Читать книгу Das Echo der Verstorbenen - Patrick Kruß - Страница 6

2

Оглавление

Nach dem Abendessen gingen wir in den Garten, der direkt an den See angrenzte. Die Luft roch nach frisch gemähtem Gras und Flieder.

Viviane deutete auf einen Schuppen.

„Mein Atelier kennst du ja?“, fragte sie.

„Du hast es Sam und mir bei unserem letzten Besuch gezeigt“, erinnerte ich sie.

Viviane nickte. „Richtig. Verzeih, es ist nur schon eine Weile her.“

Wir schlenderten zu einem Steg, auf dem zwei Korbstühle standen. Ein Ruderboot war mit einem Tau an dem äußersten Pfosten des Stegs angebunden und schaukelte sanft in den ruhigen Bewegungen des Wassers. Die Sonne machte sich daran, hinter den Bäumen auf der anderen Seite des Sees zu versinken und tauchte die Wasseroberfläche in einen goldenen Glanz.

Wir setzten uns in die Korbstühle und schauten einigen Schwänen zu, wie sie ihre Bahnen zogen.

„Grandma, warum lebst du alleine hier draußen?“, fragte ich.

Viviane lächelte. „Für mich gibt es keinen schöneren Ort auf der Welt.“

„Wenn du bei uns in der Stadt wohnen würdest, könnten wir uns viel häufiger sehen“, wandte ich ein.

„Das stimmt. Und es tut mir auch weh, dass ich dich und Sam so selten sehe. Aber ich bin niemand, der in der Stadt glücklich werden könnte.“

„Weshalb nicht?“

„Schau dir die Schwäne an. Sie leben auch auf Feldern und Wiesen, aber nur hier am See können sie schwimmen. Und so geht es mir. Nur hier kann ich malen. Nur hier kann ich atmen.“

Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Wie so oft kam es mir vor, als spreche sie in Rätseln, die es für mich erst noch zu lösen gilt.

„Ich bin viel gereist. Es hätte mich nach Italien, Kenia oder Alaska verschlagen können. Aber dies ist der Ort, der mein Zuhause wurde. So etwas sucht man sich nicht aus. Es ist vielmehr ein Gefühl, das dir sagt: Bleib hier und du wirst glücklich werden.“

„Wo kann ich glücklich werden?“, wollte ich wissen.

Viviane nahm meine Hand und drückte sie fest. „Diese Frage kann niemand außer dir selbst beantworten.“

Wir sahen wieder hinüber zu den Schwänen, die im Schilf des Ufers verschwanden. Die Wipfel der Bäume verdeckten nun die Sonne und spendeten einen angenehmen Schatten.

„Manchmal ist es kein bestimmter Ort, den wir unser Zuhause nennen. Manchmal ist es ein Mensch, bei dem wir uns zuhause fühlen. Und dann ist es völlig egal, wo wir leben, solange wir nur bei dieser einen Person sind.“

Vivianes Augen schimmerten glasig. Ich hatte das Gefühl, sie spreche über etwas, das ihr selbst widerfahren war.

„Dann muss ich diesen Menschen finden“, schlussfolgerte ich.

Grandma antwortete mir nichts.

Gegen zehn Uhr wurde ich müde. Wir kehrten zurück ins Haus und Viviane zeigte mir das Bad, wo ich mich bettfertig machte.

In meinem Zimmer beschlich mich erneut das seltsame Gefühl, nicht alleine zu sein. Es war nicht mehr so stark wie zuvor, vielmehr wie das Echo einer lauten Stimme. Ich schaute zu der Stelle, an der ich die Anwesenheit des Fremden verspürt hatte.

Viviane legte mir die Hände auf meine Schultern. „Soll ich dir noch eine Geschichte vorlesen?“

Ich lehnte ab und entschied, lieber gleich schlafen zu wollen.

Grandma schlug das Leintuch zurück und ich konnte in das Bett klettern. Ich tastete nach Pubuh und drückte das Nashorn fest an mich.

„Ich wünsche dir eine gute Nacht“, sagte Viviane und gab mir einen Kuss auf die Stirn.

Sie ging zur Tür und löschte das Licht.

„Kannst du die Tür offen lassen?“, fragte ich, als Viviane sie gerade schließen wollte.

Grandma wirkte auf einmal sehr ernst. Sie lehnte ihren Kopf gegen den Türrahmen und musterte mich mit ihren smaragdgrünen Augen.

„Colby, du bist hier sicher.“

Sie schien bemerkt zu haben, wie nervös ich war. Sollte ich ihr von dem unheimlichen Erlebnis am Abend erzählen? Würde sie mich verstehen können, wenn ich es selbst kaum begriff? Auf keinen Fall wollte ich, dass sie dachte, ich fühle mich nicht wohl und erfinde eine Geschichte, um hier schleunigst wieder weg zu kommen.

„Ich weiß nicht, wovor du Angst hast, aber dir wird nichts passieren. Vertrau mir, ja?“, fügte sie nach einer Weile hinzu, als meine Antwort ausblieb.

Dann ließ sie mich alleine und ich hörte, wie sie mit leisen Schritten die Treppe hinab ging.

Ich schaute zur Decke und wartete darauf, dass sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Ein heißes Kribbeln durchlief meinen Körper. Ich lauschte angespannt. Würde ich es mitbekommen, falls der Fremde sich erneut in das Zimmer schlich? Noch wollte ich nicht glauben, mir alles eingebildet zu haben, auch wenn ein Hirngespinst bedeuten würde, dass meine Angst tatsächlich unbegründet war.

Nach und nach verloren sich meine Sinne in der Müdigkeit, die sich in meinem Körper ausbreitete und ich schlief ein.

Ich sah meinen Dad und Sam. Sie liefen Hand in Hand.

Ich rief ihnen zu und bat sie, auf mich zu warten. Dad drehte sich kurz zu mir um und lächelte. Dann gingen er und Sam weiter. Je lauter ich sie anflehte, endlich stehen zu bleiben, desto weiter entfernten sie sich von mir. Ich rannte so schnell es mir nur möglich war und doch war ich nicht schnell genug. Meine Beine begannen zu schmerzen, bis ich keinen Fuß mehr vor den anderen setzen konnte. Ich musste anhalten und rang nach Luft.

Dad und Sam wurden zu zwei schemenhaften Wesen, die sich nach und nach auflösten. Als nichts mehr von ihnen zu sehen war, wurde mir bewusst, dass ich sie verloren hatte.

Obwohl ich bei ihnen sein wollte, konnte ich sie nicht erreichen.

Und ihnen schien es völlig egal zu sein, was aus mir wird.

Da riss ich die Augen auf und mein Körper zuckte unweigerlich zusammen.

Es dauerte einen Augenblick, bis ich begriff, dass es ein Albtraum war. Und doch konnte ich den Gedanken, Dad und Sam könnten mich für immer verlassen haben, nicht loswerden.

Wie spät war es? Ich dachte, nur einen Moment weggetreten gewesen zu sein, aber etwas hatte sich verändert. Im Haus herrschte völlige Stille.

Ich stieg aus meinem Bett und ging in den Flur. Eine Wanduhr verriet mir, dass es bereits kurz nach Mitternacht war.

Die Tür zu Vivianes Schlafzimmer war angelehnt und durch den schmalen Spalt konnte ich sehen, wie meine Grandma schlief.

Der Vollmond warf sein gespenstisches Licht durch das große Fenster neben ihrem Nachttisch. Mit dem fahlen Schein wanderten auch die Schatten der Rotorblätter eines großen Deckenventilators in gleichmäßigen Bewegungen über das Bett. Die Balkontür war geöffnet und ließ die warme Nachtluft herein. Ich betrachtete die Szenerie einen Augenblick und entschied mich, zurück in mein Zimmer zu gehen.

Als ich am Türrahmen ankam, blieb ich wie angewurzelt stehen.

Ich spürte die Anwesenheit des Fremden.

Er war hier, in meinem Zimmer.

Wieder stand er in der dunkelsten Ecke. Ich versuchte seine Konturen zu erkennen, doch meine Augen vermochten nichts in der Finsternis zu sehen.

Meine Hände suchten die Wand nach dem Lichtschalter ab. Einen kurzen Moment später fand ich ihn. Ich konzentrierte mich auf den Atem des Fremden. Ich konnte ihn deutlich hören. Er war so laut, das befinde er sich direkt neben mir.

Meine Finger zitterten, aber mein Entschluss stand fest. Ich würde nicht wegrennen oder um Hilfe rufen. Ich wollte das Gesicht des Fremden sehen, dem es wieder auf mysteriöse Weise gelungen war, unbemerkt in mein Zimmer zu gelangen.

Ich drückte den Schalter und das warme Licht der Lampe durchfuhr den Raum. Ich glaubte, das Überraschungsmoment auf meiner Seite zu haben. Doch ich hatte mich getäuscht, wie mir schlagartig bewusst wurde.

Meine Augen weiteten sich, unfähig zu verstehen, was sie sahen.

Das Zimmer war leer. Niemand war hier.

Mit langsamen Schritten ging ich zur Seite hinüber, an der ich den Fremden vermutet hatte. Neben den Bildern, die ich bereits bei meiner Ankunft betrachtet hatte, sah ich nun, dass hier ein viertes Gemälde hing. Es zeigte ein Pier, auf dem ein Mann mit Ballonmütze stand. Sein Blick folgte einem Segelboot, das hinaus aufs offene Meer glitt, der untergehenden Sonne entgegen.

Ich musterte jede Stelle des Bildes. Im Hintergrund wurde der Ozean auf verschwommene Weise eins mit dem Himmel. Nur die glutrote Sonne markierte die Grenze zwischen Firmament und Meer.

Etwas schreckte mich auf. Für einen kurzen Augenblick dachte ich, der Mann mit der Ballonmütze sah mich an. Hatten die Augen, welche dem Boot folgten, zu mir herübergesehen? Nein, so etwas war unmöglich.

Ich löschte das Licht und kroch zurück in mein Bett. Soeben hatte ich den Beweis erhalten, dass niemand in meinem Zimmer auf mich lauerte. Viviane hatte Recht, ich brauchte keine Angst zu haben.

Ich zog das Leintuch an mich, denn trotz der Hitze des Tages fror ich nun etwas.

Von wem ich auch vermutete, dass er sich in meinem Zimmer versteckt hielt, war nicht mehr als ein übler Streich meiner Phantasie.

Ich schwor mir, dass ich, solange ich hier war, nicht mehr darüber nachdenken wollte.

Es sollte ein naives Versprechen sein, das ich mir gab.

Das Echo der Verstorbenen

Подняться наверх