Читать книгу Das Echo der Verstorbenen - Patrick Kruß - Страница 13

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Die Hitzewelle war an ihrem Zenit angelangt und trieb das Thermometer auf über 45 Grad Celsius. Vivianes Kreislauf machten die Temperaturen zu schaffen und so zog sie es vor, im Haus zu bleiben. Seit der Begegnung mit Gwen und ihren Freundinnen waren einige Tage verstrichen, aber trotzdem glaubte ich zu spüren, wie sehr sie das unvorhergesehene Treffen beschäftigt. Ich wollte sie auf andere Gedanken bringen und entschied deshalb, den Großteil der Zeit an ihrer Seite zu bleiben.

Da Viviane noch immer seltsam reagierte, sobald sich unser Gespräch zufällig mit der Malerei zu befassen begann, hielt ich es für klüger, mich auf eine andere Leidenschaft, die wir teilten, zu besinnen. Dem Lesen.

Grandma besaß eine große Sammlung an Büchern, die sie in mehreren hohen Schränken aus Nussbaumholz im Wohnzimmer aufbewahrte. Die genaue Anzahl kannte sie nicht, doch nach ihrem eigenen Schätzen fanden weit über tausend Bücher in den Regalen Platz.

Grandma las mir Geschichten vor, die sie während ihren Reisen durch Europa kennen gelernt und später in englischer Übersetzung erworben hatte. Die meisten Bücher befassten sich mit historischen Erzählungen aus der Sicht einer Person, deren eigenes Schicksal mit großen Ereignissen wie Kriegen oder Hungersnöten auf tragische Weise verflochten war.

In jenen Tagen hörte ich zum ersten Mal eine Geschichte, die mich für viele Jahre nicht mehr los lassen sollte und über deren traurigen Botschaft ich noch unzählige Nächte grübeln würde. Sie erzählt von dem Schicksal der jungen Sophie Gispert, die zur Zeit des dreißigjährigen Krieges mit ihrer Familie in einem kleinen Dorf in Frankreich lebte. Das Land war in Aufruhr geraten und immer neue Schreckensmeldungen über die Folgen des tobenden Krieges hielten die Menschen in Angst und Schrecken. In dieser unheilvollen Zeit suchte Sophie immer wieder der gleiche Furcht einflößende Traum heim. Sie sah, wie die Ortschaft, in der sie seit ihrer Geburt lebte, den Flammen zum Opfer fiel und wie in dem Feuer unzählige Dorfbewohner ihr Leben verloren. Mit jeder Nacht nahm der Albtraum unheimlichere Formen an und Sophie glaubte, dass es sich nicht einfach nur um einen Streich ihres Geistes handeln konnte, sondern dass eine höhere Macht sie dazu auserwählt hatte, die Menschen vor dem Brand zu retten. Niemand, nicht einmal ihre eigene Familie, wollte ihr jedoch Glauben schenken. Immer wieder appellierte sie an ihre Angehörigen und die anderen Bewohner des Dorfes, doch ihre Worte fanden keinerlei Beachtung.

Sophie war der Verzweiflung nahe und erhob bei einer Bürgerversammlung ein letztes Mal ihre Stimme. Sie schilderte die Bilder ihres Albtraums: ein Schlot aus Feuer, Rauch und Asche, der unaufhaltsam alles verschlang und nichts als Leid und Verwüstung zurückließ, würde das Schicksal des Dorfs besiegeln. Wieder taten die Dorfbewohner Sophies Warnungen als Hirngespinste ab. Einige forderten sie sogar dazu auf, endlich ihr schäbiges Mundwerk zu halten, immerhin hätten die Menschen durch die Schatten des Krieges genug zu erleiden. Ihre Eltern begannen zu glauben, dass Sophie dem Wahnsinn verfallen sei und sperrten sie auf Rat eines Priesters in ihrem Zimmer ein. Der Geistliche glaubte, der Teufel versuche von Sophies Seele Besitz zu ergreifen und sie deshalb nur durch einen Exorzismus gerettet werden kann. Sophie wurde an ihr Bett gefesselt und der Pfarrer forderte mit Weihwasser und Lesungen aus der Bibel den Teufel dazu auf, vom Körper des Mädchens abzulassen. Sophies ewige Bitte, ihrer Warnung zu vertrauen, war inzwischen verstummt. Mehr tot als lebendig und nur noch ein Schatten ihrer selbst ließ sie die Mühen des Priesters, ihre Seele aus den Fängen Luzifers zu befreien, über sich ergehen.

Eines Nachts zog ein Gewitter über das Land und Sophie erkannte, dass jener Moment aus ihren Träumen gekommen war. Da sie längst jeden Lebenswillen verloren hatte, sah sie das Feuer, welches bald ausbrechen würde, als eine Rettung an. Denn endlich würde sie von ihrer Qual erlöst werden.

Kurz vor der Morgendämmerung schlug ein Blitz in einen Stall ein und ließ meterhohe Feuersäulen entbrennen. Die Flammen nahmen ihren Weg von einem Haus zum anderen und überraschten die schlafenden Dorfbewohner. In wenigen Stunden war nahezu jedes Mauerwerk und jeder Holzbalken niedergebrannt. Sophie fand letztlich, wie auch ihre Eltern, in dem Feuer den Tod. Die wenigen Überlebenden, die sich aus den Flammen retten konnten, mussten erkennen, dass Sophie Gisperts Warnung niemals ein Hirngespinst gewesen war und sie es nun selbst zu verantworten hatten, Obdach und Freunde verloren zu haben.

Viviane gestand, dass, obwohl sie das Buch schon mehrere Male gelesen habe, sie durch Sophies Geschichte immer wieder von neuem tief im Herzen berührt werde.

„Sophie wollte das Dorf doch nur beschützen. Warum glaubte ihr niemand?“, fragte ich Grandma. In meiner Stimme schwang Zorn über das an Sophie verübte Unrecht mit. Viviane strich mir durch das Haar und küsste mich auf den Hinterkopf. Sie schien meine Gedanken besser als jeder andere zu verstehen, so als seien es einmal auch die ihren gewesen.

„Die Menschen fürchten sich vor Dingen, die sie nicht verstehen können, denn sie bringen die bestehende Ordnung ins Wanken und stellen den eigenen Glauben oder die Vernunft in Frage. Sophie hatte eine Gabe, die sonst niemandem zu Teil war. In ihren Träumen sah sie die Zukunft. Statt ihr zu vertrauen, wurde sie als Werkzeug des Teufels beschuldigt und weggesperrt. Es ist leichter, sich dem Unbegreiflichen zu entledigen, als ihm einen Platz in unserer Welt zu geben.“

„Ich würde ihr vertrauen“, sagte ich.

„Ich weiß Colby, ich weiß.“

Wir saßen einen Moment lang schweigend nebeneinander, aber in mir drängte die Neugier danach zu erfahren, welche eigene Geschichte Grandma mit diesem Buch verband.

Inzwischen hatte ich mich an die rätselhaften Dinge gewöhnt, die sie mir immer wieder erzählte und ich war davon überzeugt, dass sie mir damit jedes Mal eine der kleinen Narben, die ihr Herz in den vielen Jahren ihres Lebens gezeichnet hatten, Preis gab.

Ich fasste den Entschluss, sie auf das Treffen mit Gwen anzusprechen. Der Moment schien günstig, aber dann kam sie mir zuvor.

„Lass mich geschwind ein Krug Eistee holen, ja? Danach können wir uns einer anderen Geschichte widmen.“ Viviane stand auf und verschwand in der Küche.

Während ich mich über die verpatzte Gelegenheit ärgerte, räumte ich das Buch zurück an seinen Platz im Regal und spähte durch die heruntergelassenen Jalousien. Am Himmel begann sich ein dünner Schleier aus Dunstwolken über das Blau der letzten Wochen zu legen.

Es waren die ersten Vorboten eines mächtigen Sommergewitters. Schon bald würde der Sturm losbrechen. Ein Sturm, der alles verändern sollte.

Das Echo der Verstorbenen

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