Читать книгу Das Echo der Verstorbenen - Patrick Kruß - Страница 16

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Von der Titelseite der regionalen Tageszeitung strahlt einen das hoffnungsvolle Lachen eines Teenagers an. Es ist eine Momentaufnahme irgendwo im Freien, wie sie vermutlich in Photoalben vieler Familien zu finden ist. Das Mädchen hat kinnlange, blonde Haare und trägt ein schlichtes, rotes T-Shirt. Sie könnte in jeder Nachbarschaft zu Hause sein, in jede Highschool des Landes gehen und vermutlich Mitglied bei den Cheerleadern irgendeines Footballteams sein.

Die Augen des Mädchens verraten, welche Erwartungen sie noch an ihr eigenes Leben stellt. Sie hat Träume, nach deren Erfüllung sie sich sehnt: Den Besuch eines Colleges. Reisen in ferne Länder. Einen Menschen zu finden, der sie von ganzem Herzen liebt.

Sie freut sich auf die Zukunft, auf die Tage, die noch kommen werden.

Unterhalb des Bildes formen dicke schwarze Buchstaben den Grund, weshalb das Mädchen auf der ersten Seite der Zeitungen zu sehen ist.

Alice Amstritch wird noch immer vermisst. Seit über achtzehn Tagen fehlt von ihr jede Spur. Wie jeden Morgen hatte sie sich auf ihren Weg – eine Strecke von knapp eineinhalb Kilometern – zur Schule gemacht. Doch sie kam dort nie an.

Was ihr auch immer zugestoßen sein musste, hatte sich in den frühen Morgenstunden ereignet. Wenn ein Verbrechen geschehen wäre – so sagen Alices Eltern in dem Artikel – hätte es doch jemandem auffallen müssen. Jemand hätte es verhindern können. Aber niemand hatte etwas bemerkt oder unternommen.

Was also ist der Grund für Alices Verschwinden?

Ich erinnere mich an die Reportage, in der Alices Vater Jake Amstritch entschlossen in die Kamera des Fernsehteams versicherte, dass er seine Tochter niemals aufgeben werde. Der Artikel ist der Beweis dafür, dass Alices Familie die Hoffnung tatsächlich nicht aufgibt. Eine Hoffnung darauf, dass Alice lebt und zu ihnen zurückkehrt.

Ich wünsche es mir von Herzen, auch wenn ich weiß, dass die Verschwundenen nicht ohne weiteres heimkehren. Sei es, weil sie nicht können oder es nicht wollen.

Ich lege die Zeitung in meinen Spind, setze mir die Mütze mit dem Fresh Food Daily - Logo auf und binde meine Arbeitsschürze am Rücken zusammen. Als ich aus dem Personalraum des Supermarkts hinaus in den Verkaufsraum trete, begegnet mir Aaron. Er hebt seine Hand kurz als Zeichen des Grußes und verschwindet in Richtung der Haushaltswaren. Seit einigen Tagen verhält er sich seltsam und ich bin mir sicher, dass es mit meiner ständigen Absage auf die Einladung, nach Feierabend mit den Kollegen ein Bier trinken zu gehen, zusammenhängt. Ich überlege einen Moment, ob ich ihm nicht einfach erzählen soll, dass ich mich um Dad und Sam kümmern muss, verwerfe aber den Gedanken so schnell, wie er gekommen ist.

Ich laufe hinüber ins Lager, greife mir einen Hubwagen und ziehe damit zwei Paletten mit Gemüsekonserven hinter mir her. Da es recht früh am Morgen ist, sind nur vereinzelte Kunden in der Filiale und ich kann mich ohne Rücksicht zu nehmen zwischen den Regalen ausbreiten. Schnell, beinahe schon wie ein Roboter, verstaue ich die Büchsen in den einzelnen Reihen. Danach fülle ich die Regale auf der gegenüberliegenden Seite mit Obstkonserven auf.

„Sind diese Pfirsiche zu empfehlen?“, fragt mich jemand plötzlich, während ich mich um die letzten Dosen der Palette kümmere.

Ich drehe mich um und beinahe fallen mir sämtliche Konserven aus den Händen. Es ist Peyton. Sie grinst mich bis über beide Ohren an und streckt mir demonstrativ eine Dose mit Pfirsichen entgegen.

„Die Happy Mouth - Pfirsiche werden gerne gekauft. Ich denke, du solltest sie nehmen“, antworte ich ihr. Mir gelingt es tatsächlich, mein Gesicht völlig starr zu halten und keinerlei Regung zu zeigen. Dies liegt jedoch nicht etwa daran, dass ich in den letzten Jahren gelernt habe, meine Emotionen zu verstecken, sondern weil mich Peytons Erscheinen einfach überrascht.

„Dann werde ich deinen Rat befolgen“, sagt sie und greift nach einer Dose der Marke Happy Mouth.

Da ich nicht weiß, wie ich die Unterhaltung mit Peyton fortführen soll, mache ich mich daran, die restlichen Obstkonserven in den Regalen zu verteilen.

„Darf ich ehrlich sein?“, fragt sie mich und ich schaue erneut irritiert zu ihr hinüber.

„Normalerweise gehe ich hier nicht einkaufen und eigentlich bin ich nur hergekommen, weil ich gehofft habe, dich wieder zu sehen.“

„Woher hast du…“

„Du hattest die Mütze mit dem Firmenlogo im Nomansland auf, daher bin ich davon ausgegangen, dass du bei Fresh Food Daily arbeitest“, unterbricht sie mich.

„Verstehe.“

Peyton lächelt. „Okay, dieses Mal kannst du über mich denken, dass ich ein Stalker bin.“

„Um ehrlich zu sein, frage ich mich, weshalb du dir überhaupt die Mühe gemacht hast, zu sehen, ob du mich hier findest. Immerhin habe ich dich… na ja… ich bin ziemlich plötzlich gegangen.“

Peyton verstaut die Pfirsiche in ihrer Umhängetasche und streicht sich eine Strähne ihres braunen Haares aus dem Gesicht. Ihre Haut wirkt nicht ganz so bleich wie in der Nacht im Nomansland.

„Die Frage ist gut, aber ich weiß es selbst nicht so genau. Ein Gefühl sagt mir, es könnte sich lohnen. Wie du treffend festgestellt hast, ist das Nomansland eine Zuflucht für einsame Seelen. Wäre doch eine schöne Vorstellung, wenn zwei davon künftig etwas weniger einsam sein müssten?“

„Peyton, du kennst mich doch gar nicht. Und wenn du mich kennen würdest, hättest du schnell die Nase voll von mir.“

Völlig unberührt von meiner Aussage kommt sie einen Schritt näher. Ich frage mich, ob sie glaubt, dadurch die unsichtbare Distanz, an der ich mich gerade verbissen festklammere, überwinden zu können.

„Überlass die Entscheidung doch einfach mir, Colby.“

Ich muss über Peytons Entschlossenheit grinsen, denn ich kann sie nicht nachvollziehen. Ich überlege, von welchem Teil aus meinem Leben ich ihr als erstes erzählen soll, damit sie schleunigst Reißaus nimmt.

„Morgen Abend bin ich im Nomansland, vielleicht sehen wir uns?“

Bevor ich ihr etwas erwidern kann, ist sie auch schon fort.

Etwas ist anders an Dad, als ich ihn am Abend besuche. Es fällt mir bereits auf, während ich das Haus betrete und er sich wieder eine Videoaufnahme von Sam ansieht.

„Colby, bist du es?“, fragt er mich, als er hört, wie ich die Haustür hinter mir schließe.

„Ja Dad, ich bin’s“, bestätige ich kurz. Er antwortet nicht weiter, sondern schaut lächelnd zu, wie Sam auf dem Spielfeld gefeiert wird.

Ich finde nicht die richtigen Worte, um zu beschreiben, was mich an Dads Verhalten überrascht und doch bin ich mir sicher, es nicht mit einer bloßen Wunschvorstellung meiner selbst zu tun zu haben.

Später sitzen wir gemeinsam am Küchentisch und Dad macht sich hungrig über die Makkaroni her, die ich für ihn gekocht habe. Im Hintergrund dröhnen Jubelschreie aus dem Fernseher im Wohnzimmer hinaus in den Flur.

Dad legt seine Gabel beiseite und sieht mich zufrieden an.

„Ich habs’ gewusst. Sam war das Zünglein an der Waage. Wurde auch höchste Zeit, dass die Talentscouts auf ihn aufmerksam werden.“

„Ja, Sam ist der Beste“, stimme ich wie gewohnt zu.

„Ich frage mich wirklich, weshalb dieser Justin Bates Mannschaftskapitän ist. Der trifft ja nicht einmal den Ball, wenn er in Zeitlupe auf ihn zufliegen würde.“

„Ärger dich nicht darüber. Sam wird es in die Landesliga schaffen, ob er nun Kapitän des Teams ist oder nicht.“ Meine Antworten erfolgen, ohne dass ich wirklich über sie nachdenken müsste. Je nachdem, was für ein Spiel sich Dad anschaut, reden wir über ein anderes Ereignis aus dem Leben meines Bruders.

„Sei so gut und mach mir noch eine Portion Makkaroni auf den Teller.“

Während Dad sich über den Nachschlag hermacht, fällt mir auf, dass das Videoband am Ende angelangt ist. Sicherlich möchte er, dass ich gleich eine andere Aufnahme einlege und ich stehe auf, um ihm den Gefallen unaufgefordert zu leisten.

„Wie läuft es eigentlich bei dir, Colby? Ich meine, bei deiner Arbeit im Supermarkt?“

Wie erstarrt verharre ich am Eingang zur Küche. Es dauert einen Moment, bis ich Dads Frage – das heißt, die Tatsache, dass er über mich etwas wissen möchte – begreife. Interessiert er sich tatsächlich für seinen anderen Sohn?

Ich drehe mich um und setze mich wieder zu ihm. „Es läuft ganz gut. Ich hatte letzten Monat ein Mitarbeitergespräch. Insgesamt ist mein Chef mit mir zufrieden.“

„Das klingt gut“, antwortet er mir, während er genüsslich die restlichen Makkaroni verzehrt. „Und wie steht es mit den Frauen?“

Ich lächle. Als Teenager hat mich Dads direkte Art manchmal ziemlich geärgert. Er kannte den Sinn des Wortes Privatsphäre nicht und hatte, wenn er etwas wissen wollte, keinerlei Taktgefühl an den Tag gelegt. Nun ist sein plötzliches Interesse für mich wie ein Geschenk.

„Es gibt da jemanden“, fange ich an. „Ich habe sie erst vor kurzem kennen gelernt. Ich glaube, sie ist ein wirklich netter Mensch. Aber im Grunde weiß ich noch nicht viel über sie.“

„Dann halt dich ran, immerhin möchte ich einmal Großvater werden.“ Dad grinst mich bis über beide Ohren an und leert sein Glas Wasser mit einem Zug.

„Ich tue, was ich tun kann“, erwidere ich seinen Spaß.

„Das will ich aber meinen! Im Ernst, ich hoffe du findest jemanden, mit dem du glücklich wirst.“

„Ich schätze, das ist nicht so einfach.“

„Ich weiß.“ Dad schiebt seinen Teller beiseite, beinahe so, als wolle er damit eine Barriere zwischen uns aus dem Weg räumen. „Als deine Mum uns damals so plötzlich verlassen hat, brach für mich eine Welt zusammen. Ich wollte es vor Sam und dir nicht zeigen und dachte, das Richtige wäre, Stärke und Selbstbeherrschung zu wahren. In mir ist jedoch alles wie bei einem Kartenhaus zusammengebrochen. Meine Gefühle wechselten zwischen Trauer und Wut. In den Jahren hatte dieses Wechselbad nachgelassen und übrig blieb letztlich nur eines: die Gewissheit, dass ich deine Mum trotz allem geliebt habe und noch immer liebe. Und ich bin davon überzeugt, dass sie auch mich noch immer liebt.“

„Wie kannst du dir so sicher sein? Wir haben schließlich niemals den Grund erfahren, warum sie uns im Stich gelassen hat.“

„Nach all den Jahren verurteile ich sie nicht mehr. Nicht immer können wir umkehren oder einen Schritt zurück machen, selbst wenn wir uns nichts sehnlicher wünschen.“

„Ich wünsche mir, ich könnte so fühlen wie du, aber ich kann es nicht.“

Dad sieht mich lange an. Ich frage mich, ob er wirklich nur Mums Verschwinden mit seiner letzten Äußerung meint.

Er reibt sich die Stirn, so als spüre er ein Stechen im Kopf.

„Ist alles in Ordnung?“, frage ich ihn vorsichtig.

„Oh, sicher“, bestätigt er mir „Weiß du, wann Sam nach Hause kommt? Normalerweise verpasst er das Abendessen nie.“

Mir wird bewusst, dass der innige Moment zwischen uns – ein Moment, wie ich ihn seit vielen Monaten nicht mehr erlebt habe – zu Ende ist.

Dad verlässt die Küche und setzt sich vor den Fernseher im Wohnzimmer. Nur einen Augenblick später erklingen die Laute einer Zuschauermeute und ein anderes Spiel – eine andere Aufnahme, aus einem vergangenen Leben – beginnt. Dad ist wieder der Schatten seiner selbst.

Ich mache den Abwasch und räume noch etwas auf. Als ich mich von Dad verabschiede, beachtet er mich nicht.

Ich schließe die Haustür hinter mir zu und setze mich in meinen Wagen. Kurz bevor ich den Motor starte, halte ich noch einmal inne. Für einen Augenblick habe ich mich tatsächlich der Hoffnung hingegeben, Dad würde aus seiner Lethargie erwachen und sich der Realität stellen. Ich hätte es besser wissen müssen.

Weshalb nur habe ich mich von dieser Illusion täuschen lassen? Die Strafe dafür ereilt mich augenblicklich. Ich spüre, wie mein Herz erneut in Scherben zerbricht.

Wie bei einem Kartenhaus.

Das Echo der Verstorbenen

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