Читать книгу Das Echo der Verstorbenen - Patrick Kruß - Страница 17

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Viviane sah mich mit neugierigen Augen an, als ich ihr von Elizabeth und unserer Suche nach dem Armband erzählte. Wie wir es letztlich gefunden hatten, behielt ich jedoch für mich, auch wenn ich Grandmas Reaktion darauf gerne erlebt hätte. Ich war mir sicher, dass sie mehr wusste, als sie Preis gab. Zwischen den rätselhaften Dingen, die mir widerfuhren, schien sie – so war ich überzeugt – eine Verbindung schaffen zu können.

Meine Theorie, Grandmas Haus war auf einem verfluchten Grundstück errichtet worden, konnte ich jedenfalls wieder vergessen. Elizabeth wohnte einige Meilen entfernt und dort war ich in den gleichen, tranceartigen Zustand verfallen, wie in Vivianes Atelier. Ein anderes Geheimnis musste hinter allem stecken und ich war fest entschlossen, es zu lüften.

Als ich zuhause ankam, stand Grandma am Fenster im Wohnzimmer. Sie versuchte es sich nicht anmerken zu lassen, doch war sie spürbar erleichtert darüber, mich wieder zusehen. Offensichtlich hatte sie sich bereits Sorgen gemacht, wo ich so lange bleibe.

„Es freut mich, dass du jemanden kennen gelernt hast“, versicherte sie mir, als wir beim Abendessen auf der Veranda saßen. Ein überraschend kühler Wind wehte, während die Sonne die dichter werdenden Wolken am Abendhimmel glutrot färbte.

„Elizabeth wohnt im Nachbarort. Vielleicht kennst du sie, ihr Vater ist bei der Armee.“

Viviane legte ihre Stirn kurz in Falten und tupfte sich den Mund mit einer Serviette ab.

„Nein, tut mir leid, die Namen der Kinder sagen mir meistens nichts.“

Ich wusste, dass sie mich anlog. „Aber zumindest ihre Mutter kennst du. In deinem Skizzenblock habe ich ein Bild von ihr ent…“

„Colby, genug jetzt. Iss dein Abendbrot.“ Vivianes Stimme bebte vor Zorn. Ich war völlig perplex und starrte sie an.

„Habe ich etwas falsches gesagt?“, fragte ich, als ich den Schock verdaut hatte.

Grandma antwortete mir nichts. Sie konzentrierte sich auf ihren Teller und sah mich nicht einmal an.

Ich merkte, wie mir die Tränen in die Augen schossen. Nach zwei weiteren Bissen legte ich die Scheibe Brot beiseite, stand auf und ging ins Haus. Viviane hielt mich nicht zurück.

Ich rannte die Treppe hinauf in mein Zimmer, öffnete die Schranktür des großen Kleiderschranks und schlüpfte hinein. Nachdem ich die Tür von innen wieder geschlossen hatte, fing ich bitterlich zu weinen an. Ich musste mir den Bauch halten, so sehr verkrampfte sich mein Magen. Die Tränen flossen in zwei großen Strömen über mein Gesicht und nichts schien ihre Quelle versiegen zu können.

Ich lehnte den Kopf an der hinteren Schrankwand an und schloss die Augen, in der Hoffnung dadurch selbst wieder etwas zur Ruhe zu finden.

Stattdessen stellte ich mir vor, wie viel Spaß Dad und Sam zusammen im Trainingscamp hatten. Die gemeinsamen Ferien würden sie zu einer untrennbaren Einheit zusammenschweißen. Ich dagegen würde endgültig das fünfte Rad unserer Familie sein. Das Kind, das niemand wollte, nicht einmal seine Großmutter. Ich war völlig alleine.

Grandmas wütende Stimme hallte in meinen Ohren. Ich hätte niemals gedacht, dass Viviane solchen Zorn in sich tragen konnte. Doch was mich am meisten verletzte, war ihre Unehrlichkeit. Wie viele Geheimnisse verbarg sie vor mir? Als ich hier ankam, hatte sie behauptet, wir fänden nun endlich Gelegenheit, uns besser kennen zu lernen. In den vergangenen Wochen hatte ich tatsächlich geglaubt, dass wir uns näher gekommen waren, nur um jetzt feststellen zu müssen, dass Viviane nach wie vor eine Fremde für mich war. Ich wusste kaum etwas über sie oder ihre Vergangenheit.

Ich hörte auf zu weinen und spürte im selben Moment, wie müde ich inzwischen war. Mein Körper fühlte sich schwer und träge an. Ich wollte aus dem Schrank und in mein Bett klettern, aber ich fand keine Kraft, um mich zu bewegen.

Und so verharrte ich – wie ich dachte – nur einen Moment in der tröstlichen Stille. Grandma sah nicht nach mir. Sicherlich ahnte sie, wohin ich mich zurückgezogen hatte und doch schien ihr unser Streit gleichgültig zu sein. Ich wünschte mir, dass sie den Schrank öffnet, mich in ihre Arme schließt und mir versichert, dass es ihr Leid tut.

Plötzlich durchfuhr ein lauter Knall das Zimmer und ich schreckte auf. Verwirrt sah ich mich um. Was war nur passiert? Ich öffnete den Schrank und blickte in einen dunklen Raum. Ich musste nicht nur für einen Augenblick, sondern für ein paar Stunden eingeschlafen sein.

Ein zweiter Schlag zerriss die Stille und ließ mich erneut zusammenzucken. Der Knall kam von draußen. Nur einige Sekunden später tauchte ein Netz aus unzähligen Blitzen den Himmel in blendend weißes Licht. Erst jetzt bemerkte ich das Heulen des Windes und sah, mit welch enormem Tempo die Wolken über das Firmament jagten.

Ein dritter Donner ließ die Luft erzittern, dann setzte der Regen ein. Überall am Himmel glühten neue Blitze auf und breiteten sich, den Wurzeln eines Baumes gleich, aus. Ich bekam es mit der Angst zu tun und rief nach Grandma. Sie gab mir keine Antwort.

Im Haus brannte nirgendwo Licht. Ich probierte vergebens einige Schalter aus, aber offensichtlich hatte das Unwetter die Stromleitungen beschädigt.

Ich lief durch das Haus und versuchte Grandma zu finden. Sie schien wie vom Erdboden verschluckt. Als ich sie auch in der Küche und im Wohnzimmer nicht fand, begann ich am ganzen Körper zu zittern. Mein Herz hämmerte gegen meine Brust und kalter Schweiß stand mir auf der Stirn.

Wo konnte sie nur sein? Ich machte mir schreckliche Vorwürfe, im Streit mit ihr auseinander gegangen zu sein. Was, wenn ihr etwas zugestoßen war?

Ich schaute in den Garten und sah durch das grelle Licht eines Blitzes, dass der Wind die Tür zum Atelier aufgeschlagen hatte. Einen Augenblick stand ich reglos da und betrachtete, wie die Tür immer wieder gegen das Holz des Schuppens krachte. Ein unheimliches, brutales Schauspiel. War Viviane etwa dort? Ich überlegte nur kurz, dann rannte ich hinaus in eine Welt aus Regen, Wind und Dunkelheit.

Die Tropfen fühlten sich wie Messerstiche an, so schnell und scharf prallten sie gegen meine Haut. Undeutlich sah ich das Atelier vor mir. Ich streckte die Hand nach dem Schuppen aus und atmete erleichtert auf, als ich das nasse Holz unter meinen Fingern zu spüren bekam.

Schnell schob ich mich in das Innere des Ateliers.

Ich hatte das Gefühl, als wolle der Gewittersturm den Schuppen in Stücke reißen. Die Balken schienen im Wind regelrecht zu tanzen. Der Boden war nass und aus verschiedenen Stellen drang der Regen ins Innere ein.

Ein Donner – noch lauter als die Schläge zuvor – durchfuhr die Luft. Der Wind legte an Geschwindigkeit zu. Mein Herz, so glaubte ich, würde jeden Moment vor Angst aufhören zu schlagen. Verzweifelt betete ich dafür, dass der Sturm sich legen und ich Grandma wieder finden würde.

Der Schein unzähliger Blitze aus nahezu allen Himmelsrichtungen drang zeitgleich durch die Fenster des Schuppens. Das gleißende Licht wurde in schneeweißem Haar reflektiert. Ich schrie auf.

Viviane lag, nur in ein Nachthemd gehüllt, auf dem Boden. Ihr Körper sah merkwürdig verkrampft aus.

„Grandma!“ Ich eilte zu ihr und kniete mich neben sie.

Ihre Augen blinzelten ununterbrochen und ihr Mund formte lautlose Worte. Was sollte ich nur tun? Ohne Strom konnte ich keinen Notruf alarmieren.

„Hörst du mich? Du darfst nicht sterben, tu mir das nicht an!“, winselte ich voller Verzweiflung und berührte Grandma an beiden Armen.

Erst jetzt fiel mir auf, dass sie einen Kohlestift mit den Fingern umklammerte und damit, ähnlich einem Morseapparat, auf dem Boden Punkte auftrug. Eine Leinwand lag neben ihrem rechten Arm. Sie war von der Staffelei gestürzt. Ich betrachtete das begonnene Bild und hielt den Atem an. Grandma hatte mich gezeichnet, wie ich am Küchentisch in Elizabeths Zuhause saß und eine Skizze auf einem Notizblock fertigte. Es war eine Szene meines Nachmittages.

„Wie kann das sein…“

Für den Bruchteil einer Sekunde nahm ich den Sturm um mich nicht mehr wahr. Was ich soeben herausgefunden hatte, brachte mich an den Rand des Fassbaren.

„Colby!“, schrie eine Stimme hinter mir auf.

Grandma umklammerte meinen Arm. Sie sah mich entsetzt an, so als wäre sie gerade aus einem Albtraum erwacht.

„Was…was passiert hier?“ Meine Stimme zitterte, als ich die Frage stellte.

Viviane war plötzlich die Ruhe selbst. Ihr schien der Sturm nichts ausmachen zu können. Sanft strich sie mir über mein Gesicht.

„Oh Colby, es tut mir so unendlich Leid. Ich habe einen großen Fehler begangen. Ich wollte dich vor dir selbst beschützen.“

„Ich verstehe dich nicht. Grandma, bitte sag mir, was es mit diesem Bild auf sich hat. Und warum sehe ich unheimliche Dinge, wenn ich male?“

„Weil es deine Bestimmung ist.“

„Meine Bestimmung?“

„Durch dein Talent zu malen, können sie mit dir Kontakt aufnehmen. Sie zeigen dir, was sie sonst niemandem mehr mitteilen können. Du bist ihre letzte Möglichkeit, auf dieser Welt noch etwas zu bewegen.“

„Wer sind sie?“

Viviane drückt meine Hand. Ein Blitz durchbrach die Dunkelheit und ich blicke in Grandmas gütige, unergründliche Augen. Der Zorn, der während des Abendessens plötzlich in ihr entflammt war, schien keine Bedeutung mehr zu haben.

„Die Verstorbenen.“

Das Echo der Verstorbenen

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