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Mitte der Achtziger begann Doktor Wyatt Fisher ein Experiment. Fisher war davon überzeugt, dass psychische Störungen durch einen Ausgleich an physischem Leid behandelt werden können. Der Körper, ja das ganze Wesen des Patienten würde so wieder zu seinem inneren Gleichgewicht finden, das in Folge von erlittenen Traumata geschädigt ist.

Seine Position als einer der führenden Neurologen in der St. Grace-Anstalt für psychisch Kranke gewährte Fisher die Möglichkeit, ausreichend Probanden zu finden. Der Arzt überzeugte zahlreiche Angehörige der Erkrankten und begann mit dem Zuspruch der Familien, seine Schmerztherapie zu erproben.

Etwa zehn Monate später zeigte sich, dass Fishers Methoden ohne Erfolg blieben und er dadurch zusehends in die Kritik geriet. Das Ansehen der Anstalt verschlechterte sich und die Leitung ordnete an, die Testreihen zu beenden. Fisher widersetzte sich dieser Anweisung und führte seine Versuche heimlich fort.

Hauptbestandteil der Therapie war der Einsatz von Elektroschocks. Mit jeder weiteren Behandlung steigerte er das Schmerzpotential, das die Patienten erleiden sollten. Erst als ein gewisser Francis J. Osman während der Behandlung starb, erkannte Fisher, dass er mit seinen Methoden die Grenzen jeder Moral überschritten hatte. Am 17.10.1989 wurden der Leichnam des Mediziners am Ufer eines Flusses und wenig später die erschreckende Dokumentation seiner Studie gefunden. Auf der letzten Seite seiner Arbeit war ein handschriftlicher Vermerk.

Ich habe mein Recht zu leben verwirkt.

Ich schließe das Internetportal des städtischen Zeitungsarchivs und reibe mir die müden Augen. Die Recherche bestätigt meine Vermutung, dass in der Anstalt schlimme Dinge geschehen sind. Was mir für einen Augenblick beim Betrachten des Bildes im Aufenthaltsraum zu Teil wurde, war die Leidensgeschichte von Francis J. Osman. Offensichtlich gibt er der Anstalt die Schuld, dass so viele Menschen leiden mussten und niemand etwas gegen Fishers Experimente unternommen hatte. Ich habe als einziger Francis’ Klageruf verstanden und fühle Bitterkeit darüber in mir aufsteigen, ihm nicht helfen zu können.

„Es tut mir Leid“, flüstere ich, während mein Laptop herunterfährt.

Ich stehe auf und setze mich auf meine Couch im Wohnzimmer. Inzwischen ist es kurz nach Mitternacht und ich schalte den Fernseher an, um mir die Spätnachrichten anzuschauen.

Ich sehe andere schreckliche Ereignisse, gegen die ich auch nichts unternehmen kann. Die Meldungen helfen mir, Francis’ Schicksal als ein Teil des Leids zu verstehen, das niemand bestimmt war, aufzuhalten. Und doch durchkreist meine Gedanken die Frage, ob ich zumindest dazu fähig wäre, seiner ruhelosen Seele Erlösung zu schenken.

Ich kenne Vivianes Antwort hierauf. Aber meine Grandma nannte auch die Dinge, die mir zu Teil werden, eine Gabe. Und deshalb zweifle ich, etwas bewirken zu können.

Ich wünschte, du wärst hier bei mir, Grandma.

Nach den Kurzmeldungen aus aller Welt wechseln die Nachrichten zu einem lokalen Thema. Noch immer fehlt von der fünfzehnjährigen Alice Amstritch jede Spur. Das Mädchen wurde vor neun Tagen vermisst gemeldet und bisher blieben die Ermittlungsarbeiten der Polizei erfolglos. Jeder Hinweis, dem die Beamten nachgegangen sind, entpuppte sich als eine Sackgasse.

Alices Eltern haben inzwischen gemeinsam mit zahlreichen Bekannten, Nachbarn und anderen Freiwilligen eigene Suchtrupps gebildet. Jake Amstritch spricht mit feuchten Augen in die Kamera und versichert allen Zuschauern und sich selbst, dass er und seine Frau Lauren nicht eher ruhen werden, bis sie ihre Tochter wieder in den Armen halten. An seinem Gesichtsausdruck ist zu erkennen, dass die Möglichkeit, Alice könnte bereits tot sein, noch nicht herangezogen wurde. Der Wunsch, das eigene Kind zu retten, behält die Oberhand.

Es ist das zweite spurlose Verschwinden innerhalb des letzten halben Jahres, bei dem eine junge Schülerin wie vom Erdboden verschluckt bleibt. Auch bei Denise Gallard gab es weder ein Lebenszeichen noch eine Leiche. Stattdessen sind die Angehörigen und Freunde zwischen Hoffnung und Angst gefangen.

Die Hoffnung, dass sie lebt und gefunden wird.

Die Angst, sie nie mehr wieder zu sehen.

Ich glaube, diese Ungewissheit über das Schicksal des eigenen Kindes ist die Größte der Qualen.

Alices Verschwinden weckt bei mir Erinnerungen. Ich spüre, wie sich in meinem Körper eine eisige Kälte ausbreitet. Mein Herz, so meine ich, wird zu einem leblosen Klumpen, den ich mir am liebsten aus der Brust reißen würde.

Ich fahre mir mit dem Handrücken über die feuchten Augen und versuche, jede weitere Träne zu unterdrücken.

Die Uhr über dem Fernsehen zeigt, dass es zwanzig Minuten nach Mitternacht ist. Ich bin mir sicher, dass ich keinen Schlaf finden werde. Zu viele Dinge halten mich davon ab.

Dads immer stärker werdendes Verdrängen der Realität.

Sams Wutausbruch in der Klinik.

Francis’ erlittene Qualen.

Und Alices und Denises rätselhaftes Verschwinden.

Ich entschließe mich, für einen Drink meine Wohnung zu verlassen und hoffe, das betäubende Brennen eines Whiskeys wird mir etwas Zerstreuung verschaffen. Ich greife nach einer Trainingsjacke, verstecke meine zerzausten Haare unter eine Kappe mit dem Fresh Food Daily - Firmenlogo und laufe etwa zwanzig Minuten, bis ich das Nomansland, eine Kneipe in einer Seitenstraße des Stadtzentrums, erreiche.

Die Gäste, die hier an Tischen und Tresen sitzen, teilen sich die gleiche Sehn-sucht. Sie wollen bei einem Drink ihre eigenen, trüben Gedanken ignorieren und für ein paar Stunden aus dem Alltag entfliehen.

Das Innere der Kneipe liegt in angenehmem Halbdunkel. Nur wenige Lampen und vereinzelt aufgestellte Kerzen durchbrechen mit ihrem Schein die tröstliche, wenn auch melancholische Stimmung. Aus kleinen Lautsprechern an der Decke ist Kurt Cobain zu hören. Es ist die bekannte Aufnahme eines Unpluggedkonzerts seiner Band Nirvana.

Ich steuere einen freien Sitz an der Theke an und bestellte mir beim Bartender, einem jungen Mann mit unzähligen Piercings an Augenbrauen, Nase und Lippen, einen Whiskey. Während ich auf meinen Drink warte, streift mein Blick einen Tisch in der Nähe des Eingangs. Eine Frau mit langen dunkelbraunen Haaren ist in ein Buch vertieft und nippt in unregelmäßigen Abständen an einer Bierflasche.

Ihre Haut wirkt gespenstisch hell und selbst aus der Entfernung entfalten ihre grünen Augen eine starke Anziehungskraft. Ich kenne die Frau bereits, denn die letzten Male, die ich – so wie jetzt – alleine am Tresen saß, war sie auch hier. Wie ich, ist sie stets ohne Begleitung, sofern man das Buch in ihren Händen nicht als Gesellschaft wertet. Ich betrachte sie einen Moment, allerdings etwas zu lange und als sie aufsieht, treffen sich unsere Augen für den Bruchteil einer Sekunde. Ich halte ihrem Blick nicht stand und drehe mich um. Der Bartender reicht mir den Whiskey und ich bedanke mich mit einem Nicken.

Der erste Schluck durchfährt mich wie ein belebendes Tonikum und vertreibt die Kälte aus meinem Körper. Nach einem zweiten beginnen sich meine Gedanken um Dad, Sam, Francis und die verschwundene Alice langsam in einem Nebel aus Gleichgültigkeit zu verbergen. Ich weiß, dass dieses Gefühl nicht lange anhalten wird, weshalb ich es umso mehr genieße. Mit geschlossenen Augen lausche ich der akustischen Musik im Hintergrund, als mich jemand vorsichtig an der Schulter berührt.

Ich zucke überrascht zusammen und schaue zur Seite, an der mich zwei grüne Augen mustern.

„Entschuldigung, ich möchte nicht aufdringlich sein, aber kennen wir uns?“

Für einen Augenblick bin ich wie erstarrt. Unfähig etwas zu antworten, schaue ich die junge Frau einfach nur an. Als es für mich droht, lächerlich zu werden, gewinne ich meine Stimme zurück.

„Nein, ich glaube nicht.“

„Oh…okay“, sagt sie und streicht sich mit der linken Hand eine Haarsträne aus dem Gesicht. „Ich frage nur, weil Sie mich so angeschaut haben.“

Röte steigt mir ins Gesicht. „Verzeihung“, erwidere ich kleinlaut. „Als ich die letzten Male hier war, waren Sie auch immer da. Und gerade eben ist mir das bewusst geworden, darum habe ich Sie so angestarrt. Ich kann Sie jedenfalls beruhigen, ich bin kein heimlicher Verehrer oder Stalker.“

Ich nehme einen Schluck Whiskey und hoffe, alles gesagt zu haben, was nötig ist, um nicht die Rolle des Psychopathen verliehen zu bekommen.

„Das ist gut zu wissen“, stimmt sie mir zu.

Da keiner von uns beiden mehr etwas zu sagen weiß, wende ich mich ab und konzentriere mich auf die Eiswürfel in meinem Drink.

„Mein Name ist Peyton“, unterbricht sie nach einer Weile die Stille zwischen uns. Wieder schaue ich sie überrascht an und brauche einen Augenblick, um etwas erwidern zu können.

„Ich heiße Colby.“

„Darf ich?“, fragt sie und deutet auf den freien Barhocker neben mir.

Ich nicke ihr zu und Peyton setzt sich neben mich. Ihr Buch verstaut sie schnell in ihrer Tragetasche, die sie auf dem Tresen mitsamt ihrem Bier ablegt.

„Was liest du?“, frage ich, um auch etwas zu dem begonnen Gespräch beizutragen.

„Das Buch ist das Erstlingswerk eines Freundes. Ein Konflikt zwischen einem Vater und seinen drei Söhnen. Sie sind sich alle völlig fremd zueinander geworden. Jeder ist auf seine Art einsam. Das verbindet sie auf seltsame Weise wieder miteinander.“

„Scheint die perfekte Lektüre für einen Abend im Nomansland zu sein“, füge ich hinzu.

„Weil die meisten Gäste hier einsam scheinen?“

„Es ist der Grund, warum sie herkommen. Weshalb sonst sitzen die Leute unter der Woche und kurz nach Mitternacht an den Tischen und starren auf ihre halbvollen Gläser?“

Peyton lächelt. „Dann gehören wir beide offensichtlich auch in diesen Club der einsamen Seelen.“ Ihre Stimme klingt amüsiert und mich beschleicht das Gefühl, Peyton wolle sich über meine Äußerung lustig machen. Sicherlich wäre sie eine derjenigen, die mich mit Vergnügen Crazy-Colby nennen. Die Angst, verletzt zu werden, beginnt in meinem Kopf ihre Kreise zu ziehen und da ich kein Meister im Umgang mit Frauen und zwischenmenschlichen Gefühlen bin, rät mir mein Instinkt, zu gehen. Also leere ich mein Glas und stehe auf.

„Ich muss weiter“, deute ich meinen Abschied an. Seltsamerweise glaube ich in Peytons grünen Augen so etwas wie Enttäuschung ausmachen zu können.

„Vielleicht sehen wir uns wieder? Es scheint ja in dieser Stadt nur einen Treffpunkt für die Einsamen zu geben.“

Ich antworte nichts und laufe mit gesenktem Kopf der Tür entgegen. Insgeheim frage ich mich, ob Peyton mir hinterher sieht.

Die Stadt liegt im Dunkel der Nacht und zwischen schmalen Wolkenbändern gibt das Firmament einen Teil seiner Sterne Preis. Gegen das entfernte Licht der unzähligen kleinen Himmelskörper wirkt der Schein der Straßenbeleuchtung kalt und bedrohlich.

Vereinzelt ziehen Autos an mir vorbei, als ich mich auf dem Gehweg neben der Main Street befinde. Mit jedem meiner Schritte realisiere ich, zehn Minuten nach meinem abrupten Abgang im Nomansland, wie albern mein Verhalten ist. Peyton wollte sicherlich nur den begonnen Smalltalk fortsetzen. Aber so reagiere ich, wenn sich mir jemand fremdes nähert. Es ist fast schon eine Automatik, die ich nicht mehr steuern kann. Insgeheim gebe ich meiner Familie dafür die Schuld. Wenn dir niemand Beachtung schenkt und du im Schatten eines anderen aufwächst, ist es nicht verwunderlich, dass du auf Menschen, die sich für dich zu interessieren scheinen, mit Misstrauen reagierst.

Während ich vor meiner Tür stehe und nach dem Haustürschlüssel krame, wird mir erneut bewusst, dass meine ganze Aufmerksamkeit denjenigen gehört, die sich für mich nicht interessieren.

Dad und Sam. Welch bittere Ironie.

Das Echo der Verstorbenen

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