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MONTAG, 2. MÄRZ 2020

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Meine Haare und ich sind ein ganz eigenes Kapitel – nicht nur in diesem Tagebuch. Schon als Zehnjähriger wollte ich im gemeinsamen Italien-Urlaub mit meinen Eltern meinen Kopf oft nicht unter Wasser ins Meer tauchen, weil dadurch meine, zumindest für mich, stets perfekt gestylte Frisur zerstört worden wäre. Meine Familie hat meine mit viel Haargel und Wachs zurechtmodellierte pechschwarze Haarpracht stets »die Krone« genannt, natürlich nicht ohne genügend ironischem Unterton. Diese Krone ist zwar im Laufe der Jahre und Jahrzehnte etwas weniger geworden – Denkerstirn – aber im Gegensatz zu meinen beiden Brüdern darf ich das auf meinem Kopf auch mit Mitte dreißig noch als Frisur bezeichnen, ohne Haarsträhnen über irgendwelche kahlen Flächen frisieren zu müssen.

Auch beim täglichen Schminken fürs Fernsehen haben meine Haare stets eine wichtige Rolle gespielt. Sitzen sie gut und bin ich mit der Frisur zufrieden, war die halbe Miete schon gewonnen und das Selbstbewusstsein für die nächste Sendung da. Alle Maskenbildnerinnen, die mich im Laufe der Jahre geschminkt haben, haben relativ schnell gemerkt: Bei seinen Haaren greifen wir besser nichts an. Egal ob mit Spray, Kamm oder Fingern: Jeder Versuch, in meine Frisur einzugreifen, wurde nach wenigen Sekunden abgewehrt. Einige Kolleginnen haben sich darüber wohl geärgert oder gewundert, aber meine Frisur ist eben meine Frisur, an die nur ich ran darf – oder der beste Friseur der Welt, Mario, den ich die nächsten Monate aber leider nicht brauchen werde. Denn aus der »Krone« sind heute die ersten »Zacken« gefallen.

Kahlgeschoren bin ich ja schon seit kurzem, doch als ich mir heute durch die nachgewachsenen Haare fahre, halte ich plötzlich ein Büschel in der Hand. Zwanzig oder dreißig kurze schwarze Haare, wie von einem vertrockneten Malpinsel, der nach zu vielen Einsätzen seine Borsten lässt. Der Anblick lässt mich kurz erstarren. Binnen Sekunden laufen mir Tränen über die Wangen, obwohl ich die letzten Tage eigentlich ganz gut ohne zu weinen verbracht habe. Jetzt hat der Hodgkin wirklich einen wunden Punkt getroffen. Meine Haare. Etwas verquollen vom Weinen schaue ich in den Spiegel, rupfe an meinen kurzen Stoppeln herum und sehe, wie sich nach und nach weiße Flächen bilden. Da will ich nicht zuschauen.

Im Gegensatz zu uns verfügt meine Mutter als jahrelange Aushilfsfriseurin für meinen Vater über ein professionelles Haarschneidegerät. Nach einem kurzen Anruf steht sie auch schon in meinem Badezimmer und setzt zur Schur an. Aus dem, was noch da ist, wird leider kein wärmender Wollpullover mehr werden. Nach und nach spüre ich, wie meine Haare sich nun endgültig verabschieden. Bevor ich einen Blick in den Spiegel wage, fahre ich mir mit der Handfläche über die Glatze und spüre die kurzen Stoppeln. Es fühlt sich nackt an. Und fremd. Ganz im Gegensatz zu dem, was ich dann sehe, als ich mich schließlich traue, einen Blick in unseren Badezimmerspiegel zu werfen. Ich sehe aus wie mein jüngerer Bruder Daniel. Nachdem ihm mit Mitte zwanzig die ersten Haare ausgefallen sind, trägt er bereits seit langer Zeit Glatze und sie steht ihm ausgesprochen gut. Schon mit Haaren sind wir oft miteinander verwechselt worden. Jetzt wird uns das wohl öfter passieren.

Wieder mache ich ein Foto von mir und schicke es an meine engsten Freunde und Familie. Richtig geschockt scheint niemand zu sein. »Fesch schaust aus. Gefällt mir fast besser als vorher«, so lesen sich einige Reaktionen. So weit würde ich nicht gehen, aber ich muss gestehen, in meiner Vorstellung hat es ohne Haare viel schlimmer ausgesehen. Und ganz ehrlich: Pro Tag spare ich mir nun mindestens 15 Minuten, die das Styling meiner Frisur bisher in Anspruch genommen hat. Und auch der ein oder andere Blick in den Spiegel wird in den nächsten Wochen wohl überflüssig. Zeit, mit der ich wohl nicht nur während dieser Krankheit etwas Besseres anfangen kann.

Einsiedlerkrebs

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