Читать книгу Aus der emotionalen Achterbahn aussteigen - Patricia Zurita Ona - Страница 9
ОглавлениеKapitel 1
Bin ich emotional hochsensibel?
Hat man Ihnen gesagt, dass Sie zu sensibel sind oder dass Sie aus allem ein großes Gefühlsdrama machen? Fühlen Sie sich manchmal von Ihren Gefühlen überwältigt, so als sei ein Knopf für Wut, Angst, Schuld, Traurigkeit oder andere Gefühle bis zum Anschlag aufgedreht worden? Erleben Sie Ihre Gefühle so intensiv, so übermächtig, dass Sie Ihr Verhalten nicht steuern können oder im betreffenden Moment nicht klar denken können?
Bereuen Sie im Nachhinein manchmal Ihr Verhalten, weil Sie in bestimmten Momenten genau das tun, was Sie fühlen? Sind Sie erschöpft vom Auf und Ab und Hin und Her aufgrund Ihrer überwältigenden Emotionen?
Falls Sie auf eine dieser Fragen mit Ja geantwortet haben, kann es gut sein, dass Sie zu den Menschen gehören, die emotional hochsensibel sind.*
Wir alle fühlen uns hin und wieder von intensiven Gefühlen überwältigt und wissen nicht, wie wir damit umgehen sollen. Hochsensible erleben ihre Gefühle jedoch so, als hätten sie einen Schalter, mit dem sie an- und ausgeschaltet werden – sie fühlen zu viel, zu schnell und sie reagieren zu schnell, so als hätten diese Gefühle sie zu Boden geschleudert und seien auf ihnen herumgetrampelt. (Die Begriffe »Gefühle« und »Emotionen« werden in diesem Buch austauschbar verwendet. Um Verwirrung zu vermeiden, unterscheiden wir hier aber zwischen Emotionen/Gefühlen und Stimmungen: Eine Stimmung ist ein lang anhaltender Zustand, während eine Emotion oder ein Gefühl eine vorübergehende Erfahrung ist.)
Wenn Sie zu diesen Menschen gehören, steuern Ihre Emotionen Ihr Verhalten an sieben Tagen die Woche, 24 Stunden lang – ohne Ferien oder Feiertage. Fühlen Sie sich beispielsweise schuldig, werden Sie von der Schuld aufgerieben; fühlen Sie sich ängstlich, werden Sie von der Angst zermalmt, und wenn Sie sich traurig fühlen, werden Sie von Traurigkeit überwältigt. Sie erleben Ihre Emotionen schnell und intensiv, glauben jedem Gedanken, jeder Interpretation oder Hypothese, als seien sie die absolute Wahrheit, und dann tun Sie genau das, was Ihre Gefühle Ihnen sagen. Später bereuen Sie Ihr Handeln, weil es Sie verletzt und weil auch die Menschen, die Ihnen am Herzen liegen, verletzt werden.
Dieser Tanz mit Ihren Gefühlen – auf und ab, hin und her, vor und zurück – ist anstrengend und Sie stellen fest, dass es in Ihrem Leben viele zerbrochene Beziehungen und viel Einsamkeit gibt; Sie haben Schwierigkeiten, länger auf einer Arbeitsstelle zu bleiben und vielleicht haben Sie sogar schon mal Selbstmordgedanken gehabt. Es ist nicht leicht für Sie und es ist nicht leicht für die Menschen, mit denen Sie in Beziehung stehen.
Als Hochsensible/r haben Sie Schwierigkeiten mit der Steuerung Ihrer Emotionen – wie alle Menschen manchmal –, aber aufgrund Ihrer Konstitution erleben Sie alle Gefühle am Anschlag, voll aufgedreht, und bleiben trotz all Ihrer Bemühungen oft in einer Reaktionskette stecken, bei der Emotion auf Emotion folgt. Tag für Tag. Sie fragen sich vielleicht …
Wie bin ich zu einem emotional hochsensiblen Menschen geworden?
»An meinem fünfunddreißigsten Geburtstag wollten mein Freund und ich gemeinsam eine Party geben. Diese Beziehung war mein fünfter Versuch, mit jemandem, den ich liebte, ein Familienleben hinzubekommen. Ich hatte ihn im Internet auf einem Dating-Portal kennengelernt und nachdem wir uns acht Monate lang beschnuppert hatten, war ich überzeugt, dass er der Richtige war. Wir haben viel gestritten, manchmal stunden-, tage- und sogar wochenlang, aber ich glaubte dennoch, dass er der Richtige sei. Am Tag meines Geburtstags war ich wirklich verärgert, weil er mir nicht so viel half, wie ich es wollte. Ich wurde so wütend, dass ich anfing, ihn anzuschreien und Schimpfwörter an den Kopf zu werfen. Ich beklagte mich darüber, dass er mir nie helfen würde, dass er ein schlampiger Kerl sei und anscheinend nichts richtig machen konnte, nicht einmal bei einer so einfachen Sache wie der Vorbereitung einer Party. Ich war so wütend, dass ich die Wohnung verließ und mich für eine Stunde ins Café nebenan setzte. Dort saß ich weinend und schrieb ihm Nachrichten, immer noch voller Wut. Als ich in die Wohnung zurückkehrte, war mein Freund verschwunden und mit ihm seine wichtigsten Sachen. Auf dem Dielenboden fand ich einen Zettel, auf dem stand: ›Acht Monate lang habe ich dich gebeten, auf deine Wut zu achten, darauf, wie du mich behandelst, wenn du wütend bist, und sogar, wenn ich hier in Liebe mit dir zusammen bin, bist du dazu nicht fähig. Das macht mir Angst und ich kann mir das nicht antun. Ich bin draußen, ich bin mit dieser Beziehung fertig.‹«
EINE HOCHSENSIBLE
Haben Sie schon einmal in Staceys Haut gesteckt? Trotz ihres Wunsches, sich ein Familienleben aufzubauen, bestimmten ihre Emotionen ihr Handeln in dieser Beziehung, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, und sie erlebte schließlich, wie ihre fünfte Beziehung zerbrach. Warum passiert ihr das immer wieder? Was bringt sie dazu, so oft und so schnell wütend auf ihren Freund zu werden?
Die Antwort auf diese Frage beinhaltet drei Aspekte, die Staceys Verhalten erklären: 1) ihr Temperament, 2) ihr limbisches System und 3) ihre Lerngeschichte.
IHR TEMPERAMENT
Ihre genetische Prädisposition bestimmt die Art Ihrer emotionalen Ausgangslage, von der aus Sie auf Ihre innere und äußere Welt reagieren: Wir nennen das »Temperament«. Manche Menschen sind so »verkabelt«, dass sie die Dinge mental »scharfstellen« (sharpeners) und entsprechend agieren, andere neigen eher dazu, Erfahrungen und Erinnerungen zu nivellieren (levellers). Letztere sind gewöhnlich entspannter und ausgeglichener oder mehr »mellow-yellow«, wie meine Studierenden einmal sagten, und es muss schon einiges passieren, bevor von ihnen eine Reaktion kommt. Auf der anderen Seite sind »Sharpener« gewöhnlich empfindsamer, nehmen mehr Anteil und sind beeindruckbarer. Sie reagieren stärker auf ihre Umgebung, auf den Gesichtsausdruck und die Tonlage anderer Menschen, auf Sinnesreize und so weiter. Emotional hochsensible Menschen sind in der Regel vom Temperament her »Sharpener«.
IHR LIMBISCHES SYSTEM
Das limbische System ist jener Bereich des Gehirns, der für die emotionale Verarbeitung zuständig ist, und es hat eine Reihe von Strukturen, die miteinander interagieren. Zwei Organe spielen hier eine Schlüsselrolle: die Amygdala und der Hippocampus.
Die Amygdala, obwohl nicht größer als eine Mandel, ist extrem wirkmächtig und warnt uns, wenn eine Situation als bedrohlich empfunden wird. Sie signalisiert »Gefahr«, löst Alarm in unserem Gehirn aus und zwingt uns zu sofortigen Maßnahmen. Der Hippocampus speichert die spezifischen Aspekte einer Situation, einschließlich der trockenen Fakten und fungiert im Grunde als Gedächtnis des limbischen Systems. Als »Sicherheitspersonal« prüfen die Amygdala und der Hippocampus gemeinsam, ob eine aktuelle Situation mit einem früheren gefährlichen Erlebnis übereinstimmt oder ihm ähnelt und wenn es eine Übereinstimmung gibt, löst die Amygdala Alarm aus, dass Gefahr droht. Es ist, als ob Ihr Körper eine Feuerwehrsirene hört oder ein Auto, das Sie beim Überqueren der Straße anhupt. Das Problem bei der Interaktion zwischen Hippocampus und Amygdala besteht darin, dass es angesichts von Hunderten von Erfahrungen, die man an einem beliebigen Tag macht, meistens Informationsbruchstücke, Situationen und Ereignisse in der Gegenwart gibt, die mit vergangenen Erfahrungen verknüpft sind und als unangenehm, riskant oder bedrohlich wahrgenommen wurden. Aufgrund dieser Verbindung zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart wird der Feueralarm Ihres limbischen Systems immer wieder aktiviert, auch wenn Sie in diesem Moment nicht in Gefahr sind.
Verschiedene neurologische Studien haben nachgewiesen, dass emotional hochsensible Menschen eine überaktive Amygdala haben, was erklärt, warum sie in unterschiedlichsten Situationen oft sowohl emotional als auch in ihrem Handeln zu erhöhter Reaktivität neigen; Hochsensible sind, kurz gesagt, biologisch prädisponiert, zu viel zu schnell zu fühlen und sich im Moment reaktiv zu verhalten.
IHRE LERNGESCHICHTE
Haben Sie jemals an einem Einführungskurs zu Emotionen teilgenommen? Natürlich nicht, denn wir lernen durchs Leben. Seit Ihrer Geburt lernen Sie durch jede einzelne Erfahrung und Begegnung. Als Baby haben Sie über Ihre Sinne etwas über die Welt gelernt; es ist eine sinnliche Welt, die auf all dem basiert, was das Kind sieht, hört, berührt, schmeckt und riecht. Wenn es dann sprechen lernt, setzt sich seine Lernerfahrung durch den Gebrauch der Sprache fort, und dadurch, dass es symbolisch alle möglichen Assoziationen, Beziehungen und Verbindungen herstellt: aus Wörtern, Sätzen, Erinnerungen und so weiter. Sie lernen ständig, in jedem Moment, ohne Pause. Manchmal nimmt man Informationen auf, weil man sie explizit vermittelt bekommt oder indem man selbst danach sucht, zu anderen Zeiten ist man Informationen einfach ausgesetzt, derer man noch nicht einmal voll gewahr ist. Können Sie sich vorstellen, wie viele Informationen Sie in diesem Augenblick in Ihrem Kopf haben, Dinge, die Sie bewusst wissen, und Dinge, von denen Sie nicht wissen, dass Sie sie wissen?
Als Mensch, der Gefühle intensiv erlebt, haben Sie gelernt, sich in Ihrer emotionalen Landschaft auf der Grundlage aller direkten und indirekten Informationen zurechtzufinden, die Sie von den Menschen um Sie herum erhalten haben, von den verschiedenen Beziehungen, die Sie eingegangen sind, und von all den gesellschaftlichen Botschaften über die »richtige« Art und Weise, Emotionen zu verarbeiten: Es ist Ihre Lerngeschichte.
Zum Beispiel erinnerte sich Stacey an Situationen, in denen ihr Bruder, als sie zirka elf Jahre alt war, mit ihren Lieblingsspielsachen spielte oder ihre Mutter ihr keinen Nachtisch gab oder ihr Vater sie nicht zum Schwimmen mitnehmen wollte. Sie war empört und schrie alle aus vollem Hals an, bis die anderen aufgaben und auf ihre Wünsche oder Bedürfnisse eingingen.
Stacey sagte, sie habe nicht gewusst, was sie sonst hätte tun können, um zu bekommen, was sie brauchte, weil sie das Gefühl hatte, dass ihr, der kleinen Tochter, niemand zuhörte. Stacey lernte, so gut sie eben konnte, mit intensiven Wutgefühlen und anderen Emotionen umzugehen, und das wurde Teil ihrer Lerngeschichte. Später nahm sie manchmal Drogen oder ritzte sich die Arme auf, weil sie die Intensität und den Stress, die mit Gefühlen wie Wut, Verletzlichkeit oder Enttäuschung verbunden waren, nicht ertragen konnte. Oder sie versuchte, sich ihre inneren Kämpfe zu erklären, indem sie anderen die Schuld gab.
Es ist die Interaktion zwischen Ihrem Temperament, Ihrem limbischen System und Ihrer Lerngeschichte, die Ihre persönliche Signatur als Hochsensible/r erzeugt.
Es erfordert Mut, in Ihrer Haut zu stecken
Es ist wirklich schwer, dieses Wechselbad der Gefühle auszuhalten – auf und ab, hin und her und wieder auf und ab – wenn Ihr emotionaler Schalter eingeschaltet ist, der Sie in eine emotionale Hölle schleudert, und Ihr limbisches System arbeitet hart, um Ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Es erzeugt in Ihrem Körper einen bestimmten Handlungsimpuls und drängt Sie zur sofortigen Umsetzung. Es ist hart — wirklich hart.
Niemand weiß, was wirklich in Ihrem Innern vorgeht, wenn Ihre emotionale Maschinerie aktiviert wird, und welche Anstrengungen es Sie kostet, nicht zu tun, was diese nervigen und schrecklichen Gefühle von Ihnen fordern. Es erfordert tatsächlich Mut, in Ihrer Haut zu stecken und mit Ihren Gefühlen umzugehen, angesichts des geringen Spielraums, den Ihre Amygdala Ihnen in jedem beliebigen Moment lässt. Viele Hochsensible greifen bei dem Versuch, ihre intensiven Emotionen unter Kontrolle zu bringen, auf Reaktionen zurück, die alles andere als konstruktiv sind. Ich nenne sie »schnelle Lösungen«, weil sie vielleicht kurzfristig funktionieren. Langfristig bringen sie aber noch mehr Schwierigkeiten. Diese wenig hilfreichen – und sogar riskanten – Reaktionen sind unser Thema im nächsten Kapitel.
* Der Begriff »hochsensibel« meint in diesem Buch stets »emotional hochsensibel«. Er unterscheidet sich damit von der Definition von Elaine Aron, nach der Hochsensibilität neben emotionaler Intensität auch gründliche Informationsverarbeitung, Übererregbarkeit und hohe Sinnessensibilität umfasst.