Читать книгу Das Echo der Verstorbenen - Patrick Kruß - Страница 8

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Die nächsten Tage verbrachte ich damit, das Haus und die Landschaft um den See zu erkunden. Nahe am Wasser führte ein Kiesweg zwischen den Bäumen hindurch. Die Hitze war unter dem Schatten der hoch gewachsenen Eichen leichter zu ertragen und so genoss ich die gemeinsamen Spaziergänge mit Grandma.

Viviane zeigte mir eine flache Stelle am Ufer, über die man einen leichten Einstieg ins kühle Nass fand. Sie warnte mich jedoch davor, nicht hinauszuschwimmen. Der See sei sehr tief und für unerfahrene Schwimmer nicht geeignet. Ich versprach ihr, vorsichtig zu sein.

„Wenn du magst, fahren wir bald einmal in die Stadt und ich zeige dir den Wochenmarkt“, schlug mir Grandma am späten Nachmittag vor.

Wir saßen auf der Veranda und aßen Kirschkuchen. Viviane hatte ihn mit den Kirschen aus ihrem Garten gebacken. Ich glaubte, in jeder Frucht die unzähligen Sonnenstrahlen zu schmecken, die sie hatten reifen lassen.

„Klingt gut“, sagte ich und streckte meinen Teller nach einem nächsten Stück Kuchen aus.

Im Haus begann das Telefon zu klingeln. Viviane entschuldigte sich und verschwand. Mir fiel auf, dass Grandma selten angerufen wurde. Seit ich hier war, hatte sie auch keinen Besuch empfangen. Ich fragte mich, ob sie sich manchmal einsam fühlt.

Im Vergleich zu den letzten Tagen wehte ein milder Wind und am Himmel tummelten sich vereinzelte, weiße Wolken. Waren dies Vorboten eines Gewitters? Soweit ich wusste, sprach der Wetterbericht keine Unwetterwarnungen aus.

Mein Blick fiel auf Grandmas Skizzenblock, der neben einer Schachtel Kohlestifte auf einem Stuhl am Tisch lag.

Ich stellte meinen Teller beiseite und schlug den Block auf. Es waren nur wenige Skizzen enthalten. Die meisten Seiten waren unbenutzt.

Ein Bild schien jedoch fast fertig.

Viviane hatte eine Frau gemalt, die mit traurigem Blick an der Tür eines Hauses stand und ein kleines Mädchen an der Hand hielt. Ihre Augen schienen jemandem zu folgen, der dabei war, sie zu verlassen. Je länger ich die Zeichnung betrachtete, desto intensiver beschlich mich das Gefühl, dieser in Kohle festgehaltene Moment war wirklich geschehen.

Ich blätterte auf eine leere Seite und griff nach der Kohle. Die dünnen Stifte lagen seltsam zerbrechlich in der Hand. Daumen und Zeigefinger färbten sich schwarz, als ich die Zeichenkohle dazwischen rieb.

Ich wollte mein Glück versuchen und selbst eine Skizze anfertigen. Meine Grundschullehrerin, Mrs. Kramer, hatte schon mehrfach behauptet, ich besäße Talent im Umgang mit Papier und Farbe. Mum und Dad interessierte dies nicht wirklich.

Mum war fort.

Dad hatte Sam.

Ich entschied mich, die Trauerweide neben der Veranda zu zeichnen. Ich hielt es für eine angemessene Herausforderung, ein Abbild des Baumes auf dem Papier zu schaffen und begann mit dem Stamm. Ich konzentrierte mich auf das Muster des Holzes, das aus unzähligen schmalen Linien geformt war. Sie begannen am Boden und verschwanden im Dickicht des Blätterdachs, das sich wie ein Lampenschirm um den Stamm spannte.

Fuhr ich mit der Hand über die gezogenen Striche auf dem Papier, so verschwammen diese leicht. Ich erkannte schnell den Reiz, der das Zeichnen mit Kohle ausmacht. Das Spiel von Licht und Schatten kann auf diese Weise mit Leichtigkeit dargestellt werden.

Je länger ich damit beschäftigt war, die Konturen des Baumes auf das Papier zu übertragen, desto mehr vergaß ich die Zeit. Meine Umgebung verschwamm. Es gab nur noch den Skizzenblock und das Motiv vor meinen Augen.

Meine Hände wanderten immer schneller und der Kohlestift wurde zusehends kleiner.

Als mich Viviane ansprach, zuckte ich erschrocken zusammen. Sie stand an der Haustür und schien mich bereits eine Weile dabei beobachtet zu haben, wie ich zeichnete. Ihre Augen musterten mich vorsichtig. Sie wirkte ungewohnt streng.

„Tut mir Leid. Ich hätte dich fragen sollen“, entschuldigte ich mich. Vielleicht war sie sauer, dass ich ihren Skizzenblock benutzt hatte?

Sie kam auf mich zu und zog mir den Block aus den Händen. Mein Gesicht wurde rot. Ich schämte mich und wäre am liebsten in den Schrank meines Zimmers gekrochen.

Vivianes Blick prüfte meine Zeichnung.

„Das ist eine hervorragende Arbeit. Ich wusste… ich wusste nicht, dass du so… so begabt bist.“

Jetzt überraschte sie mich. Grandma setzte sich an den Tisch, den Skizzenblock fest umklammert.

„Warum habe ich es nicht schon vorher bemerkt?“ Sie schien sich selbst zu tadeln.

Ich wusste nicht recht, was ich sagen sollte und sah betrübt auf meinen Kuchenteller.

„Hast du schon einmal probiert, mit Acryl- oder Ölfarbe zu malen?“, fragte sie mich nach einer Weile.

Ich schüttelte den Kopf. Gandma legte mir ihre Hand behutsam auf den Unterarm. Erleichtert erkannte ich, dass sie nicht wütend war.

„Willst du es einmal versuchen? Wir könnten in mein Atelier gehen.“

„Wirklich? Ich darf in deinem Atelier malen?“

Viviane lächelte über die Begeisterung in meinen Augen. „Aber natürlich.“

Wir saßen noch eine Weile beisammen auf der Veranda und Grandma verriet mir, dass sie selbst etwa in meinem Alter gewesen sein musste, als sie sich für die Malerei zu interessieren begann. „Ich habe viel üben müssen, bis ich mit Pinsel und Farbe richtig umgehen konnte. Aber ich glaube, du bist ein Naturtalent.“

Sie nahm ihren letzten Schluck Kaffee und machte sich daran, dass Geschirr zu stapeln und in die Küche zu tragen.

„Wasch dir noch geschwind deine Hände, Schatz“, sagte sie, bevor sie ihm Haus verschwand. Ich sah an mir hinab und bemerkte erst jetzt, wie schwarz meine Finger waren.

An der Haustür drehte ich noch einmal um. Ich wollte zuerst meine fertige Zeichnung ansehen. Grandma hatte mir den Block aus der Hand gezogen, bevor ich das Bild hatte betrachten können.

Als ich das Blatt aufschlug, lief mir ein Schauer über den Rücken. Mein Herz klopfte schneller und ich unterdrückte das Gefühl, laut aufzuschreien. Ich musste mich setzen.

„Das kann nicht sein“, flüsterte ich. Mein Verstand wehrte sich zu begreifen, was ich sah.

Auf dem Block war nicht die Trauerweide zu sehen. Der Baum, den ich gezeichnet glaubte, war nicht da.

Stattdessen sah ich Vivianes Garten und die beiden Korbstühle am Ufer des Sees. Ich hatte jenen Abend am Tag meiner Ankunft gemalt, als wir uns im Garten den Sonnenuntergang ansahen. Die Skizze wirkte so echt wie eine Fotoaufnahme.

Eilig durchsuchte ich den Skizzenblock nach der Trauerweide, aber sie war verschwunden.

Sollte ich Grandma erzählen, dass dieses Bild nicht von mir stammt? Und das ich vor einigen Tagen geglaubt hatte, von einem Fremden in meinem Zimmer beobachtet zu werden?

Sicherlich würde sie mich für verrückt halten.

Ich legte den Block auf den Tisch und entschied mich, zu schweigen. Dann ging ich ins Haus, bereit das Unerklärliche zu verdrängen, was mir widerfuhr.

Heute weiß ich, dass dies der erste Moment war, an dem sie mich benutzten.

Meine Bestimmung begann sich zu erfüllen.

Das Echo der Verstorbenen

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