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MONTAG, 2. NOVEMBER 2020
DIENSTAG, 3. NOVEMBER 2020

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Wo könnte man einen Allerseelentag passender beginnen als am Friedhof? Noch besser, am zweitgrößten Friedhof Europas. Es ist 5.45 Uhr, als ich im Stockdunkeln vor dem imposanten »Tor 2« des Zentralfriedhofes am Stadtrand von Wien ankomme. Es nieselt, es ist kalt, neblig und irgendwie gruselig. Nachdem die Halloweenparty coronabedingt heuer ausgefallen ist, hole ich sie eben hier nach. Verkleidet habe ich mich allerdings nicht. Es ist eine ziemlich unchristliche Uhrzeit, um einen christlichen Feiertag zu begehen.

Aber ich habe ein Date. Besser gesagt, gleich mehrere. Mit Falco, Udo Jürgens, Beethoven und insgesamt sieben österreichischen Präsidenten. Zugegeben: Die Konversation bei dieser morgendlichen Zusammenkunft – ohne Kaffee, um diese Uhrzeit hat hier leider noch nichts geöffnet – werde ich allein am Laufen halten müssen. Aber das ist auch mein Job. Gemeinsam mit meinen Kollegen von Kamera und Ton melde ich mich gleich drei Mal live in unsere Frühstücks-TV-Sendung, um passend zum »Gedenktag an Verstorbene« von hier zu berichten. Meine Interviewpartnerin, eine junge Fremdenführerin, erzählt mir dabei viel Wissenswertes über den Friedhof und seine Bewohner. Etwa, dass er zu Beginn Imageprobleme hatte und man deshalb Promis aus anderen Friedhöfen der Stadt aus- und hier wieder eingegraben hat. Der Tod muss tatsächlich ein Wiener sein.

Mittlerweile ist es neun Uhr vormittags. Meine Reportagen für heute sind beendet, die nächsten für morgen früh müssen organisiert werden. Das Thema liegt auf der Hand: Corona. So wie schon die letzten Monate kommt auch unsere Sendung nicht ohne das Virus und seine Auswirkungen aus. Der Anlass diesmal heißt »Lockdown light« – Gewicht zunehmen wird man in dieser Zeit wohl trotz des an kalorienarme Produkte erinnernden Namen. Weil die Infektionszahlen massiv in die Höhe schießen, hat die Bundesregierung die Gangart wieder verschärft. Geschäfte dürfen zwar offen bleiben, doch es gelten ab morgen Ausgangsbeschränkungen. Das heißt konkret: Zwischen zwanzig Uhr und sechs Uhr früh darf man sein eigenes Zuhause nur verlassen, wenn man wirklich muss, um zur Arbeit oder zum Arzt zu gehen.

Für meine Freunde und Familie ist das eine echte Belastungsprobe. Schon wieder Lockdown. Schon wieder eingesperrt fühlen. Schon wieder so gut wie niemanden sehen. Ich bin wohl am gelassensten von allen. Denn mich kann so ein verordnetes Zuhausebleiben in diesem Jahr wahrlich nicht schrecken. Monatelang war ich quasi in meiner Wohnung eingesperrt. Ausgang hat es nur für Krankenhausbesuche gegeben. Dazu ständig die Gedanken daran, ob ich jemals wieder gesund werde, gepaart mit der optischen Verwandlung in einen glatzköpfigen Sumoringer – vermutlich dennoch ein leichtgewichtiger. Pah. Was kann mir da ein Lockdown schon anhaben? Und so bereite ich für den kommenden Morgen ein Gespräch mit einem Sprecher des Innenministeriums vor. Wann darf wer hinaus? Wie wird die Polizei das Ganze kontrollieren? Braucht man eine Bestätigung des Arbeitgebers? Alles Fragen, die mich und, so hoffe ich, auch das Publikum interessieren. Am frühen Nachmittag ist mein Arbeitstag vorbei. Das denke ich zu diesem Zeitpunkt zumindest. Tatsächlich wird es der längste meines Lebens gewesen sein.

Es ist kurz nach zwanzig Uhr, als ich mich gemütlich ins Bett kuschle. Herrlich. Bei diesen Frühdiensten werden Erinnerungen an die Kindheit wach. Während ich mich damals mit Händen und Füßen gewehrt habe, so zeitig schlafen zu gehen, genieße ich es heute umso mehr. Es bleibt mir auch keine Wahl. Wenn der Wecker um 4.15 Uhr läutet und ich halbwegs ausgeschlafen aussehen will, heißt es um spätestens 20.30 Uhr »Gute Nacht« sagen. Wie immer vorm Schlafengehen checke ich am Handy noch die Nachrichtenlage. Auch auf Twitter. Plötzlich, um exakt 20.13 Uhr, poppt auf dem Account eines bekannten heimischen Journalisten folgende Nachricht auf: »Heftige Schießerei am Schwedenplatz. Polizeigroßeinsatz«.

Okay. Was ist da los? Der Journalist in mir ist auf einmal überhaupt nicht mehr müde. Ganz im Gegenteil. Sofort rufe ich den Chef unserer Nachrichtensendung »Wien heute« an, um ihm von dem Vorfall zu erzählen. Nach einem kurzen Telefonat steht fest: Ich fahre in die Innenstadt, um mir das genauer anzusehen. »Dann kann ich das in der Frühsendung gleich authentisch schildern. Das wird wohl das Thema sein, statt der neuen Lockdown-Regeln«, sage ich ihm, während ich aus dem Bett steige und mir ein weißes Hemd und Jeans anziehe, Socken auch, ein bisschen schwierig mit dem Handy zwischen Ohr und Schulter geklemmt. Was mich in dieser Nacht erwartet, ahne ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Nicht einmal ansatzweise. Ich schnappe mir ein paar leere Blätter Papier, einen Kugelschreiber, werfe mir meinen Mantel über und rufe mir ein Taxi. In den Schlagzeilen um 20.30, die gerade im Radio laufen, als der Wagen mich Richtung Tatort bringt, ist noch nichts von einer Schießerei zu hören. In den sozialen Medien, die ich am Handy abrufe, tauchen aber immer mehr Bilder, Videos und Infos auf. Von großräumigen Absperrungen ist die Rede und auch von Menschen, die sich vor Schüssen in Lokale gerettet haben. Als ich diese Zeilen lese, merke ich, wie mein Puls steigt und Blut in meinen Kopf schießt.

Das klingt plötzlich nicht mehr nach einer Schießerei zwischen verfeindeten Banden, woran ich zuerst dachte, sondern offenbar nach einem Amoklauf oder Ähnlichem. Der Taxifahrer, der erst merkt, dass etwas nicht stimmt, als wir ständig von Einsatzfahrzeugen überholt werden, lässt mich vor einer Polizeiabsperrung neben dem Ringturm aussteigen. »Bringen Sie sich sofort in Sicherheit. Sie können hier nicht bleiben!«, schreit mich ein uniformierter, junger Beamter an, als ich mich nach meinem Kameramann umschaue. Er hatte Rufbereitschaft und sollte hier irgendwo bereits erste Aufnahmen machen. Als der Polizist merkt, dass ich beruflich hier bin, senkt sich seine Aufgeregtheit merklich. Die Anspannung ist ihm aber nach wie vor anzumerken.

Als ich meinen Kollegen gefunden habe, legen wir sofort los. Doch mehr als Aufnahmen von Absperrbändern, vorbeirasenden Einsatzfahrzeugen und Polizisten in Uniform bekommen wir hier nicht. Mein Handy läutet. Eine Regieassistentin der »Zeit im Bild«, der wichtigsten Nachrichtensendung des Landes, ist dran. »Es läuft gerade eine Sondersendung. Wir möchten zu dir schalten. Bist du bereit?«, fragt sie mich, während bei ihr im Hintergrund laute und aufgeregte Stimmen zu hören sind. Das war wohl eher eine rhetorische Frage. Noch bevor ich sie beantworten konnte, hatte ich auch schon die Stimme von Armin Wolf im Ohr. Der in Österreich bekannteste Nachrichten-Anchorman fasst gerade die wenigen Informationen zusammen, die es zu dem Zeitpunkt gibt, ehe ich schon meinen Namen höre. »Für uns in der Innenstadt ist Patrick Budgen. Was ist Ihr aktueller Wissensstand?«, höre ich durch meine Bluetooth-Kopfhörer, die mit meinem Handy verbunden sind. Zum Glück habe ich kurz davor einen Pressesprecher der Polizei erreicht, der mir erste Ermittlungserkenntnisse bestätigen konnte. Und so konnte ich Armin Wolf und den Zusehern zu Hause von »mehreren bewaffneten Tätern« und »einem Toten« berichten. Außer meinen persönlichen Eindrücken von der bedrückenden und aufgeladenen Stimmung in der Innenstadt war noch nicht viel mehr drin. Trotzdem habe ich gefühlt zwei Minuten lang gesprochen und geschildert, bis die Stimme am anderen Ende der Leitung mit einem »Danke, Patrick Budgen aus der Innenstadt« signalisiert, dass ich nicht mehr auf Sendung bin. Das wäre also geschafft.

Während ich meine mit ersten Notizen beschmierten Zettel zusammensammle, wird mir die Tragweite dieses Ereignisses langsam bewusst. Es handelt sich offenbar um einen Anschlag, auch wenn das Motiv zu diesem Zeitpunkt völlig unklar ist. Viele Städte weltweit haben so etwas schon erlebt. Nizza. Paris. Berlin. London. Madrid. Brüssel. Wien war diesbezüglich bisher eine Insel der Seligen. Bis heute. Ich stelle mich also auf eine lange Nacht ein. Nur: Wie soll ich hier vor den Absperrungen zu mehr Informationen kommen? Kurzerhand fasse ich einen Entschluss. Mein Kameramann, ein Kollege – er hatte uns zuvor per Motorrad die sogenannte Live-U gebracht, ein System für TV-Live-Schaltungen in Form eines Rucksackes – und ich gehen schnellen Schrittes den mittlerweile gespenstisch leeren Ring entlang. Unser Ziel: die Zentrale der Wiener Polizei, ein paar hundert Meter entfernt vom Tatort. Durch meine mittlerweile 15-jährige Arbeit im ORF-Landesstudio weiß ich, dass dort ein Einsatzstab mit Vertretern aller relevanten Organisationen tagt, wann immer es kleinere, oder wie heute, größere Katastrophen gibt.

Nach wenigen Minuten stehen wir vor verschlossenen Türen. Der Eingang der Landespolizeidirektion, wie sie hochoffiziell heißt, ist mit dicken Stahltüren verschlossen. Ob das immer so ist oder speziell heute, weiß ich nicht. Einladend sieht jedenfalls anders aus. Und erwartet werden wir hier wohl auch nicht. Trotzdem drücke ich einen der beiden Knöpfe auf der Gegensprechanlage, neben dem »Inspektion« steht. Nach wenigen Sekunden meldet sich eine sonore Männerstimme, die in breitem Wienerisch »Ja, bitte?« sagt. »Patrick Budgen vom ORF ist hier«, erwidere ich. Noch bevor ich erklären kann, warum ich hier bin und was ich möchte, ertönt ein lautes Surren und die große, graue Tür öffnet sich.

Etwas verwundert treten meine Kollegen und ich ein und sehen im neongrellen Licht des karg wirkenden Foyers bereits ein bekanntes Gesicht. Es ist der Bürgermeister der Stadt mit seinen engsten Beratern, der gerade in den Aufzug steigt, offenbar in Richtung Stabsleitung. »Hier bin ich richtig«, sagt mir meine innere Stimme. Hier kann und werde ich zu relevanten Informationen kommen. Davor muss ich aber wohl noch jede Menge Überzeugungskraft an den Tag legen. Vor allem bei der Pressechefin der Polizei. Der Portier hat sie offenbar über unsere Anwesenheit informiert und sie scheint nicht wirklich amüsiert darüber, als sie die Treppen zu uns herunterkommt. Noch bevor sie Luft holen kann, um etwas vermutlich Vorwurfsvolles zu sagen, erkläre ich ihr unseren unangekündigten Spontanbesuch. »Ich habe ungefähr fünfzig Mal bei diversen Pressesprechern angerufen. Es hat leider niemand abgehoben, deshalb sind wir hier. Wir brauchen dringend ein Statement von offizieller Seite. Es schwirren so viele Gerüchte herum, wir brauchen unbedingt Fakten«, sage ich, vermutlich etwas zu aufgeregt und in ziemlich hohem Tempo. Doch statt mich abzuwimmeln und vor die Tür zu komplimentieren, entgegnet die etwa Vierzigjährige, für die Verhältnisse freundlich: »Ich werde schauen, was ich tun kann«, dreht sich um und verschwindet wieder in Richtung ersten Stock. Nur zwei Minuten später läutet mein Handy, dessen Akku bereits jetzt fast leer ist. Die Sprecherin ist am Telefon. »In zehn Minuten bekommt ihr jemanden vom Innenministerium zum Interview. Ihr seid die Ersten«, sagt sie mit ganz ruhiger Stimme. »Vielen Dank fürs Organisieren«, entgegne ich, lege auf, um sofort darauf den Newsroom darüber zu informieren. »Sobald du einen Interviewpartner hast, schalten wir zu dir«, sagt die erfahrene Redakteurin mit ihrer tiefen Stimme, die in dieser Nacht plötzlich zur Chefin vom Dienst und verantwortlich für diese Sondersendung geworden ist.

Aus den zehn Minuten werden fünfzehn. Achtzehn. Zwanzig. Meine zahlreichen Anrufe bei der Sprecherin – den Akku kann ich dankenswerterweise im Pausenraum der Polizistinnen und Polizisten hier laden – bleiben unbeantwortet. Mindestens genauso oft ruft mich die Kollegin im ORF-Zentrum an. »Hast du schon wen? Alle warten auf dieses Interview! Wann ist es so weit?«, fragt sie mich freundlich, aber bestimmt. Dann, nach einer gefühlten Ewigkeit (in Wirklichkeit waren es wohl zwanzig Minuten) kommt der neue Pressesprecher des Innenministeriums die Stiegen herunter. Mit Hemd, Sakko, perfekt gestylter Frisur und ernstem Blick. Ich kenne den Mann in meinem Alter beruflich schon seit Jahren, er war davor bei der Polizei, so angespannt habe ich ihn allerdings noch nie gesehen. Viel Zeit für Smalltalk bleibt nicht. Wie begrüßen uns und während er sich den Kragen seines weißen Hemdes richtet, rufe ich am Regieplatz an. »Der Sprecher des Innenministeriums ist jetzt bei mir. Ihr könnt jederzeit zu uns schalten«, sage ich der Regieassistentin am anderen Ende der Leitung.

Keine sechzig Sekunden später sind wir live. Ich habe mir auf einem meiner mittlerweile zerknitterten A4-Blätter von daheim Notizen mit möglichen Fragen gemacht, doch die brauche ich gar nicht. Intuitiv frage ich meinen Interviewpartner nach und nach zu den schrecklichen Ereignissen ab. »Was sind die neuesten Erkenntnisse? Ist es ein Terroranschlag? War es ein Einzeltäter? Stimmt das Gerücht, dass der Mann einen Sprengstoffgürtel umgeschnallt hat? Wie viele Tatorte gibt es?« Souverän antwortet mein Gegenüber sachlich und ruhig auf jede einzelne meiner Fragen. Und auch ich fühle mich innerlich ruhig. Hochkonzentriert, aber ruhig. Vor ein paar Monaten wäre ich in diesem Moment wohl aufgeregt gewesen. Vielleicht sogar nervös. Doch die vergangenen Monate haben mich verändert. Die Herausforderungen, Ängste und Sorgen, mit denen ich konfrontiert war, haben mich irgendwie geerdet. Am Ende des rund zehnminütigen Gesprächs wissen die Zuschauer – es sind bereits über zwei Millionen zu dem Zeitpunkt – und ich wesentlich mehr. Vor allem gibt es nun valide Informationen, direkt aus dem Einsatzstab, und keine Gerüchte oder Mutmaßungen wie davor.

Kaum signalisiere ich dem Sprecher, dass unser Interview vorbei ist, verabschiedet er sich und verschwindet wieder in Richtung ersten Stock des alten Gebäudes. Die kommenden Stunden melde ich mich fast halbstündlich in die Sondersendung. Einmal mit dem Bürgermeister vor dem Mikrofon. Dann vom Burgtheater, wo Zuschauerinnen und Zuschauer seit Stunden ausharren und nicht hinausdürfen. Dann spreche ich mit dem Chef der Wiener Berufsrettung, der die Situation am Tatort schildert. Und kurz vor zwei Uhr früh schließlich nochmal mit dem Stadtchef, der die traurige Nachricht eines weiteren Todesopfers verkündet. Am Ende waren es insgesamt vier Zivilisten, die ihr Leben verloren haben.

Gegen halb drei Uhr früh ist mein Arbeitstag zu Ende. Fast 24 Stunden lang bin ich zu diesem Zeitpunkt schon auf den Beinen. Müdigkeit? Fehlanzeige. Viel zu aufgewühlt und voller Adrenalin bin ich, als mich mein Kameramann dankenswerterweise durch die leeren Straßen nach Hause bringt. Auf dem Weg dorthin schaue ich das erste Mal in meinen WhatsApp-Posteingang, auf Twitter und in meine Mailbox. Wow. Alles geht fast über. Ich habe dutzende Nachrichten bekommen. Von Freunden, Familie, ehemaligen Volksschulkolleginnen und -kollegen und auch Arbeitskolleginnen und -kollegen, die ich zu einem großen Teil gar nicht persönlich kenne. Sie alle gratulieren mir zu meiner Berichterstattung und zu den Interviews. Erst jetzt wird mir langsam bewusst, wie viele Menschen bei dieser Sendung zugeschaut haben müssen.

Zuhause angekommen wartet mein Freund Alex mit einem Glas Rotwein auf mich. Er ist auch die ganze Nacht aufgeblieben und hat die Sendungen im Fernsehen verfolgt. »Du warst großartig«, sagt er mir, als ich mich mit einem lauten Seufzer auf die Couch fallen lasse. Mein Job beeindruckt ihn sonst – zum Glück – relativ wenig. Viel Zeit zum Reflektieren und Austauschen haben wir aber nicht. Denn in einer Stunde muss ich wieder aufstehen. Die Frühstücks-TV-Sendung, für die ich ja eigentlich ein Interview zum Thema »Lockdown light« geplant hatte, fällt aus und macht Platz für eine stundenlange Sondersendung, die bereits um 5.45 Uhr beginnt. Und so verlasse ich frisch geduscht nach einer knappen Stunde Halbschlaf wieder das Haus, um an den Tatort zurückzukehren.

Alles ist weiterhin abgesperrt, allerdings nicht so großräumig wie noch in der Nacht. Und so kommen mein Kameramann, ein anderer Kollege, und ich deutlich näher zum Ort des Geschehens. Überall sind Einschusslöcher, neonfarbene Markierungen der Polizei und auch Blutflecken zu sehen. In weißen Schutzanzügen gekleidete Männer und Frauen der Tatortgruppe markieren vorsichtig Spuren und fotografieren jeden einzelnen Winkel. Es ist ein gespenstisches Bild. Nach und nach bekommen die Informationen der letzten Nacht ein trauriges Angesicht. Neben uns haben noch andere TV-Journalisten und Fotografen Aufstellung genommen. Bis elf Uhr Vormittag berichte ich hier über die neuesten Erkenntnisse. Über die Tatortarbeit. Darüber, dass die Polizei jetzt doch nur von einem Einzeltäter ausgeht. Und auch über die Zahl der Verletzten, die sich mittlerweile auf 24 erhöht hat.

Langsam spüre ich die Müdigkeit in meinen Knochen. Ich bin aber gleichzeitig stolz auf sie. Noch vor wenigen Monaten hat sich der Weg vom Bett ins Bad wie ein Marathon angefühlt. Jetzt bin ich seit fast dreißig Stunden auf den Beinen und im Einsatz und mein Körper spielt noch immer brav mit. Am Nachmittag bin ich noch als Gast in eine Talkshow eingeladen, um über meine Erlebnisse in der Nacht zu berichten. Um 19 Uhr bin ich dann endlich daheim und wirklich hundemüde. Kurz vor dem Schlafengehen schaue ich nochmal auf mein Handy. Nein, zum Glück keine Schreckensmeldung auf Twitter. Es ist eine SMS, die mich freut. »Habe bei der Wahl zu den Journalisten des Jahres gerade für dich gestimmt«, schreibt mir ein bekannter Pressesprecher. Waaaas? Ich kann es gar nicht glauben. Doch man hat mich für meine Berichterstattung in der Terrornacht offenbar tatsächlich nachträglich für den Preis nominiert. Und das ausgerechnet in dem Jahr, das für mich alles andere als preisverdächtig begonnen hat.

Einsiedlerkrebs

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