Читать книгу Das Echo der Verstorbenen - Patrick Kruß - Страница 20

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Der Mann auf dem Bild war tatsächlich mein Großvater. Das Phantom, das meine Mum niemals kennen gelernt hatte, bekam endlich ein Gesicht. Ich spekulierte, wie viele Geheimnisse meine Grandma in ihrem Herz noch mit sich herumtrug.

„Wann ist er…“, setze ich an, entschied mich aber dafür, die Frage anders zu formulieren „War er bereits tot, als Mum geboren wurde?“

Vivianes Augen wanderten hinab zu ihren Händen, deren Finger sie ineinander verschränkt hatte. Sie schien sich bereits moralisch für die Vielzahl an Fragen gewappnet zu haben, die sie durch das Lüften der Identität meines Großvaters erwartete. Dennoch fiel ihr das Antworten sichtlich schwer.

„Vincent ist vor fünf Jahren verstorben. Er lebte im Haus, das er für seine Familie gebaut hatte.“

„Für seine Familie?“ Ich konnte Grandma nicht ganz folgen. „Ich dachte, er wollte immer mit dir zusammen sein?“

„Als ich damals nach Frankreich aufbrach, war er bereits verheiratet. Wir hatten uns ineinander verliebt, obwohl er eine Frau und eine kleine Tochter hatte.“

„Wie kann sich jemand in zwei Menschen verlieben?“, fragte ich, denn es schien für mich ein Ding der Unmöglichkeit mehr als eine Person gleichzeitig zu lieben. In Grandmas Gesicht zeichnete sich Scham ab und im selben Moment tat es mir Leid, die Frage gestellt zu haben.

„Es ist schwer zu erklären, Colby. Vincent und mich hat viel miteinander verbunden. Er war von Beruf Bildhauer und daher genauso in die Kunst vernarrt, wie ich selbst. Ich lernte ihn bei einer Ausstellung kennen. Was zwischen uns geschah, würde in Büchern als Liebe auf den ersten Blick bezeichnet werden. An jenem Tag verspürte ich bereits das Gefühl, als wären wir…für einander bestimmt. Schon unser ganzes Leben lang.“

Als Grandma aussprach, was sie bei ihrer ersten Begegnung mit Vincent empfunden hatte, dachte ich an den Augenblick, als ich Elizabeth das erste Mal getroffen hatte. „Ihr habt euch ohne es zu wissen gesucht und an diesem Tag gefunden“, sagte ich mehr zu mir selbst. Viviane sah zu mir auf und schien überrascht, dass ein zehnjähriger Junge ihre Gefühle nachempfinden konnte.

„Ich besuchte Vincent regelmäßig in seinem Atelier oder er kam zu mir. Ich wohnte damals in einem kleinen Appartement in dem gleichen Ort, in dem heute Elizabeth mit ihrer Familie lebt. Wir träumten beide davon, mit unserer Kunst berühmt zu werden. Vincent betrachtete die Dinge in der gleichen Weise, wie ich es tat. Wenn ich einen Gedanken aussprach, führte er ihn zu Ende und umgekehrt. Er sah in mein Herz und ich konnte in dem seinen lesen, was ihn bewegte. Ich war mir so sicher, dass ich mit ihm den Rest meines Lebens verbringen wollte. Und dann…dann kam der Tag, an dem er mir gestand, dass er verheiratet und Vater einer kleinen Tochter war. Meine Welt – unser kurzes Glück – zerbrach in ein Meer aus Scherben. Vincent sagte, er werde seine Frau Elisa verlassen, aber ich wollte niemals jemand sein, der eine Familie zerstört. Deshalb bin ich nach Frankreich aufgebrochen. Ich dachte, die Distanz würde mir helfen, Vincent zu vergessen und er würde merken, dass er Elisa und seine Tochter im Grunde mehr liebt als mich. Aber ich habe jeden Tag, jede Minute, jeden einzelnen Augenblick ab dem Beginn meiner Reise an ihn denken müssen. Deshalb war ich so sprachlos und ja, so unbeschreiblich glücklich, als er eines Tages in der Normandie erschien und mir gestand, er wolle für immer bei mir bleiben.“

„Und dennoch ist er zu Elisa und seiner Tochter zurückgekehrt?“

„Wir verbrachten einen wundervollen Zeit. Jeder Moment mit Vincent an meiner Seite war ein Geschenk, beinahe zu kostbar, als dass ich glaubte, es überhaupt zu verdienen. Ich war mir der Illusion, der wir uns hingaben, durchaus bewusst. Doch die Vorstellung, wir hätten eine gemeinsame Zukunft, war so verlockend, dass ich mich bereitwillig darauf einließ. Ich verdrängte, dass Vincent verheiratet und der Vater eines Kindes war, aber die Realität holte uns letztlich doch ein. Ich wusste, dass es früher oder später geschehen würde, so unabwendbar wie das Untergehen der Sonne an einem schönen Tag. Wir wünschen uns, die Zeit würde Erbarmen zeigen und einfach still stehen, uns diesen Moment des Glücks niemals rauben. Und doch schreitet sie voran und gewährt uns keine Gnade.

Eines Abends – gerade als wir zusammen ausgehen wollten – glaubte Vincent sein Portmonee verlegt zu haben. Ich half ihm bei der Suche und da entdeckte ich in seiner Tasche ein Photo seiner Tochter. Mir wurde schlagartig bewusst, dass unser gemeinsames Leben, unsere Liebe falsch war. Vincents Zukunft lag nicht bei mir und so bat ich ihn, zurück zu seiner Frau und seiner Tochter zu kehren und mit ihnen glücklich zu werden. Es war die schwerste Entscheidung, die ich jemals in meinem Leben getroffen habe, denn mein Herz verlangte etwas ganz anderes. Es hätte sich niemals mehr von ihm trennen wollen.

Vincent wehrte sich gegen meine Bitte, behauptete sogar, mit seiner Vergangenheit abgeschlossen zu haben. Er wusste, dass es eine Lüge war, von dem Moment an, als er es laut ausgesprochen hatte. Weil er mich liebte, verließ er mich wieder und mit dem Ende des Sommers endeten auch wir.“

Viviane war völlig in ihre Erzählung versunken. Mir war, als würde sie die gemeinsame Zeit mit meinem Großvater noch einmal im Zeitraffer durchleben. In ihren Worten lag die Freude über ein großes, unbeschreibliches Glück und die Bitterkeit, dieses Glück verloren zu haben.

„Ich blieb noch drei weitere Monate in der Normandie. Während dieser Zeit stellte ich fest, dass ich schwanger war. Ich entschied, meine Reise zu verlängern und nicht nach Hause zurückzukehren. Vincent sollte nichts von dem Kind erfahren, dass ich unter meinem Herzen trug. Ich wollte nicht noch einmal in eine Zwickmühle und unabsichtlich zwischen ihn und seine Familie geraten. Meine Entscheidung war – und davon bin ich auch heute noch überzeugt – sowohl für ihn als auch für mich die richtige. Kurze Zeit später verschlug es mich nach Südafrika, wo deine Mutter zur Welt kam. Als wir zurückkehrten – deine Mutter war fast ein Jahr alt – löste ich meine Wohnung auf und zog fort, ohne Vincent noch einmal gesehen zu haben. Wir trafen uns erst viele Jahre später zufällig wieder. Es war einige Wochen nachdem ich dieses Haus gekauft hatte. Deine Mum hatte inzwischen ihr Studium abgeschlossen und lebte bereits mit deinem Vater zusammen.

Ich war auf der Suche nach einer Ausstellungsmöglichkeit für meine Bilder und da begegnete ich Vincent. Es war in der gleichen Galerie, in der ich ihn auch kennen gelernt hatte. So viele Jahre waren seither verstrichen und doch waren meine Gefühle für ihn niemals verschwunden. Ich merkte es in der Sekunde, als ich ihn traf. Ich kann mich noch gut an den Augenblick erinnern, als wir uns plötzlich nach so langer Zeit gegenüberstanden. Wir waren wie erstarrt, unfähig auch nur ein Wort zu sagen. Es lag sicherlich daran, dass weder er noch ich wussten, wie unser Gegenüber auf das unerwartete Treffen reagieren würde. Enttäuschung, Wut, Gleichgültigkeit oder Freude – es wäre alles möglich gewesen. Dann, beinahe zeitgleich, gingen wir aufeinander zu und umarmten uns. Wir empfanden beide das große Glück, den anderen wieder zu sehen, ihn wieder gefunden zu haben. Vincent besuchte mich darauf zuhause und gestand mir, dass er eine trostlose, traurige Ehe mit Elisa geführt hatte. Seine Tochter Cheryl hatte die Familie mit Anfang zwanzig verlassen und war nach Kanada gezogen. Wenig später erkrankte Elisa an Krebs und starb nach drei schmerzvollen Jahren. Doch dieser Teil seines Lebens sei abgeschlossen denn, – so war er der festen Überzeugung – nun hätten wir eine zweite Chance erhalten. Dieses Mal hörte ich auf die Stimme meines Herzens und Vincent und ich konnten endlich zusammen sein. Deine Mum hatte ihn als den Lebenspartner an meiner Seite kennen gelernt und akzeptiert, ohne zu wissen, dass er ihr Vater war. Genauso habe ich Vincent niemals gestanden, dass meine Tochter von ihm stammte. Du bist der Erste, dem ich dieses Geheimnis anvertraue.“

Viviane zog ein Taschentuch hervor und tupfte sich damit ihre Augen trocken. Die Emotionen, die sie und Vincent miteinander verbanden und aus dem tiefsten Inneren ihres Herzens an die Oberfläche strömten, waren so intensiv, dass ich glaubte, sie selbst zu verspüren.

„Eure Geschichte hatte also ein Happy End“, sagte ich und Grandma musste lächeln.

„Es hat viele Jahre gedauert, aber ja, wir beide fanden unser Happy End.“

Mein Blick streifte das Bild auf dem Tisch und der Mann darauf winkte mir fröhlich zu.

„Inzwischen weiß Vincent, dass er eine zweite Tochter hatte“, verriet Viviane.

„Wie hat er darauf reagiert?“ Ich konnte mir gut vorstellen, dass er sich hintergangen fühlte und wütend darüber war, niemals die Wahrheit erfahren zu haben.

Viviane strich sanft mit ihren Fingern über das Bild. „Überraschend wäre das richtige Wort. Er konnte meine Entscheidung verstehen, so wie er mich immer verstanden hatte.“

„Und was hält ihn noch hier? Warum kann er unsere Welt nicht verlassen?“

„Vincent…er möchte niemals mehr von mir getrennt sein. Er wartet auf mich, bis wir…bis wir gemeinsam diese Welt hinter uns lassen können.“ Grandma kamen erneut die Tränen. „Ich habe ihn darum gebeten zu gehen, schon wieder. Seine Antwort war deutlich. Er würde mich nicht noch einmal im Stich lassen. Geister sind manchmal verdammt stur.“

Ich konnte mir ein Grinsen über Grandmas Bemerkung nicht verkneifen. „Ihr wart so lange getrennt, ich glaube, ich würde dich auch nicht verlassen wollen.“

„Vincents Geist ist die stärkste Präsenz, die ich wahrnehme. Manchmal ist sie so intensiv, dass ich glaube, er würde gleich zur Tür hereinkommen und sich zu mir an den Tisch setzen. Er erfüllt mich mit Wärme und Zuversicht, beinahe so wie der erste warme Sonnenstrahl nach einem langen Winter.“

„Was wird er mit zeigen, wenn ich durch das Bild…durch das Fenster schaue?“

Viviane nahm meine Hand. „Ich weiß es nicht, aber du brauchst dich nicht zu fürchten. Ich werde dir den Weg weisen.“

„Okay“, stimmte ich zu. Im gleichen Moment wurde mir etwas bewusst. Bisher hatte ich es noch nicht verstehen können, aber durch Grandmas Erzählung ergab es für mich endlich einen Sinn.

„Waren Gwen und ihre Freundinnen wegen Vincent so böse zu dir?“

„Gwen ist Elisas jüngere Schwester. Als Vincent mir damals nach Frankreich gefolgt ist, hat er Elisa gestanden, dass er eine andere Frau liebt und dabei meinen Namen genannt. Nach Elisas Tod hat mir meine Rückkehr Gwens ganzen Unmut eingebracht, vor allem als sie erfuhr, dass Vincent und ich ein Paar waren.“

Betroffen schaute ich zu Boden und erwiderte mit leiser Stimme, dass es mir leid tue.

„Es spielt keine Rolle. Ich kann mit Gwens Gefühlen gegenüber mir leben.“

Wir saßen eine Weile schweigend nebeneinander. Am liebsten wäre ich aufgesprungen, zu Gwen gerannt und hätte ihr erklärt, dass meine Grandma ein guter Mensch ist, der anderen hilft und niemandem etwas böses antun würde.

„Willst du es jetzt probieren?“, riss mich Viviane aus meinen Gedanken und deutete auf das Bild.

„Ja“, sagte ich entschlossen. Dennoch durchzog ein Kribbeln meinen Körper, so stark als befänden sich unter meiner Haut Tausende von Ameisen auf der Wanderschaft. Nervös wartete ich auf Grandmas Anweisungen.

„Wenn du das Bild betrachtest, werden sich die Farben, das Muster, die Linien, einfach alles darauf verändern. Je länger du es ansiehst, desto mehr wird es deinen Verstand und deine Wahrnehmung ausfüllen. Du wirst eintauchen in eine völlig andere Umgebung und zwar an den Ort, den der Geist des Verstorbenen dir zeigen möchte. Du wirst spüren, dass dich jemand durch diesen Ort führen will. Lass dich auf dieses Gefühl ein, denn die Geister sind auf deine Hilfe angewiesen. Aber merke dir – und das ist jetzt das Wichtigste – es ist nicht die reale Welt, die sich dir offenbart. Es obliegt dir, wie weit du die Vision verfolgen oder wann du zurückkehren und das Fenster schließen willst.“

„Ich kann entscheiden, wann ich zurückkehren möchte“, fasste ich Grandmas Schilderungen zusammen.

„Natürlich möchte dich der Geist erst ziehen lassen, wenn du das gesehen hast, was er dir mitteilen wollte und deshalb versuchen, dich an dem Ort zu halten. Nur bist du der Stärkere von euch, verstehst du?“

„Ich bin der Stärkere“, sprach ich Viviane nach. Dann sah ich hinüber zu dem Bild, das meinen Großvater zeigte. Er sah mich an und streckte seine Hand nach mir aus. Ich versuchte, nach ihr zu greifen und plötzlich strahlte mir blendend helles Sonnenlicht entgegen. Ich konnte das Rauschen des Meeres und den Gesang von Möwen hören. Nachdem sich meine Augen an das Licht gewöhnt hatten, erkannte ich, wohin mich Vincent geführt hatte. Ich befand mich an einem Sandstrand und blickte einem azurblauen Himmel entgegen, der sich so unendlich wie der Ozean selbst vor mit erstreckte.

„Hallo Colby“, hörte ich jemanden nach mir rufen. Ich sah in die Richtung, aus der die Stimme kam und entdeckte Vincent auf einem Holzsteg stehen. Mein Großvater trug ein weißes Hemd und eine ebenso weiße Hose. Der Stoff seiner Kleidung tanzte sachte im salzigen Wind. Er winkte mich zu sich und ich ging auf den Steg zu.

„Hallo Vincent“, sagte ich, nachdem ich bei ihm ankam. Er lächelte und strich mir sanft über den Kopf. Seine Berührung fühlte sich so echt an, dass es mir schwer fiel, zu glauben, dies sei bloß eine Vision.

„Du bist also mein Enkel.“

Unsicher nickte ich.

„Tut mir leid, dass ich dich neulich erschreckt habe. Aber glaub mir, auch ich war überrascht, als ich festgestellt habe, dass du mich wahrnehmen kannst. Und dass du sogar die Bilder zeichnest, die ich dir sende. Du weißt schon, die Aussicht vom Garten auf den See, die du auf dem Skizzenblock deiner Grandma festgehalten hast.“

„Das warst du?“, hakte ich überrascht nach.

„Ja, mein Junge. Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel.“

„Nein, ich hatte nur etwas Angst, weil ich mir nicht erklären konnte, woher dieses Bild plötzlich auftaucht, wo ich doch etwas völlig anderes zeichnen wollte.“

„Ich bin froh, dass deine Grandma dir die Wahrheit über deine Fähigkeit verraten hat. So lerne ich einen meiner Enkel kennen.“ Vincent beugte sich zu mir herab. „Weißt du, wo wir uns hier befinden?“

Ich sah mich um. „Der Strand in der Normandie? Grandma hat ihn mir so beschrieben“, antwortete ich nach kurzem Überlegen.

„Richtig. Das ist der Ort, an dem ich mit deiner Grandma zusammen einen Sommer verbracht habe“, erklärte er mir. „Ich wollte, dass du ihn selbst siehst. Lass uns gemeinsam ein paar Schritte gehen, einverstanden?“

Ich nickte und Vincent nahm mich an der Hand. Wir liefen den Klippen, welche die Bucht markierten, entgegen und folgten einigen darin eingelassenen Stufen hinauf zu einem kleinen Dorf. Vincent brachte mich zum Gasthaus La sirène. Auf dem Schild über der Tür lachte uns eine Meerjungfrau mit wallender, roter Mähne an. Wir traten ins Innere der Gaststätte und gingen in Vivianes kleines Ausstellungszimmer. Meine Grandma stand darin und drehte sich erfreut Vincent und mir zu. Ich war mich sicher, dass sie nur ihn wahrnahm, denn es waren die Erinnerungen meines Großvaters, die er mit mir teilte.

„Ist sie nicht wunderschön?“, fragte Vincent und strahlte bei Vivianes Anblick vor Freude über das ganze Gesicht. Grandma war Mitte zwanzig, ihr hellblondes Haar reichte ihr bis zu den Schultern. Auch sie trug ein weißes Kleid und ihr Hals zierte eine Kette aus türkisfarbenen Steinen.

„Ja, das ist sie“, stimmte ich ihm zu.

„Verlass dich auf sie, Colby. Sie kennt eure Gabe wie niemand sonst.“ Vincents Gesicht nahm einen nachdenklichen Ausdruck an. „Ich bin nicht der einzige, der durch euer Haus streift“, fuhr er einen Moment später fort. „Da ist noch jemand.“

Ich schluckte und spürte, wie sich an meinen Armen eine Gänsehaut hinaufzuziehen begann. „Wer?“, fragte ich.

„Ich kenne den Namen des Geistes nicht. Aber er ist verzweifelt, weil ihm bisher niemand helfen konnte. Ihr müsst vorsichtig sein, denn langsam verwandelt sich seine Verzweiflung in fürchterliche Wut.“

„Was…was kann ich tun?“

Noch bevor ich von Vincent eine Antwort erhielt, befanden wir uns wieder am Strand. Die Umgebung begann zu verblassen und ich spürte, dass die Vision endete, dass sich das Fenster wieder zu schließen begann.

„Hab Vertrauen zu dir und zu deiner Grandma. Gemeinsam werdet ihr die Zeichen deuten können. Ich hab dich lieb, Colby.“ Vincent streckte seine Hand nach mir aus und dasselbe helle Licht, das mich zu ihm führte, trennte uns voneinander.

Ich blinzelte kurz und befand mich wieder im Wohnzimmer an Vivianes Seite. Die Dinge, die mir Vincent zuletzt anvertraut hatte, nahmen mein ganzes Denken ein. Alles um mich war verschwommen, so als blickte ich durch eine beschlagene Glasscheibe hindurch. Erst nach und nach erkannte ich die Konturen meiner Umgebung wieder.

„Er sagt, hier sei noch ein anderer Geist, der unsere Hilfe braucht. Der Geist ist verzweifelt und wird langsam wütend“, brach es aus mir heraus.

Viviane hielt noch immer meine Hand. Ihre Berührung beruhigte mich etwas.

„Vincent…“, flüsterte sie und sah zu dem Bild auf dem Tisch hinüber. „Ich weiß, er hat mir seine Beobachtungen bereits vor einigen Tagen mitgeteilt.“

„Hast du mit diesem Geist schon Kontakt aufnehmen können?“

Viviane schüttelte den Kopf. „Ich spüre nicht einmal seine Gegenwart. Es ist, als würde er sich absichtlich vor mir verstecken.“

„Was passiert, wenn wir ihm nicht helfen können und er wütend wird?“

An Vivianes Miene konnte ich ablesen, dass sie mir nur ungern eine Antwort geben wollte.

„Bitte Grandma, sag es mir.“

„Normalerweise können Menschen die Anwesenheit eines Geistes nicht wahrnehmen. Die Präsenz ist so dünn, das sie nicht spürbar ist. Selbst wenn ein Geist großen Zorn empfindet, ändert sich dies nicht. Jemand ohne unsere Gabe würde ihn nicht bemerken. Aber die Wut, die den Geist erfüllt, kann sich auf die Lebenden übertragen. Es ist vergleichbar mit einem Raum, in dem der Sauerstoff knapp wird. Irgendwann ringen wir nach frischer Luft, weil wir nicht anders können. Und so ist es auch mit dem Zorn. Irgendwann beeinflusst er die Gefühle von Personen so stark, bis sie selbst die gleiche Wut empfinden und sich nicht mehr dagegen wehren können.“

Obwohl es Viviane nicht aussprach, konnte ich mir vorstellen, was passieren würde, wenn sich jemand durch seinen Zorn leiten lässt. Und ich hoffte inständig, dass es nicht so weit kommen würde.

Das Echo der Verstorbenen

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