleiben. Aber Seeberg ist bestens eingerichtet. Da fehlt es an nichts. Ich bringe euch heim und benachrichtige die beiden Damen.«

»Welche Damen?« fragte Anneka.

»Die Mami und die Omi von Nico. Siehst du, Schätzchen, wie gut solche Klinik ist!«

»Immer ist was los, wenn wir mal unterwegs sind«, brummte Felix.

»Immer nicht«, warf Danny ein. »Maule bloß nicht. Ist doch gut, daß Papi Nico kennt.«

»Dagegen sage ich ja gar nichts«, lenkte Felix gleich ein. »Aber wenn Nico nicht gesund ist, wenn die Schule anfängt, dann versäumt er gleich was.«

»Meine Güte, zuerst ist es sowieso langweilig«, meinte Danny.

Aber auf der Heimfahrt waren sie dann ganz ruhig. »Du würdest dich schrecklich aufregen, wenn mir das passiert wäre«, sagte Danny erst, als Fee ihn zu Bett brachte. Felix und Anneka waren gleich eingeschlafen.

»Nicos Mami regt sich auch auf«, sagte Fee leise.

»Aber unser Papi würde schon aufpassen, daß uns so etwas nicht passiert«, sagte Danny. »Wie ist es denn eigentlich passiert?«

»Das weiß ich auch nicht, schlaf jetzt, Danny. Vielleicht braucht Papi mich noch.«

»Aber warum ist der Mann weggelaufen, Mami? Warum hat er sich nicht um Nico gekümmert?«

»Er hat versagt, er hat immer versagt«, murmelte Fee, aber Danny war glücklicherweise schon eingeschlafen und hörte das nicht mehr.

*

Als das Telefon läutete, sprang Holger auf, aber Sandra war noch schneller als er. »Warum bringst du Nico nicht«, stammelte sie, als sie Ulrichs Stimme vernommen hatte.

»Ich wollte es nicht, Sandra, bitte glaube mir. Ich konnte das nicht voraussehen. Nico ist in der Klinik. Ich werde nie mehr kommen, bestimmt nicht mehr. Ich verspreche es dir. Aber es war nicht meine Schuld, das mußt du mir glauben.«

»Sag doch endlich, was geschehen ist«, flehte sie.

»Die Stange hat ihn getroffen. Es war die Stange.« Und da sank Sandra ohnmächtig in sich zusammen.

Holger nahm den Hörer auf. »Sagen Sie, was geschehen ist, Harrer«, stieß er hervor. »Sagen Sie es sofort.« Er kniete neben Sandra nieder, während er lauschte, doch gleichzeitig schlug der Gong an und Annedore lief zur Tür. Dr. Norden stützte die zitternde Frau.

»Nico«, schluchzte sie auf. »Es ist was mit Nico, und Sandra ist ohnmächtig geworden.«

»Ich weiß, Frau Diehl«, sagte Dr. Norden tröstend. »Nico wird gut versorgt. Er kommt schon wieder in Ordnung. Wer hat Sie benachrichtigt?«

Holger legte gerade den Hörer auf. Er war kreidebleich. »Er weiß nicht mal, wo Nico ist«, sagte er tonlos.

»Ich weiß es, Dr. Arnim«, sagte Daniel. »Bewahren Sie jetzt die Ruhe.«

Sandra schlug die Augen schon wieder auf. »Nico, mein Kind«, weinte sie auf.

»Nico lebt und wird bestens versorgt, Frau Diehl«, sagte Daniel. »Ich bringe Sie zu ihm, wenn Sie sich beruhigt haben. Zufällig war ich dort.«

»Sie, Dr. Norden?« flüsterte Sandra.

»Eigentlich wurde nur eine Kinderklinik eingeweiht, und wir wollten einen Tag am See genießen«, sagte er, »und dann kam das Gewitter. Es gibt wirklich merkwürdige Zufälle.«

»Er sei nicht schuld, hat Ulrich immer wieder gesagt«, flüsterte Sandra. »Aber er wird nie mehr kommen, hat er gesagt. Nie mehr! Ich will zu meinem Kind.«

Die beiden Männer halfen ihr auf die Beine, tauschten einen langen, verständnisinnigen Blick.

»Ich fahre auch mit«, sagte Annedore Diehl.

»Aber sicher, Frau Diehl«, sagte Daniel, »die Seeberg-Klinik ist auf alles eingerichtet.« Und er brachte tatsächlich ein aufmunterndes Lä­cheln zustande.

»Und Ihre Frau wartet mal wieder«, sagte Annedore leise.

*

Die Gewissensbisse, die Ulrich Harrer jetzt plagten, nützten Nico augenblicklich zwar gar nichts, aber immerhin bewirkten sie doch, daß Ulrich zur Einsicht kam. Als er langsam wieder klare Gedanken fassen konnte, vermeinte er, Nicos Stimme zu hören, all diese Worte, mit denen der Junge seine Ablehnung und seinen Widerstand gegen ihn ausdrücken wollte.

Er wurde sich auch bewußt, welche Motive ihn bewegt hatten, indem er die Begegnung mit dem Kind suchte. Er wollte sich bei Sandra in Erinnerung bringen, er wollte ihr klarmachen, daß ein Ulrich Harrer sich nicht einfach aus der Erinnerung streichen ließ.

Er wollte ihr Selbstbewußtsein erschüttern, das seine männliche Eitelkeit so tief verletzt hatte. Ja, er wollte sie an ihrer empfindlichsten Stelle treffen.

Felsenfest war er davon überzeugt gewesen, Nico mit großzügigen Geschenken und Versprechungen an sich ziehen zu können, da er selbst ja so bestechlich war.

Zwei Tiefschläge hatte er jüngst hinnehmen müssen. Die Verachtung, mit der der kranke Vater ihn strafte, die eisige Ablehnung, mit der er von Sandra abgefertigt worden war, und nun war das geschehen, was er wirklich nicht gewollt hatte. Der Junge war körperlich verletzt worden. An seine kindliche Seele hatte Ulrich nicht gedacht, aber der Gedanke, daß Nico sterben könnte, versetzte ihn in Panik.

Wie sollte er nur beweisen, daß er Nico nicht absichtlich verletzt hatte. Entsetzliche Furcht erfüllte ihn, daß Sandra ihn jetzt mit tödlichem Haß verfolgen, ihn vernichten könnte. Nico muß leben, dachte er, er muß sagen, wie es wirklich war. Etwas anderes konnte er nicht denken.

Indessen saßen Sandra, Annedore und Holger am Bett des Kindes und lauschten aufmerksam auf die leisen Atemzüge.

Dr. Seeberg hatte ihnen nicht gesagt, welches Glück im Unglück das Kind noch gehabt hatte. Er war froh, sie mit zuversichtlichen Worten trösten zu können, daß die Lebensgefahr gebannt sei.

Als Nico nun aus der Tiefe der Bewußtlosigkeit emportauchte, war es ihm ganz seltsam zumute. Die, die um ihn bangten, wußten das natürlich nicht, aber sie bemerkten, wie sich das kleine bleiche Gesicht belebte, wie die Lider zuckten und die Lippen sich leicht öffneten.

»Nico, mein Liebling, wir sind bei dir«, sagte Sandra zärtlich.

»Mami«, murmelte Nico, und ein kleines Lächeln legte sich um seinen Mund.

Sandra atmete auf. Annedore wischte sich schnell ein paar Tränen aus den Augenwinkeln, und Holger legte seine Hände fest und beruhigend um San-dras Schultern.

Wichtig wäre es, daß der Junge sich bald erinnern könne, hatte Dr. Seeberg gesagt. Nun, Nico konnte sich schnell erinnern. Er schlug die Augen auf, blickte um sich.

»Ist er fort?« fragte er flüsternd.

»Nur wir sind bei dir, Nico«, erwiderte Sandra.

»Aber ich bin nicht zu Hause.«

»Du wirst bald wieder daheim sein, mein Liebling«, sagte Sandra.

»Er kann nicht mal segeln, er kann nur fragen«, sagte Nico, »so was blödes.«

Und damit zauberte er ein Lächeln auf Sandras Gesicht. Nicos Hand fuhr zum Kopf empor, fühlte dort den Verband. »Tut gar nicht weh, jetzt nicht mehr. Ich gehe nie wieder mit ihm mit.«

»Das brauchst du auch nicht, Nico«, sagte Sandra.

Sein Blick belebte sich. »Ömchen, Holger«, freudig klang es, aber dann seufzte er müde. »Nie wieder segeln«, flüsterte er, und dann schlief er wieder ein.

*

Daniel Norden konnte seiner Frau die beruhigende Nachricht bringen, daß Nico den Schock überwunden hatte.

»Ich habe mich dauernd gefragt, was wohl geschehen wäre, wenn wir nicht zufällig dort gewesen wären«, sagte Fee sinnend. »Was hätte er wohl mit dem Kind gemacht?«

»Darüber wollen wir jetzt lieber nicht nachdenken, Liebes«, erwiderte Daniel.

»Und dann einfach davonlaufen«, meinte sie empört.

»Das Schuldbewußtsein, Fee, immerhin ist es gut, wenn er welches fühlte. So dramatisch dieser Tag auch verlaufen ist, er wird jetzt nicht mehr ihre Kreise stören. Vielleicht sollte es so sein.«

»Und wenn es schlimm ausgegangen wäre?«

»Psst, kein Wenn und Wäre, mein Schatz. Der Schrecken war groß genug auch für Harrer. Er muß ganz hübsch geschockt sein, nach seinem wirren Anruf zu schließen.«

»Er hat angerufen?« staunte Fee.

»Ja, und er hat immer nur beteuert, daß er nicht schuld sei. Ich denke, Sandra Diehl wird nun auch erreichen, daß er einer Adoption zustimmt.«

»Dann wird sie also Dr. Arnim heiraten?«

»Nun, das nehme ich doch stark an«, lächelte Daniel.

»Bettina und Nico, zwei Kinderschicksale«, sagte Fee sinnend, »und für beide hat das Schicksal eine gütige Entscheidung getroffen.«

»Und unser Felix wird gleich zwei nette Schulfreunde haben und sich nicht so verloren vorkommen«

»Er wird jetzt auch schon recht keck«, stellte Fee lächelnd fest. »Und er ist lange nicht mehr so empfindlich wie früher. Danny ist übrigens sehr angetan von der Seeberg-Klinik. So eine will er auch mal haben, hat er mir verkündet.«

»Ein guter Vorsatz«, sagte Daniel, »aber es hat ja noch Zeit. Aber was Seeberg da auf die Beine gestellt hat, ist wirklich toll. Er ist auch der richtige Typ für einen Kinderarzt.«

»Sehr sympathisch«, bestätigte Fee.

Nun waren aber auch sie müde. Wieder brach schon ein neuer Tag an, aber ein paar Stunden Schlaf waren ihnen vergönnt.

Sandra fand in dieser Nacht noch keinen. Holger war mit Annedore heimgefahren, denn er mußte morgen pünktlich in der Kanzlei sein. Sandra lag noch auf dem Bett, das neben das von Nico geschoben worden war. Sie wollte ihrem Kind ganz nahe sein.

Eine heiße Zärtlichkeit durchflutete sie, wenn er im Schlaf »Mami« flüsterte, verriet es ihr doch, daß seine Liebe ihr ohne Einschränkung gehörte, daß auch die berufliche Beanspruchung daran nichts geändert hatte. Nichts und niemand konnte sie trennen. Holger würde zu ihnen gehören, auch das wußte sie, und Ulrich konnte sich nicht mehr dazwischendrängen.

Nico hatte einen Schutzengel gehabt, genaugenommen, zwei. Einen unsichtbaren und in Dr. Norden den sichtbaren. Von tiefer Dankbarkeit erfüllt schlief sie dann doch ein, um erst richtig munter zu werden, als Nico recht deutlich sagte: »Jetzt habe ich aber Hunger.«

Und etwas Erfreulicheres hätte er nicht sagen können. Er war wieder ganz da!

*

Holger verschwendete keine Zeit, die Situation restlos zu klären. Zu Ulrich Harrers Ehre mußte allerdings auch gesagt werden, daß er sich nicht vor einer Unterredung drücken wollte.

Er hatte auch von seinem kranken Vater so viel einstecken müssen, daß er zu allen Zugeständnissen bereit war.

Er saß Holger gegenüber und hatte ihm den Vorgang geschildert, der zu Nicos Verletzung geführt hatte.

»Ich wäre nicht auf den Gedanken gekommen, Ihnen zu unterstellen, daß Sie die Verletzung herbeigeführt haben, Herr Harrer«, erklärte Holger ruhig. »Es wäre eben nur für alle Beteiligten besser gewesen, Nico diese Begegnung zu ersparen.«

»Er hat es mir ganz schön gegeben«, sagte Ulrich heiser. »Ich hätte es nicht für möglich gehalten, daß ein sechsjähriger Junge so schlagfertig ist. Er hätte wohl niemals du zu mir gesagt. Ich bin für ihn ein Fremder, das hat er mir sehr deutlich zu verstehen gegeben. Sie erwarten Zugeständnisse von mir. Wir wollen das hinter uns bringen. Meinen Vater haben Sie ja schon auf Sandras Seite gebracht.«

»Das war nicht besonders schwer«, erwiderte Holger. »Schaffen wir also Klarheit. Ich werde Sandra heiraten und will Nico adoptieren. Es ist auch Nicos Wunsch, als mein Sohn zu gelten, und es wäre gut, wenn er in der Schule keinen lästigen Fragen ausgesetzt würde. Ich hoffe, daß Sie dies jetzt verstehen, denn es ist für Nico ein sehr wichtiger Punkt gewesen.«

In Ulrichs Gesicht arbeitete es. »Verlieren wir keine Worte mehr«, sagte er tonlos »Ich erkläre mein Einverständnis. Sandra wird ohnehin vergessen wollen, daß ich Nicos Vater bin.«

»Ich jedenfalls bin Ihnen dankbar, daß Sie dieser Einsicht gekommen sind. Vielleicht finden Sie nach dieser Gewissensprüfung für sich einen vernünftigen Weg zu einer ehrlichen Partnerschaft. Darf ich Sie bitten, morgen mit mir zum Vormundschaftsgericht zu gehen? Ich habe einen Termin für zehn Uhr vereinbart.«

»Sie waren Ihrer Sache sehr sicher, Herr Dr. Arnim.«

»Ich hätte eine Entscheidung auch erzwingen können, aber so ist es mir bedeutend lieber«, erwiderte Holger.

»Sie sind auch in eigener Sache ein sehr guter Anwalt«, sagte Ulrich.

»Mir ist eine gütliche Einigung in jedem Fall immer willkommen.«

Am nächsten Morgen trennten sie sich auf dem Vormundschaftsgericht sogar mit einem Händedruck.

»Sie können Nico von mir bestellen, daß er mich aus dem Gleichgewicht gebracht hat«, sagte Ulrich. »Er ist der Sohn seiner Mutter, davon hat er mich überzeugt.«

Holger fuhr zur Seeberg-Klinik, um Nico und Sandra abzuholen. Dr. Seeberg hatte nun schon mehrere Patienten, aber er nahm sich die Zeit, sie zum Wagen zu begleiten.

»Der erste Tag wird mir unvergeßlich bleiben«, sagte er, »aber ich bin glücklich, daß mein erster Patient so schnell wieder heimkehren kann.«

»Es war aber ganz prima«, sagte Nico munter.

Was Ulrich gesagt hatte, verriet Holger nicht. Nico wollte davon gar nichts mehr wissen. Er strahlte, als Holger sagte, daß sie noch vor Schulanfang heiraten würden.

»Und dann heiße ich Arnim«, freute er sich, »gell, das ist sicher.«

»Das ist sicher«, bestätigte Holger.

»Aber ihr müßt es gleich der Lehrerin sagen, damit sie nicht wieder mit Gerede kommt.«

Auch das wurde ihm versprochen, und Nicos Welt war in Ordnung, als Ömchen ihn überglücklich in die Arme schloß.

Schon am nächsten Tag konnte Nico dann auch ein ganz freudiges Wiedersehen mit Bettina feiern. Sie erzählte viel von ihrem Opi, aber die Oma wurde gar nicht mehr dabei erwähnt.

Annette und Heiner Mosch hätten es sich nicht träumen lassen, daß sie mit Bettina zur Hochzeit von Holger und Sandra geladen würden, aber das war Nicos Wunsch gewesen, der gern erfüllt worden war.

Verschlungene Wege hatten sie zusammengeführt, doch nun waren die Schicksalswolken vertrieben, und das Glück war eingekehrt in beiden Häusern. Es sollte noch ein weiteres Glück nach sich ziehen, als Albert Breiter und Annedore Diehl sich kennenlernten, denn da Bettinas Opi bei seinen Kindern weilte, wurde er auch zur Hochzeit gebeten. Natürlich kamen auch Winnie und Leo, und Winnie verkündete sogleich, daß sie nächstes Jahr auch Familienzuwachs erwarten würden.

»Wir kriegen ein Christkindel«, sagte Bettina stolz.

»Vielleicht bekommen wir dann einen Osterhasen«, meinte Nico verschmitzt, »aber jetzt kommen wir erst mal in die Schule, Bettina.«

Und auch das wurde ein ganz großer Tag in ihrem Leben. Da erschien Bettina mit ihren Eltern und ihrem Opi, und Nico kam mit seinen Eltern und seinem Ömchen.

Und als die Kinder dann aufgerufen wurden, war Nico als Erster an der Reihe.

»Nico Arnim«, rief die Lehrerin ihn auf.

»Da bin ich«, erwiderte er strahlend. Sandra und Holger blickten sich tief in die Augen, und Ömchen schenkte Opi Breiter ein frohes Lä­cheln.

»Mich ruft sie immer noch nicht«, sagte Bettina betrübt.

»M kommt doch erst später«, meinte Nico. Aber dann war auch sie an der Reihe. Nach ihr kam gleich Felix Norden.

»Du bist dran, Felix«, sagte Fee mahnend.

»Ich melde mich erst, wenn Papi da ist«, erklärte er trotzig.

Aber da kam Daniel auch, und Felix marschierte zum Pult.

»Da wären wir ja mal wieder versammelt«, sagte Daniel.

»Aber wir werden uns bestimmt oft sehen«, sagte Annette.

»Ganz bestimmt«, sagte Sandra. »Es muß ja nicht immer einer krank werden.«

»Und wir werden uns hoffentlich auch oft sehen«, sagte Albert Breiter zu Annedore. »Der Oktober ist in den Bergen ganz besonders schön.«

»Wir werden bestimmt kommen«, erwiderte sie. »Es ist versprochen.«

So kam Nico dann auch noch zu einem lieben Opi und Bettina zu einem lieben Ömchen, und die Babys, die sich bei den Moschs und dann auch bei den Arnims einstellten, wurden von allen mit großer Freude begrüßt. Gerecht verteilt war es. Bettina bekam ein Brüderchen, Nico ein Schwesterchen, und Winnie holte alles nach, was sie bisher versäumt hatte und beglückte ihren Leo mit Zwillingen. Ein wenig schwierig wurde es dann nur, alle an einen Tisch zu bringen, aber auch das gelang ihnen, und jedes Wiedersehen wurde zu einem Fest.

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