Читать книгу Das Echo der Verstorbenen - Patrick Kruß - Страница 12

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Die nächsten Tage schien es – zumindest nach Grandmas Äußerungen – keine gute Gelegenheit zu geben, um an meinem Bild im Atelier weiter zu arbeiten. Auch wenn Viviane es nicht zugeben würde, so hatte sie meine plötzliche Atemnot in große Furcht versetzt. Und damit meine ich nicht die Sorge um meinen Gesundheitszustand, die ich als völlig normal empfunden hätte. Nein, sie schien vor etwas ganz anderem Angst zu haben und offensichtlich wollte sie mich davor beschützen.

Die rätselhaften Dinge, die mir während des Malens widerfahren waren, hätten Grund genug sein müssen, um mich davon abzuhalten, erneut zu Farbe und Pinsel zu greifen. Ich war mir sicher, dass jedes andere Kind in meinem Alter nicht noch einmal die Vorstellung durchleben wollte, zu ertrinken. Aber ich verspürte den Drang, herauszufinden, was mit mir passiert war.

Als ich eines Abends alleine im Garten saß, reizte mich der Gedanke, mein begonnenes Bild noch einmal anzuschauen, so sehr, dass ich mich dazu entschloss, ohne Grandma das Atelier zu betreten. Ich versuchte die Tür des Schuppens zu öffnen, doch blieb sie trotz meiner Bemühungen fest verschlossen. Viviane besaß, so glaubte ich, den einzigen Schlüssel, den sie stets an einem Bund zusammen mit dem Haustür- und ihrem Wagenschlüssel bei sich trug. Dadurch wollte ich mehr den je in das Atelier gelangen, denn inzwischen hatte sich mein Verdacht, dass in Grandmas Zuhause seltsame Dinge geschahen, gefestigt.

Vielleicht war das einsame Haus am See auf einem verfluchten Grundstück errichtet worden und nun wollte ein böser Geist jeden vertreiben, der hier lebt? Möglicherweise war das Mädchen, das mich in die Tiefen des Sees ziehen wollte, dieser Geist? Unheimliche Geschichten über Magie und Flüche, die ich aus Jugendbüchern und dem Fernsehen kannte, füllten meine Fantasie und ließen mich darüber nachdenken, ob hier so etwas Gruseliges tatsächlich geschieht. Ein Gefühl zwischen Angst und Faszination beschlich mich, aber Viviane zu liebe sprach ich nicht darüber. Jedenfalls war ich mir sicher, dass ich nur in Grandmas Atelier eine Antwort auf meine Vermutung finden würde.

Wie mir auffiel, hatte Viviane sämtliches Handwerkszeug, das sie als Künstlerin benötigte, aus dem Haus verschwinden lassen. Ich fand nirgendwo mehr einen Skizzenblock, Stifte oder Pinsel. Sicherlich glaubte sie, dass ich es gar nicht bemerkt hatte. Doch stattdessen beschlich mich der Verdacht, dass sie mich nicht nur aus dem Atelier fernhalten wollte, sondern auch versuchte, mir keine Gelegenheit zu geben, etwas zu zeichnen.

„Was hältst du davon, wenn wir heute zusammen in die Stadt fahren und den Wochenmarkt besuchen?“, fragte sie mich eines Morgens, nachdem wir auf der Veranda gefrühstückt hatten. Da wir in den letzten Tagen – so wollte ich zumindest glauben – sämtliche Spazierwege um das Anwesen gemeinsam abgeschritten waren, kam mir die Idee, in die Stadt zu fahren, wie die Einladung zu einem großen Abenteuer vor. Viviane sah, wie begeistert ich von ihrem Vorschlag war und lächelte. „Wir räumen noch schnell den Tisch ab und dann geht es los, ja?“

Gegen zehn Uhr begann die Fahrt mit Grandmas altem Mercedes, den sie Laurent getauft hatte. Nach einigen Fehlzündungen, die Viviane mehrere Verwünschungen entlockten und mich herzhaft lachen ließen, sprang der Wagen endlich an und wir fuhren den Feldweg hinauf zu einer besser ausgebauten Straße.

„Auch wenn er mich gelegentlich zur Weißglut treibt, hänge ich an Laurent. Ich hoffe, du schämst dich nicht, dass wir mit so einer alten Karre unterwegs sind.“

„Ist in Ordnung“, versicherte ich Grandma. „Pubuh hat auch schon einige Jahre auf seinem Buckel und von ihm werde ich mich niemals trennen.“

„Ich wusste, dass du mich verstehst. Nur wirst du dich über dein Stofftier niemals so ärgern müssen, wie ich mich über Laurent. In den letzten Jahren lässt er mich manchmal ganz schön im Stich. Aber Freunde gehen eben durch dick und dünn.“

Ich nickte und für einen Moment fragte ich mich, ob auch Dad und Sam solch eine innige Freundschaft verband. Sie ließen es zumindest nicht zu, dass es zwischen ihnen noch einen Platz für mich oder jemand anderen gab.

Die Temperaturen lagen bereits bei 32 Grad Celsius, als wir in einer Seitenstraße anhielten, die direkt zum Marktplatz der Kleinstadt führte.

Viviane nahm einen großen Sonnenhut von der Rückbank des Wagens, setze ihn sich auf und fuhr mit den Fingerspitzen durch das lange, schneeweiße Haar.

„Wir müssen unbedingt zu Cindys Käseträumen. Dort gibt es den besten Hirtenkäse der Welt“, sagte Grandma, als die ersten Stände des Markts in Sicht kamen.

Auf dem gepflasterten Markplatz herrschte reges Treiben. Sämtliche Bewohner der Stadt schienen heute auf den Beinen zu sein und sehen zu wollen, was die Händler zum Verkauf bereithielten. Umrahmt von zahlreichen historisch aussehenden Gebäuden, die ihren angenehmen Schatten über den Platz warfen, schlenderten wir umher.

An den meisten Ständen, so verriet mir Grandma, gab es Lebensmittel oder Blumen zu kaufen, die von den Farmen außerhalb der Stadt stammten. Vor Cindys Käseträumen angelangt, reichte sie mir einen Zahnstocher mit einem großen Würfel Schafskäse daran. Ich probierte und verzog das Gesicht, während Viviane den Käse mit allen Sinnen zu genießen schien.

Sie kramte nach ihrer Geldbörse und sagte, sie werde etwas Käse mit nach Hause nehmen. Ich nickte und lies meinen Blick über den Platz streifen, während sich Viviane in der kleinen Schlange vor der Händlerin einordnete.

Mir fiel ein Stand auf, der lediglich mit einem breiten Holztisch ausgestattet war. Ein alter Mann mit Schirmmütze saß dahinter und rauchte eine Pfeife. Die Züge seines Gesichts waren durch die Mütze und den dichten, bis zum Hals reichenden Bart schwer zu erkennen. Seine Ware hatte der Mann auf dem Kopfsteinpflaster verteilt. Es waren Kunstdrucke bekannter Bilder, wie Van Goghs’ Nachtcafé oder Monets Seerosen.

Grandma musste noch einen Moment warten und so lief ich hinüber zu dem Alten und betrachtete die Kunstwerke aus der Nähe. Je länger ich die Bilder ansah, desto mehr beschlich mich das Gefühl, als wolle mir jedes einzelne ein Geheimnis verraten. Etwas, das niemand sonst wissen durfte.

Ich erinnerte mich, dass ich genauso empfunden hatte, als ich das Gemälde mit dem Mann in meinem Zimmer angeschaut hatte. Dieses Mal war das Gefühl jedoch nicht so stark, sondern eher vergleichbar mit dem leisen Echo einer Stimme. Lag es vielleicht daran, dass ich mir nur die Kunstdrucke und nicht die Originale ansah?

„Hinter jedem Bild steckt eine Geschichte. Und diese kennt eigentlich nur der Künstler selbst“, sagte jemand und riss mich aus meinen Gedanken. Der alte Mann stand vor mir und hatte offensichtlich meinen kritischen Blick, mit dem ich die Bilder musterte, bemerkt.

„Ich würde zu gerne wissen, warum die Bilder entstanden sind“, antwortete ich.

„Die Künstler wollen uns damit etwas erzählen. Nur soll es nicht jeder verstehen. Und sie möchten uns nicht die Möglichkeit nehmen, selbst nach einer Antwort zu suchen. Ein Bild ist wie ein Buch: Wir müssen zwischen den Zeilen lesen, um die Wahrheit dahinter zu erkennen.“ Der Alte zog genüsslich an seiner Pfeife und ließ den Rauch in kleinen Kringeln aus seinem Mund entweichen. Er trug den Duft von Vanille und Rosmarin mit sich.

„Aber woher sollen wir wissen, was die Wahrheit ist? Wäre es nicht einfacher, die Künstler zu fragen?“

Die Mundwinkel des Händlers verzogen sich und hinter seinem Bart war ein Lächeln zu vermuten. „Die meisten leben schon lange nicht mehr. Und glaub mir, falls sie es täten, würde dir niemand freiwillig die Antwort geben.“

Im Hintergrund hörte ich, wie mein Namen gerufen wurde. Ich verabschiedete mich von dem Mann und lief zurück zu Viviane, die mich zwischen den Menschenmassen nervös zu suchen begonnen hatte.

Erleichtert mich zu sehen, nahm sie mich an ihre Hand und wollte mit mir zu einem Stand gehen, der Obst verkaufte. Ich hätte ihr zu gerne die Kunstdrucke gezeigt, aber dann besann ich mich darauf, die Bilder lieber nicht zu erwähnen.

An den meisten Ständen gab es wie bei Cindys Käseträumen etwas zu probieren. Grandma reichte mir stets eine kleine Kostprobe von Speisen, die ich so nicht kannte. Von eingelegtem Obst und Gemüse bis hin zu Marmelade aus der Kombination verschiedener Früchte oder Schokolade, die zuerst süß schmeckte und dann eine prickelnde Schärfe im Mund entfaltete, gab es für mich einiges zu entdecken. Die Zeit verstrich rasend schnell und als die ersten Händler damit beschäftigt waren, ihre übrig gebliebenen Waren wieder in den Transportwägen zu verstauen, schlug Viviane vor, zurück nach Hause zu fahren.

Ich fragte, ob wir in den nächsten Wochen noch einmal herkommen würden und erfreut darüber, wie viel Spaß mir der Besuch des Wochenmarkts bereitet hatte, versprach Grandma es mir.

Wir liefen zurück zu Laurent und ich bemerkte beim Verlassen des Marktplatzes, dass der alte Mann seinen Stand bereits abgebaut hatte und gegangen war.

Kurz bevor wir den Wagen erreichten, blieb Grandma wie angewurzelt stehen. Aus der anderen Richtung kamen uns drei Frauen entgegen. Sie mussten etwa in dem gleichen Alter wie Viviane sein. Ich bemerkte, dass sie zu tuscheln begannen und unsicher zu uns herüber sahen.

„Grandma, wer sind diese Frauen?“, fragte ich, aber Viviane reagierte nicht.

Einen Augenblick verharrten die drei noch, dann gingen sie entschlossen weiter, so als sei nichts geschehen.

„Wenn das nicht Viviane Murphy ist! Welch Überraschung der Tag bereithält, nicht wahr?“, sagte die Mittlere der drei. Die Worte klangen herablassend und beinahe wie eine Beleidigung.

Die Mittlere trug ein hellblaues, ärmelloses Kleid und an ihren langen Hals schmiegte sich eine Perlenkette. Ihre braunen Haare hatte sie zu einem biederen Dutt hochgesteckt.

Die Frau und ihre beiden Freundinnen kamen mir wie die Inkarnation der Spießigkeit vor. Ich schaute zu Grandma und in ihren Augen erkannte ich, wie unerfreut sie über das Treffen war.

„In der Tat, Gwen“, erwiderte Viviane nach einem Augeblick.

„Ich nehme an, der Kleine ist dein Enkel?“ Gwen bedachte mich mit einem strengen Blick.

„Das ist Colby, der Sohn meiner Tochter Colette. Er verbringt die Sommerferien bei mir.“ In Vivianes Stimme war der Stolz zu hören, den sie darüber empfand, mich den drei Frauen vorzustellen. Überrascht hierüber, lief mein Gesicht rot an.

„Wir haben dich hier eine Weile nicht mehr gesehen“, sagte Gwens Freundin, deren kurze graue Haare den Blick auf die Saphire in ihren Ohrläppchen Preis gaben.

„Insgeheim haben wir uns schon gefragt, ob du nicht vielleicht wieder auf Reisen gegangen bist“, fügte die letzte des Trios, eine Rothaarige, hinzu.

„Ja“, sagte Gwen und kicherte aufgesetzt „oder ob du dich an den Mann einer anderen herangemacht und mit ihm durchgebrannt bist. Die Katze lässt schließlich das Mausen nicht, was?“

Vivianes Hände zitterten und ihr Mund bebte vor aufkeimender Wut. Die drei Freundinnen warfen Grandma einen missbilligenden Blick zu.

„Colby, lass uns gehen“, sagte Grandma mit ruhiger Stimme. Und ohne ein weiteres Wort ließen wir Gwen und ihre Freundinnen hinter uns zurück. Viviane suchte in ihrer Tasche nach den Autoschlüsseln, aber ich blickte noch einmal hinter mich und sah zu, wie die drei in Richtung des Marktplatzes verschwanden. Sie steckten ihre Köpfe zusammen und tuschelten aufgeregt.

Während der Fahrt nach Hause unterhielten Viviane und ich uns über meine Eindrücke des Wochenmarkts, aber während ich ihr erzählte, was mir besonders gefallen hatte, merkte ich, dass Grandma mir nur halbherzig zuhörte.

Ich hätte zu gerne erfahren, weshalb die Frauen so unfreundlich zu ihr waren. Aber mein Gefühl riet mir, Viviane nicht darauf anzusprechen. Zumindest noch nicht.

Das Echo der Verstorbenen

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