Читать книгу Aus der emotionalen Achterbahn aussteigen - Patricia Zurita Ona - Страница 14

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Kapitel 5

Was sind Emotionen?

Da Sie nun mehr darüber wissen, was dazu beigetragen hat, dass Sie ein hochsensibler Mensch geworden sind, einige der schnellen Lösungen identifiziert haben, auf die Sie manchmal vielleicht zurückgreifen und verstehen, welche Konsequenzen diese in Ihrem Leben haben, wollen wir uns noch eingehender mit dem Phänomen »Emotionen« beschäftigen und schauen, wie sie funktionieren. Denn wenn man emotional hochsensibel ist, ist es wichtig zu verstehen, wie dieser Motor einen antreibt.

Die emotionale Maschinerie

Emotionen sind komplexe Systeme, bei denen mehrere Elemente – physiologische, neurologische und psychische Prozesse – wie bei einer großen Maschine ständig ineinandergreifen. Wird ein Element dieser emotionalen Maschinerie aktiviert, werden in allen Komponenten faszinierende Mechanismen in Gang gesetzt. Wohin wir auch gehen: Diese »Maschine« begleitet uns überallhin. Sie ist immer da. Wenn ihr Schalter anspringt, werden verschiedene Systeme in unserem Körper verknüpft: das sympathische, parasympathische, endokrine und neurologische. Sie koordinieren die in unserem Körper ablaufenden Prozesse. Sie koordinieren auch mikropsychische Prozesse, die alle gleichzeitig ablaufen: Aufmerksamkeit, Gedanken, Erinnerungen, Bilder und Impulse. Durch das Zusammenspiel all dieser Systeme wird Ihr Verhalten gesteuert: Sie handeln. Gefühle kommen nicht aus heiterem Himmel. Sie werden durch ein Ereignis ausgelöst – das plötzliche Glücksgefühl, wenn Sie auf den Kalender schauen und sehen, dass ein verlängertes freies Wochenende bevorsteht, die Vorfreude, wenn Sie auf einer Speisekarte Ihr Lieblingsgericht entdecken, die Traurigkeit, die Sie empfinden, wenn Ihre Fußballmannschaft verliert oder die Wut, die Sie verspüren, wenn geliebte Menschen verletzt werden. Emotionen können auch durch innere Prozesse ausgelöst werden, beispielsweise die Erinnerung an Ihren ersten Kuss, die Tagträume über Ihre nächste Urlaubsreise oder die Sorge, dass niemand Ihr Buch lesen wird. Alle Gefühle, die wir erleben, haben ein Eigenleben und wie Mini-Systeme formieren sie sich aus kleinsten Einzelkomponenten. Wenn ich beispielsweise in diesem Moment beim Schreiben nach innen schaue, fühle ich eine intensive Freude, spüre, dass mein Herz schneller schlägt und meine Wangen warm sind (körperliche Empfindungen); vor meinem geistigen Auge sehe ich ein Bild meiner früheren Wohnung (Erinnerung); beiläufige Fragen wie »Ist dies genug?«, »Ist es zu kurz?« kommen mir in den Sinn (Gedanken) und es überkommt mich ein starker Drang, jetzt auf dem Laptop so schnell ich kann zu tippen, bevor sich die Ideen wieder verflüchtigen (Impuls). Halten Sie jetzt, während Sie dies lesen (wo immer Sie sich gerade befinden), einmal inne und nehmen Sie die Mikro-Komponenten Ihres emotionalen Systems wahr. Können Sie wahrnehmen, welche Art von Gedanken, Erinnerungen oder Bildern Ihr Geist hervorbringt? Macht sich Ihr Körper deutlich bemerkbar oder steht im Moment eine Emotion im Vordergrund? Verspüren Sie einen Drang, in diesem Moment etwas Bestimmtes zu tun?

Eine weitere Information über Emotionen ist wichtig: Sie dauern gewöhnlich nur ein paar Sekunden an, ob Sie es glauben oder nicht. Gefühle sind im Allgemeinen vorübergehend und verflüchtigen sich, bis das nächste auftaucht. Nur wenn wir darüber brüten oder nachgrübeln, warum ein Gefühl auftauchte oder ein Ereignis stattfand, dauern sie länger an. Charlie schüttete beispielsweise unabsichtlich etwas Wein über den Pullover seines Freundes. Obwohl der Freund verstand, dass es ein Versehen war und zu Charlie sagte, er solle sich deswegen keine Sorgen machen, war Charlie beschämt und brachte Stunden damit zu, sich zu fragen, warum er den Wein verschüttet hatte, warum er nicht besser aufgepasst hatte, was wäre, wenn sein Freund ihn nun nicht mehr mögen würde und so weiter.

Ein unangenehmes Gefühl zu haben, bedeutet nicht, dass man aufgrund dieses Gefühls unbedingt handeln muss. Wenn der emotionale Schalter eingeschaltet ist, fühlen sich unangenehme Gefühle wie eine Verbrennung dritten Grades an und drängen zu unmittelbaren Maßnahmen. In Schwierigkeiten kommen wir dann, wenn wir auf der Basis dieser intensiven, momentanen Gefühle handeln, ohne zu überprüfen, ob die Situation wirklich ein Handeln erfordert und was langfristig wirklich wichtig ist. Dieses Szenario mit Troy zeigt, wie seine emotionale Maschinerie seine Reaktionen steuert:

Troy (wütend): »Warum hast du mich nicht zurückgerufen? Ich habe dich sechs Mal angerufen und du bist nie ans Handy gegangen. Du kannst dir nicht vorstellen, welche Sorgen ich mir gemacht habe.«

Pamela: »Es tut mir leid, ich habe nach dem Yoga-Kurs vergessen, das Handy wieder einzuschalten. Ich habe es komplett vergessen und dann habe ich noch Besorgungen gemacht.«

Troy (wütend): »Du weißt, welche Sorgen ich mir immer um dich mache; ich hatte Angst, dir könnte etwas zugestoßen sein. Ich wusste überhaupt nicht, was los ist. Du warst einfach weg und ich war hier und versuchte mich zu vergewissern, dass du in Sicherheit bist.«

Pamela: »Ich verstehe vollkommen, dass du dir Sorgen gemacht hast, weil du mich nicht erreichen konntest. Tut mir leid, manchmal vergesse ich einfach etwas. Kann ich dich um einen Versöhnungskuss bitten, damit wir das Ganze vergessen können?

Troy (schreit): »Nein, ich werde dir jetzt überhaupt keinen Kuss geben und außerdem werde ich das Abendessen heute mit deiner Familie absagen!«

Haben Sie bemerkt, wie schnell Troys Emotionen eskalierten – und zwar auf eine Weise, die längerfristige Konsequenzen hatte? Woher kamen diese starken Gefühle? Lassen Sie uns eine kleine Übung machen, die Ihnen helfen kann, die Geschichte Ihrer emotionalen Landschaft zu entdecken.

Übung: Die Geschichte Ihrer Emotionen

Nehmen Sie sich 10 Minuten Zeit für diese Übung. Suchen Sie sich einen ruhigen Ort, setzen Sie sich so bequem wie möglich hin und lesen Sie die Anleitung durch, sodass Sie wissen, was erwartet wird, bevor Sie anfangen. Sie können die Anleitung auch aufzeichnen (dabei langsam und mit ruhiger, sanfter Stimme sprechen):

Richte deine Aufmerksamkeit nun für eine Weile auf deine Atmung und nimm jedes Ein- und Ausatmen wahr. Nimm wahr, wie die Luft in deine Nasenlöcher strömt, bis hin zum Zwerchfell, und dann bei jedem Ausatmen langsam den Körper wieder verlässt. Lass dir ein paar Augenblicke Zeit und wähle dann eine Emotion, auf die du dich während dieser Übung konzentrieren willst. Das kann Traurigkeit sein oder Einsamkeit, Neid oder irgendein anderes Gefühl. Wähle ein Gefühl, das nicht allzu problematisch für dich ist, sodass es dir noch möglich ist, während dieser Übung daran zu arbeiten.

Nachdem du dich für ein Gefühl entschieden hast, schau, ob du in Gedanken zu einem Moment in deiner Kindheit zurückkehren kannst, in welchem du dieses spezielle Gefühl verspürt hast. Du musst dich nicht ablenken, indem du versuchst, die perfekte Situation auszuwählen; versuche einfach, eine entsprechende Erinnerung wachzurufen. Lass dir etwas Zeit, damit die Erinnerung so lebendig wie möglich ist, erinnere dich an die Besonderheiten der Situation und schau, ob du eine Weile bei diesem Bild bleiben kannst. Nimm dir genügend Zeit und versuche, mit der Aufmerksamkeit bei diesem inneren Bild zu bleiben. Scanne deinen Körper von Kopf bis Fuß und achte besonders auf Bereiche wie Bauch und Brustkorb, Schultern, Hals und Kiefer.

Lass diese Erinnerung dann los und richte deine Aufmerksamkeit wieder auf den Atem. Verlangsame deine Atmung bewusst, so dass du dich etwa 10 Sekunden lang durch das Ein- und Ausatmen zentrierst.

Gehe nun zu einem Moment in deiner Teenagerzeit zurück, in welchem du die Emotion erlebt hast, an der du gerade arbeitest. Wie bei der ersten Erinnerung lässt du dich nicht dadurch ablenken, dass du versuchst, die perfekte Situation zu wählen. Nimm wieder die Besonderheiten des Ereignisses wahr, wie es sich in jenem Moment angefühlt hat, und auch alle damit verbundenen Gedanken, Impulse und körperlichen Empfindungen. Wenn es dir möglich ist, verweile ein bisschen länger bei dieser Erinnerung als bei der vorherigen. Scanne deinen Körper von Kopf bis Fuß und achte auf bestimmte Bereiche wie Bauch, Brustkorb, Hals und Kiefer.

Nach einer Weile lässt du dieses innere Bild nun sanft aus dem Bewusstsein entschwinden und richtest deine Aufmerksamkeit auf deine Atmung: Konzentriere dich auf jedes Ein- und Ausatmen.

Versetze dich zum Schluss zurück in deine Zeit als junge/r Erwachsene/r. Schau, ob du eine weitere Erinnerung an eine Situation wachrufen kannst, bei der dieses Gefühl präsent war. Wenn du dieses innere Bild wachrufst, so wie du es mit den anderen Bildern gemacht hast, scanne deinen Körper von Kopf bis Fuß und achte dabei auf die üblichen Bereiche wie den Bauch, den Brustkorb, den Hals und den Kiefer. Nach ein paar langsamen, tiefen Atemzügen kehrst du allmählich wieder in die Gegenwart zurück und nimmst deine Umgebung wahr.

Was ist Ihnen bei dieser Übung aufgefallen? Wie hat es sich angefühlt, ein Gefühl rückblickend in verschiedenen Lebensphasen wahrzunehmen? Sind Sie immer ähnlich damit umgegangen oder gab es Unterschiede? Und noch eine wichtige Frage: Haben Sie den Unterschied wahrgenommen zwischen dem Gefühl und sich selbst als die Person, die das Gefühl hat?

Indem Sie Ihre Emotionen einfach beobachten, ohne zu versuchen, sie zu verändern oder zu unterdrücken, lernen Sie, Ihre Gefühle zu haben, ohne zu ihnen zu werden.

Ihre Gefühle tauchen auf und verschwinden, werden stärker und schwächer, – Hunderte Male am Tag; sie sind dynamisch und unendlich wandelbar in ihrer Intensität, Färbung und ihrem Rhythmus.

Der schlechte Ruf negativer Gefühle

Wahrscheinlich sind es meistens die unangenehmen und überwältigenden Gefühle, auf die Sie sich fokussieren, weshalb Sie so angestrengt versuchen, sie zu unterdrücken oder etwas daran zu ändern. Aber unsere Überzeugungen oder falschen Vorstellungen über Gefühle machen sie noch unerträglicher. Schauen wir uns einmal einige der weitverbreiteten Überzeugungen über unangenehme Gefühle an.

ÜBERZEUGUNG: QUÄLENDE GEFÜHLE BLEIBEN FÜR IMMER

Gefühle dauern nicht für immer an und das gilt gleichermaßen für die unangenehmen, bedrückenden und aufwühlenden. Wenn man sie einfach da sein lässt, verflüchtigen sich Gefühle innerhalb von Minuten. Es ist schwer zu glauben aber die Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der affektiven Wissenschaft sind hier eindeutig. Emotionen haben eine begrenzte »Lebensdauer«, doch wenn man stundenlang darauf herumreitet, endet man schließlich in einer Gedankenschleife, die die Gefühle verstärkt und dafür sorgt, dass sie länger andauern.

ÜBERZEUGUNG: ANDERE MENSCHEN SIND FÜR MEINE INTENSIVEN GEFÜHLE VERANTWORTLICH

»Hätte sie mir die Nachricht nicht so spät geschrieben, wäre ich nicht so wütend«, denken Sie vielleicht. Aber: Das Verhalten anderer kann zwar durchaus der Katalysator für Ihre intensiven Gefühle sein, doch wenn andere mit einer ähnlichen Situation konfrontiert werden, werden sie nicht unbedingt so von ihrem Gefühl mitgerissen, wie Sie. Für Sie ist diese Situation einzigartig: Sie sind die einzige Person, die diese emotionale Erfahrung macht, unabhängig davon, wodurch sie ausgelöst wurde.

ÜBERZEUGUNG: ES IST IMMER GESUND, MEINE INTENSIVEN GEFÜHLE AUSZUDRÜCKEN

Herauszufinden, was Ihnen ein Gefühl sagen will, ist – wie Sie in diesem Buch erfahren werden – etwas völlig anderes, als immer und immer wieder mit verschiedenen Leuten darüber zu sprechen, zwanzig Seiten Tagebuch darüber vollzuschreiben oder immer wieder aufs Neue darüber nachzugrübeln. Das sind Reaktionen, die die Intensität der Gefühle tatsächlich noch steigern, sie länger andauern lassen und den »Grübelmuskel« trainieren. Studien zum Thema Wut zeigen beispielsweise, dass es Sie noch wütender machen wird, wenn Sie Ihre Wut ausdrücken. Dampf abzulassen ist weder zuträglich für Ihren Geist noch für Ihren Körper und wird Ihre Beziehungen nicht verbessern (Tavris 1989).

ÜBERZEUGUNG: BELASTENDE ODER QUÄLENDE GEFÜHLE WEISEN MICH STETS DARAUF HIN, WAS ICH ZU TUN HABE

Es ist sicher richtig, dass intensive Emotionen Ihnen und anderen vermitteln, was für Sie wichtig ist, aber schnelles, unüberlegtes Handeln aufgrund dieser Gefühle – ohne innezuhalten und zu bewerten, was das Wesentliche an der Situation ist – kann tatsächlich sehr verletzend für Sie selbst und die Menschen, die Sie lieben, sein. Intensive Gefühle zu erleben ist eine Sache, aber zu reagieren, ohne zunächst für sich zu klären, ob Ihr Handeln effektiv sein wird, eine ganz andere.

ÜBERZEUGUNG: ALLE UNANGENEHMEN GEFÜHLE SIND SCHLECHT FÜR MICH

Belastende oder quälende Gefühle sind schwer auszuhalten und manchmal sehr schmerzhaft – wie eine Verbrennung dritten Grades. Mit dieser Einschränkung: Unangenehmen Gefühle zu haben, bedeutet nicht unbedingt, dass das schlecht ist. Unangenehm, ja, aber nicht immer katastrophal. Manchmal können Ihnen diese Gefühle tatsächlich wichtige Botschaften darüber vermitteln, worauf es für Sie in einer bestimmten Situation ankommt. Nachdem wir uns nun den schlechten Ruf unangenehmer Gefühle genauer betrachtet haben, schauen Sie, ob Sie die Überzeugungen identifizieren können, bei denen Sie eine Resonanz feststellen, und ob Sie dieser Überzeugungen beim Auftauchen schwieriger Situationen gewahr sein können.

Emotionaler Lärm

Jede/r von uns erlebt alle möglichen Emotionen in unterschiedlicher Intensität, Ausprägung und Geschwindigkeit. Es ist, als würde unsere emotionale Maschinerie ständig Lärm machen. Beginnen wir nun zunächst mit der Wahrnehmung der eigenen Gefühle, damit Sie anfangen können, die verschiedenen Elemente dieses emotionalen Lärms zu unterscheiden: emotionale Reaktionen, körperliche Empfindungen, Gedanken, Bilder, Erinnerungen und Handlungsimpulse.

Übung: Den eigenen emotionalen Lärm wahrnehmen

Diese Übung besteht aus zwei Teilen und für beide benötigt man ungefähr 5 Minuten.

Teil 1: Wählen Sie eines Ihrer Lieblingsmusikstücke oder Lieder, bereiten Sie sich darauf vor, es abzuspielen, nehmen Sie ein Blatt Papier zur Hand und stellen Sie sich einen Küchenwecker oder Timer, um dem Lied 2 Minuten lang zu lauschen. Wenn der Wecker klingelt, nehmen Sie Ihr Tagebuch zur Hand und beantworten Sie folgende Fragen:

• Welche körperlichen Reaktionen haben Sie wahrgenommen?

• Haben Sie eine bestimmte Körperempfindung bemerkt? War diese Empfindung statisch oder hat sie sich verändert?

• Welches Gefühl oder welche Gefühle sind aufgetaucht? Können Sie sie benennen?

• Waren diese körperlichen Empfindungen und Gefühle von Gedanken, Bildern oder Erinnerungen begleitet?

• Haben Sie irgendwann versucht, etwas an Ihren Gefühlen zu ändern, sie zu unterdrücken oder ihnen zu entfliehen?

Manchmal fällt es meinen Klient/innen schwer, das Gefühl präzise zu benennen. In diesem Fall könnten Sie sich eine Auflistung von Emotionen im Internet anschauen.

Teil 2: Stellen Sie Ihren Timer auf 2 Minuten ein, schließen Sie die Augen und rufen Sie sich eine (nicht allzu) schwierige Situation ins Gedächtnis, mit der Sie in der vergangenen Woche konfrontiert waren. Es kann eine Situation sein, die sich in der Schule oder am Arbeitsplatz zugetragen hat oder mit Freunden oder Verwandten. Versuchen Sie, sich die Situation so lebendig wie möglich ins Gedächtnis zu rufen. Nehmen Sie die Erinnerung aufmerksam in allen Einzelheiten wahr, die damit verbundenen Geräusche und die Besonderheiten dieses herausfordernden Moments. Beantworten Sie danach dieselben Fragen wie im ersten Teil der Übung.

Shelly erinnerte sich beispielsweise an ein Telefongespräch mit ihrer Mutter, Amanda, und an ihre Enttäuschung, als sie dabei erfuhr, dass Amanda sie nicht besuchen würde. Shelly bemerkte, wie sich in ihrem Brustkorb alles zusammenzog, und sie verspürte den starken Impuls, ihrer Mutter zu sagen, wie egoistisch und rücksichtslos es von ihr sei, sie nicht zu besuchen, obwohl Shelley sie im Lauf der Jahre so oft darum gebeten hatte. Shelley nahm wahr, wie stark und überwältigend diese Impulse während des Telefonats und sogar noch danach waren.

Haben Sie bemerkt, dass eine emotionale Erfahrung keine statische Angelegenheit ist? Sie setzt sich aus vielen kleinen Einzelkomponenten zusammen: körperlichen Empfindungen, Handlungsimpulsen und Gedanken – und sie tauchen alle auf einmal auf. Denken Sie daran, dass ich, wenn ich »Gedanken« sage, auch innere Bilder und Erinnerungen meine, nicht nur Wörter oder eine Folge von Wörtern. Jede Emotion, die wir erleben, ist tatsächlich ein Mikrosystem. Wenn Sie hochsensibel sind, werden Sie jeden Tag mit Hunderten solcher Mikrosysteme konfrontiert, mit einem Gefühl nach dem anderen, und Sie erfahren sie mit maximaler Intensität und in rascher Folge.

Der zweite Aspekt, auf den ich Sie im Zusammenhang mit dieser Übung aufmerksam machen möchte, ist dieser: Wenn Sie Ihre Emotionen wahrnehmen, beschreiben Sie eigentlich das Gefühl, die Empfindungen, Gedanken, Impulse und inneren Bilder, die damit einhergehen. Wenn Sie sagen »Ich nehme eine schreckliche Erinnerung wahr«, ist das im Grunde keine Wahrnehmung, aber wenn Sie sagen, »Ich nehme die Erinnerung daran wahr, wie mein Auto kaputt ging«, dann ist es Wahrnehmen.

Wahrnehmen, was was ist

Lesen Sie die folgenden Zitate, in denen zwei verschiedene Reaktionen auf die Nachricht über den Hurrikan »Irma« in Florida zum Ausdruck kommen:

• »Ich war schockiert, traurig und machte mir Sorgen um alle in Florida, und dann verspürte ich das dringende Bedürfnis, etwas zu tun.«

• »Ich kann mich nicht genau daran erinnern, was passiert ist. Ich weiß nur, dass ich gemischte Gefühle hatte und als Nächstes erinnere ich mich daran, dass ich mich niedergeschlagen fühlte.«

Was ist Ihnen aufgefallen? Die erste Person beschreibt eine spezifische emotionale Reaktion und die zweite machte eine vage Aussage über ihre Erfahrung. Warum ist das wichtig? Eine von Kashdan et al. (2015) an der George Mason University in Fairfax, Virginia, durchgeführte Studie mit Probanden, die mit sozialen Ängsten zu kämpfen hatten, kam zu dem Ergebnis, dass Menschen, die belastende Emotionen erleben, diese aber nicht genau identifizieren können, mit höherer Wahrscheinlichkeit auf andere, nicht hilfreiche Bewältigungsstrategien zurückgreifen wie Alkoholmissbrauch oder Aggression.

Was bedeutet dieser Befund für die Situation von Hochsensiblen? Hochsensible fühlen zu intensiv, zu schnell. Das bedeutet, dass sie innerlich überwältigt werden, denn sie wissen nicht, wie sie ein Problem lösen können, weil sich alles so komplex anfühlt. Wenn Sie allerdings lernen, innezuhalten und die Auslöser der emotionalen Maschinerie zu identifizieren, macht das einen großen Unterschied im Hinblick auf ihre Reaktion. Versuchen Sie also, wenn sich alles kompliziert anfühlt, den Ausgangspunkt zu finden. Fragen Sie sich: »Was war das erste Gefühl, das meine emotionale Maschinerie in Gang gesetzt hat?«

Kernkompetenz: Die eigenen Gefühle wahrnehmen und benennen

Das Benennen der eigenen Gefühle (als Kompetenz) hört sich vielleicht wie eine ganz simple und fast unbedeutende Aufgabe an, aber Sie werden überrascht sein, zu erfahren, was die Forschung darüber herausgefunden hat und wie hilfreich dieses Benennen sein kann, wenn der emotionale Schalter gedrückt wird.

Craske et al. (2014) führte eine Studie durch, bei der die Wirkung des Benennens von Emotionen bei Menschen untersucht wurde, die Angst vor Spinnen haben. Alle, die an der Studie teilnahmen, erhielten zunächst eine allgemeine Anweisung: sich so nah wie möglich daran heranwagen, eine Spinne zu berühren. Aber nachdem sie in vier Gruppen eingeteilt worden waren, erhielten sie unterschiedliche Anweisungen dazu, wie sie mit ihren Emotionen umgehen sollten, je nachdem, welcher Gruppe sie zugeteilt wurden.

• Die erste Gruppe wurde instruiert, ihre Gefühle in Bezug auf die Spinne zu benennen, während sie auftauchten (beispielsweise »Ich bin angespannt, ich habe Angst« etc.).

• Die zweite Gruppe wurde gebeten, anders über die Spinne zu denken, sodass sie weniger bedrohlich wirken würde (beispielsweise »Spinnen können mir nichts tun«, »Diese Spinne ist klein« und so weiter.)

• Die Probanden der dritten Gruppe sollten sich von den Gefühlen, die die Spinne in ihnen auslöste, ablenken.

• Die vierte Gruppe bekam gar keine Anweisungen.

Die physiologische Reaktivität der Teilnehmer wurde sofort und noch einmal eine Woche nach dem Experiment gemessen. Welche Gruppe kam Ihrer Meinung nach wohl am nächsten an die Spinne heran und welche Gruppe zeigte die geringste physiologische Reaktivität? Zur allgemeinen Überraschung zeigten die Teilnehmer der Gruppe, die ihre Emotionen unmittelbar beim Auftauchen benannt hatten, weniger physiologische Anzeichen von Angst und kamen der Spinne am nächsten.

Wie ist das möglich? Das Benennen Ihres Gefühlszustands verringert die Aktivität in der Amygdala, jenem Organ in Ihrem Gehirn, das für Ihre emotionalen Reaktionen verantwortlich ist. Die Fähigkeit, Ihre Gefühle zu benennen, wird Ihnen helfen, Ihre überaktive Amygdala herunterzuregeln. Ihre Emotionen beim Auftauchen als das zu wahrzunehmen, was sie sind und sie zu benennen, sind Schlüsselfähigkeiten, um das Gefühlschaos zu regulieren, wenn es aktiviert wird, insbesondere, wenn Sie emotionalen Schmerz erleiden. Aber Sie fragen sich vielleicht, wieso wir überhaupt Gefühle haben, wenn sie doch so schmerzhaft sind. Das ist unser Thema im nächsten Kapitel.

Aus der emotionalen Achterbahn aussteigen

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