Читать книгу Das Echo der Verstorbenen - Patrick Kruß - Страница 18
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ОглавлениеDer Klang des Regens verriet das Ende des Gewittersturms. Das wilde Hämmern der Regentropfen wechselte abrupt zu einem sachten, aber beständigen Trommeln. Der Wind flaute ab und nur noch vereinzelte Blitze ließen den Himmel in weiter Ferne erleuchten. Die Tür des Ateliers stand halb offen und gewährte der kühlen Nachtluft Zugang. Das Unwetter war so abrupt zu Ende, wie es begonnen hatte. Die Nacht lies im Moment nicht erkennen, welcher Schaden durch den Sturm entstanden war.
Wir saßen noch immer an der Stelle im Schuppen, an der ich Viviane gefunden hatte. Keiner von uns sprach ein Wort, aber sie sah mich mit großen, erwartungsvollen Augen an.
Ihr Geständnis sollte die Antwort sein, welche all die mysteriösen Dinge erklärte, die sich seit meiner Ankunft zugetragen hatten. Ich fühlte weder Entsetzen noch Angst. Im Gegenteil. Ich fühlte gar nichts. Grandmas Behauptung, die Toten würden durch Bilder mit mir in Kontakt treten, hatte mich regelrecht betäubt. Ich war mir nach wie vor nicht sicher, ob dies nicht alles einfach nur ein bizarrer Traum war, aus dem ich jeden Augenblick erwachen würde.
Ich sah mir das Bild an, das mich in Elizabeths Küche zeigte. „Ich bin es nicht alleine. Dir passieren solche Dinge genauso“, schlussfolgerte ich. „Sie wollen auch dir etwas sagen.“
Grandma schien erleichtert, als ich ihr endlich etwas erwiderte. „Ja“, flüsterte sie und strich mit ihrem Daumen über meinen Handrücken.
„Ich verstehe nicht, wie das sein kann.“ Erst jetzt merkte ich, dass mein Gesicht vor lauter Aufregung regelrecht zu glühen schien.
„Woher unser…Talent stammt, Colby, kann ich dir leider nicht beantworten. Auf meinen Reisen habe ich versucht, in den verschiedenen Kulturen dieser Welt eine Antwort zu finden. Aber egal wohin es mich auch verschlagen hat, meine Bemühungen blieben vergebens.“ Ihre Stimme klang sanft und beruhigend. Meine Angst wich einer plötzlich aufkeimenden Müdigkeit. Aber ich durfte jetzt nicht einschlafen. Zu viele Fragen durchkreisten meine Gedanken.
„Wie lange kannst du es schon? Warst du so alt wie ich, als es angefangen hat?“
Viviane sah kurz zu Boden, so als müsste sie darüber nachdenken. „Ich war ein Jahr jünger als du. Dein Urgroßvater konnte mit den Toten ebenfalls Kontakt aufnehmen. Er weihte mich damals in das Geheimnis unserer Familie ein und zeigte mir, wie ich mit dieser Fähigkeit umzugehen hatte.“
Durch Grandmas Erklärung vermutete ich, dass unsere Begabung von Generation zu Generation in der Linie meiner Mutter vererbt wird. Mir brannte deshalb eine weitere Frage auf den Lippen „Was…was ist mit Mum? Kann sie es auch? Sie hat darüber nie ein Wort verloren.“
„Deine Mum…“ Viviane hielt in ihrer Antwort inne. „Nein Colby, die Toten können mit ihr nicht in Kontakt treten.“
„Mum kann es nicht“, wiederholte ich. Es spielte im Grunde keine Rolle, denn sie hatte uns verlassen. Und doch stimmte es mich traurig. Wäre sie wie ich gewesen, hätte mich zumindest mit einem Elternteil eine Gemeinsamkeit verbunden, so wie Baseball Sam und Dad. Mir fiel ein, dass ich Mum niemals zeichnen gesehen hatte und ich schalt mich für die naive Hoffnung, etwas besonderes mit ihr zu teilen.
Ich stand auf, nahm das Bild vom Boden und stellte es zurück auf die Staffelei. „Warum hast du mich gemalt? Wollte einer der Verstorbenen, dass du siehst, wie ich Elizabeths Armband gefunden habe?“
„Lass uns rüber ins Haus gehen, Colby. Wir können dort über alles reden. Einverstanden?“ Viviane richtete sich vorsichtig auf und streckte ihre Hand nach der meinen aus. Ich zögerte.
„Ich werde dir all deine Fragen beantworten.“
Ohne Grandma eine direkte Antwort zu geben, nahm ich ihre Hand. Wir verließen das Atelier und liefen durch einen dichten Vorhang aus Regen und Dunkelheit zurück zum Haus. Ich bemerkte, das Viviane hinkte.
„Hast du dich verletzt?“, fragte ich besorgt.
„Es geht schon. Mein Knie schmerzt etwas, aber das wird wieder“, zeigte sich Grandma zuversichtlich.
Mit dem Regen war die drückende Hitze, die in den letzten Tagen selbst nachts kaum abgeklungen war, verschwunden. Nach einigen Schritten begann ich durch meine nassen Kleider zu frieren.
Ich öffnete die Tür zur Küche und half Grandma über die Stufe. Die Lichtschalter im Haus reagierten immer noch nicht. Viviane deutete auf eine Schublade und ich zog eine Taschenlampe daraus hervor. Ich schaltete sie ein und der kleine Lichtkegel strahlte in den Flur.
„Komm, zieh dir etwas anderes an, sonst wirst du noch krank“, bat Grandma mich. Ich gehorchte, rannte mit der Taschenlampe in der Hand in mein Zimmer und schlüpfte eilig in eine Jogginghose und ein anderes T-Shirt. Damit wir nicht im Dunkeln warten mussten, bis der Strom wieder ansprang, verteilte Viviane im ganzen Wohnzimmer Kerzen. Die unzähligen Lichter tauchten den Raum in einen warmen Schein. Fasziniert betrachtete ich das Flackern der kleinen Flammen. Für einen Augenblick hatte ich das Gefühl, eine sichere Zuflucht vor dem Unfassbaren gefunden zu haben, das sich um mich einer hereinbrechenden Flut gleich ausbreitete.
Über Vivianes Schultern lag eine Decke, die sie eng an ihren drahtigen Körper gezogen hatte. Sie saß auf der Couch und lud mich ein, neben sich Platz zu nehmen. Ich griff ebenfalls nach einer Decke und wickelte mich darin ein.
„Es tut mir leid, dass du es auf diese Weise erfahren hast“, gestand Viviane. „Als du in meinem Skizzenblock etwas gezeichnet hast, kam mir bereits die Vermutung, du könntest die gleiche Gabe wie ich besitzen. Und nach unserem Erlebnis im Atelier war ich mir ganz sicher. Ich hätte dir damals gleich erklären müssen, was dir widerfahren ist, aber stattdessen wollte ich dich von jeder Gelegenheit fernhalten, bei der du erneut unabsichtlich in Kontakt mit einem Geist treten kannst. Deshalb waren wir nicht mehr gemeinsam in meinem Atelier. Ich hoffe, du verzeihst mir mein seltsames Verhalten; ich weiß, dass ich falsch reagiert habe. Es nützt nichts, die Dinge zu verschweigen, denn deine Fähigkeit zu verleugnen, bedeutet dich selbst zu verleugnen.“
Ich konzentrierte mich auf das Licht einer großen Bienenwachskerze, die vor uns auf einem kleinen Holztisch brannte und ließ Grandmas Worte auf mich wirken. „Woher wissen die Verstorbenen, dass wir sie verstehen können?“ Die Frage klang so unwirklich, das ich einen Moment darüber nachdenken musste, ob ich sie gerade eben tatsächlich gestellt hatte.
„Du musst wissen, dass nicht alle Verstorbenen hier sind. Nur die Seelen derjenigen Toten, die noch etwas erledigen müssen – jene, die noch keinen Frieden gefunden haben – halten sich in dieser Welt auf. Sie warten buchstäblich auf Menschen wie uns Colby und ich nehme an, dass sie uns auf irgendeine Weise erkennen. Aber eigentlich geschieht der Kontakt in einer anderen Form.“ Während Grandma sprach, sah auch sie in das Licht der Kerze auf dem Tisch.
„Die Verstorbenen brauchen uns nicht zu suchen, denn es ist umgekehrt – wir finden sie. Vielleicht hast du schon bemerkt, dass, sobald du ein Bild betrachtest, du das Gefühl verspürst, hinter der Farbe, dem Muster und den Linien könnte sich weitaus mehr verbergen, als die Zeichnung oder das Gemälde zunächst verraten lässt?“
„Ja“, sagte ich mehr zu mir selbst, als auf Grandmas Frage zu antworten. Das Gefühl, das Viviane beschrieb, wurde mir zu Teil, während ich mir die Kunstdrucke auf dem Wochenmarkt angesehen hatte.
„Bilder sind wie geheime Fenster. Kaum jemand erkennt sie, aber du, Colby, kannst durch sie hindurchblicken und die Dinge sehen, die den Toten widerfahren sind und die sie ruhelos in unserer Welt halten.“
„Aber warum wollen die Toten, dass ich erfahre, was mit ihnen passiert ist?“
„Sie bitten uns dadurch um Hilfe. Was sie auch hier festhält, gewährt ihnen keinen Frieden. Und darum brauchen sie uns.“
„Ich kann das nicht“, wehrte ich mich „Ich kann niemandem helfen.“ Wie mit eisigen Fingern erfasste die Angst mein Herz und ließ mich zittern. „Ich…ich möchte wieder zeichnen können, ohne dass ich einem Toten begegne. Ich fürchte mich vor ihnen.“ Sofort dachte ich an das Mädchen, welches mir in meiner Vision im See begegnet war. Sie hatte mich unter Wasser gezogen und beinahe wäre ich ertrunken. Der Schmerz in meiner Lunge war so real gewesen, dass ich verzweifelt nach Luft gerungen hatte.
Viviane strich mir durch mein Haar. „Deine Angst ist völlig normal. Ich empfand damals genau die gleiche Furcht und verdrängte, dass mein Vater die Wahrheit sprach. Aber diese Fähigkeit ist eine Gabe. Ich kann dir zeigen, wie du sie kontrollieren kannst und dann wirst du sehen, dass du in der Lage bist, damit den Verstorbenen und auch den Lebenden zu helfen.“
„Niemand wird mir glauben. Dad und Sam halten mich jetzt schon für verrückt, auch ohne diese Geistergeschichte. Ich will meine Fähigkeit nicht.“
„Colby, deine Gabe hat es dir ermöglicht, Elizabeths Armband wieder zu finden. Du kannst anderen helfen. Hab Vertrauen zu dir selbst.“
Als Grandma ihren Namen aussprach, sah ich Elizabeths strahlende Augen vor mir. Sie war so glücklich darüber, ihr Armband nicht für immer verloren zu haben. Ohne die Vision, so wusste ich, hätten wir es niemals gefunden.
„Ich habe ihr helfen können“, stimmte ich zu. Viviane lächelte und ich sah, dass eine kleine Träne an ihrer Wange herabsank.
„Ich bin sehr stolz auf dich, Colby. Obwohl du nicht wusstest, was mit dir passiert, hast du dennoch auf deine innere Stimme gehört. Du bist ein guter Junge und dieser Gabe würdig.“
„Ich brauche keine Angst davor zu haben?“
Für den Bruchteil einer Sekunde wich Viviane meinem fragenden Blick aus. Vermutlich hatte sie es selbst gar nicht bemerkt, aber ich sah, dass sie zögerte.
„Nein. Und ich werde dir alles beibringen, was du wissen musst.“
Die Anspannung in meinem Körper ließ für einen Augenblick nach. Doch dann wurde mir plötzlich etwas anderes bewusst. Viviane bemerkte meinem betroffenen Gesichtsausdruck sofort.
„Was quält dich, Colby? Ich werde dir jede Frage beantworten. Hab etwas Mut und stell sie.“
„Elizabeths Vater…“, begann ich vorsichtig. Ich wollte es nicht aussprechen und doch musste ich die Worte laut hören, um Gewissheit zu erlangen „…ist er tot?“
Viviane zog ihre Decke dichter an sich. Sie atmete tief durch, so als müsse sie eine schwere Last hunderte von Meilen tragen.
„Elizabeths Vater war bei der Armee. Er befand sich auf einem Einsatz in Nordafrika. Vor etwa einem Monat verschwand seine Einheit spurlos. Die Regierung und auch Elizabeths Mum Veronica glauben nach wie vor, dass die Männer am Leben sind. Das weiß ich aus der Presse und von Veronica selbst.“
„Aber die Wahrheit hat dir Elizabeths Vater gezeigt. Und darum hast du das Bild von Elizabeths Mum gemalt“, führte ich Vivianes Schilderung selbst zu Ende.
„Ja, er bat mich darum, ihr zu erklären, dass er nicht wiederkommen kann und sie ihr Leben ohne ihn weiterführen muss. Er liebt seine Familie sehr und möchte, dass sie trotz seines Todes wieder glücklich wird.“
„Hast du versucht, mit Veronica zu sprechen?“, wollte ich wissen, obwohl ich die Antwort bereits kannte.
Grandmas Gesicht war auf einmal von unzähligen Sorgenfalten gezeichnet, die sie im Schein der Kerzen wie eine dem Tod geweihte Greisin aussehen ließen.
„So lange die Regierung Veronica nicht bestätigt, dass ihr Mann tot ist, wird sie ihn nicht aufgeben. Den Erzählungen einer alten Frau wie ich es bin, kann sie unmöglich Glauben schenken. Ich habe probiert, mich ihr auf behutsame Weise zu nähern und den Wunsch von Ron, Elizabeths Vater, zu erfüllen. Im Moment kann ich nichts tun. Jedes weitere Wort würde alles noch schlimmer machen.“
Auf einmal ergab Veronicas merkwürdiges Verhalten für mich einen Sinn, besonders ihre Reaktion, als sie erfuhr, dass ich bei Grandma lebte.
„Behandeln dich die Menschen immer so, wenn du ihnen im Auftrag eines Verstorbenen etwas mitteilen musst?“, fragte ich betroffen.
„Für die Angehörigen ist der Tod stets eine schmerzliche Sache. Ablehnung ist daher leider eine häufige Resonanz, aber sie ist verständlich. Du musst es dir so vorstellen: Eine Fremde taucht auf und erklärt, der Geist eines geliebten Menschen habe eine Botschaft hinterlassen. Sei ehrlich, würdest du mir gleich ohne weiteres dein Vertrauen schenken?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Zudem gibt es genügend Scharlatane, die behaupten, sie stünden in Kontakt zu den Toten. Dabei sind sie nur auf das Geld der Hinterbliebenen aus.“
„Warum…warum versucht du ihnen trotzdem zu helfen?“ Die Vorstellung, den Hass und die Ablehnung anderer auf mich zu ziehen, ließ jene Stimme in meinem Unterbewusstsein, die sagte Ich will diese Fähigkeit nicht, lauter als zuvor erklingen.
Grandma schien meine Gedanken zu erahnen und bemühte sich um ein sanftes Lächeln. „Jeder Einzelne, dem ich helfen konnte, war all die Mühe wert. Zu erleben, wie viel Freude du erschaffen kannst und wie die Ruhelosen endlich ihren Frieden finden, ist das größte Glück, das dir selbst widerfahren kann.“ Vivianes Augen begannen regelrecht zu schimmern. Das Bild der sorgenvollen Greisin wich dem Ausdruck einer tiefen Entschlossenheit. Plötzlich strahlte Grandma eine unglaubliche Stärke aus, bereit sich allen Herausforderungen und Ängsten zu stellen, denen sie sich durch unserer Gabe anzunehmen verpflichtet fühlte.
„Wenn ich lerne meine Fähigkeit zu kontrollieren, kann ich dann selbst entscheiden, was ich von den Dingen sehen möchte, die mir die Toten zu zeigen versuchen?“
„Wir können nicht ahnen, was wir sehen werden, Colby, aber du wirst in der Lage sein, die Anwesenheit eines Verstorbenen zu spüren, bevor du ein Bild betrachtest oder etwas zeichnest. Es liegt dann bei dir, ob du durch das Fenster schauen möchtest.“
Ich hatte noch so viele Fragen an Viviane, aber die Müdigkeit, gegen welche ich mich die ganze Zeit behauptet hatte, kam nun mit einem Schlag zurück. Ich gähnte und rieb mir mit den Daumen die Augenlider.
Grandma sah, wie sehr ich dagegen ankämpfte, einzuschlafen. „Du solltest versuchen etwas zu schlafen. Wenn der Morgen anbricht, haben wir noch genügend Zeit, um all die Dinge zu besprechen, die dich im Moment verwirren, beunruhigen oder interessieren.“
Zuerst wollte ich behaupten, dass ich sowieso nicht einschlafen könne, aber die Erschöpfung wog so schwer wie Blei und die Vorstellung in mein weiches Bett zu sinken, war viel zu verführerisch, um sich ihr länger zu widersetzen. Gemeinsam gingen Viviane und ich die Treppe zu meinem Zimmer hinauf. Ich schlüpfte in mein Bett und Grandma setzte sich an den Rand.
„Kannst du noch eine Weile hier bei mir bleiben?“, fragte ich vorsichtig. Sanft strich mir Grandma über den Kopf. „Natürlich, mein Schatz.“
Beruhigt schloss ich die Augen. Nur einen Moment später war ich bereits eingeschlafen.
Ich erwachte in meinem Zimmer zuhause und war mir sofort sicher, dass ich träumte. Pubuh lag neben mir und auf dem Nachttisch stand das Familienphoto, mit dem ich mich die letzten Monate an eine glücklichere Zeit erinnert hatte.
Ich stand auf, schlüpfte in meine Hausschuhe und lief die Treppe hinab ins Wohnzimmer. Mum, Dad und Sam saßen an dem großen Esstisch und sahen mich erwartungsvoll an.
„Setz dich, Colby, wir müssen mit dir reden“, sagte Dad mit strenger Stimme.
Ich nickte und nahm auf dem freien Stuhl Platz. Das Gefühl, ich stünde vor einem Tribunal, beschlich mich. Mein Mund fühlte sich trocken an und unter meiner Haut kribbelte es, so als befänden sich tausende von Ameisen darunter.
„Was…was habe ich gemacht?“, fragte ich nervös.
Sam verdrehte die Augen. „Gib es doch einfach zu“, keifte er.
„Ich weiß nicht, was Ihr meint. Ich habe nichts getan“, beteuerte ich.
„Deine Bilder sind verflucht“, erklärte Mum. Immer wieder schaute sie abwechselnd zur Haustür und zu mir. Ihr Blick war kühl und vorwurfsvoll.
„Verflucht?“ Ich wollte nicht glauben, dass sie dies tatsächlich gerade eben zu mir gesagt hatte.
„Ja, du Dummkopf. V E R F L U C H T“, betonte Sam jeden einzelnen Buchstaben.
„Du ziehst damit die Toten an und bringst uns nichts als Unglück“, brüllte mich Dad an. Mit seiner Faust schlug er laut auf die Tischplatte.
„Grandma sagt, ich kann damit anderen helfen. Außerdem geschieht es einfach, ich kann nichts dagegen tun“, widersprach ich.
Mum stand auf. „Es wird Zeit, dass ich gehe. Ich will damit nichts zu tun haben. Niemals.“ Ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, rannte sie aus dem Haus.
„Mum, bitte bleib hier!“, schrie ich ihr verzweifelt hinterher, aber sie ignorierte mein Flehen.
„V E R F L U C H T“, wiederholte Sam und konnte sich dabei ein hämisches Grinsen nicht verkneifen.
„Sam und ich brauchen jemanden wie dich nicht, Colby.“ Dad klopfte Sam stolz auf den Rücken. „Du kannst froh sein, einen Bruder wie Sam zu haben. Er rettet die Ehre unserer Familie.“
„Vielleicht wäre es für alle das Beste, wenn du für immer bei Grandma bleiben würdest“, schlug Sam vor. Er und Dad verließen den Tisch, ich blieb alleine zurück.
„Meine Bilder sind verflucht“, flüsterte ich. Erstarrt saß ich an dem Tisch, unfähig auch nur einen Finger zu rühren. In der glatten Tischplatte spiegelte sich mein Gesicht wieder, das ich stumm betrachtete. „Meine Bilder sind es und ich bin es auch“, fügte ich nach einer Weile mit zitternder Stimme hinzu. Die Selbsterkenntnis schmerzte.
Plötzlich stand Viviane hinter mir. Sanft berührte sie meine Schultern.
„Hör nicht auf sie“, beruhigte sie mich mit ihrer gütigen Stimme. Sie griff nach meiner Hand.
„Grandma, ich bringe nichts als Unglück“, warnte ich sie. „Du kannst mich nicht in deiner Nähe wollen.“
„Du hast eine besondere, wundervolle Gabe. Hab Vertrauen in dich, so wie ich mein Vertrauen in dich setze.“
Endlich gelang es mir, mich wieder zu bewegen. Vivianes Augen strahlten wie die Sonne. Bei ihr fühlte ich mich geborgen und sicher. „Komm, lass uns nach Hause gehen“, schlug sie vor.
„Ja, gehen wir nach Hause“, stimmte ich zu und gemeinsam traten wir durch die Haustür in ein gleißend helles Licht.
Ich erinnerte mich an Grandmas Worte, als wir am ersten Abend nach meiner Ankunft in den Korbstühlen im Garten saßen.
Manchmal ist es kein bestimmter Ort, den wir unser zuhause nennen. Manchmal ist es ein Mensch, bei dem wir uns zuhause fühlen. Dieser Mensch war Viviane nun für mich. Umso schmerzlicher war die Gewissheit, dass ich sie bald wieder verlassen musste.