Читать книгу Das Echo der Verstorbenen - Patrick Kruß - Страница 19

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Das Zentrum des Sturms war über hundert Kilometer entfernt gewesen und dennoch hatte das Unwetter beträchtliche Schäden verursacht. Im Gebiet um den See waren vor allem kleinere Bäume umgeknickt; die größeren hatten zahlreiche Äste verloren und den darunter liegenden Weg in einen Hindernisparcours verwandelt. Nervös traten Viviane und ich am Morgen aus dem Haus, um zu sehen, wie der Sturm das Grundstück zugerichtet hatte. Im Bereich vor der Veranda lagen die Splitter zerbrochener Ziegel. Etwa ein Zehntel des Daches musste neu gedeckt werden. Noch bevor wir frühstückten, half ich Viviane dabei, die Ziegelstücke zusammen zu kehren und einige Äste, die den Einfahrtsbereich des Grundstücks blockierten, zur Seite zu räumen.

Mit kritischem Blick betrachtete Grandma das Dach. „So etwas nennt sich wohl Glück im Unglück. Ich möchte mir nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn wir uns im Auge des Sturms befunden hätten.“

In den Nachrichten waren Bilder von überfluteten Straßen zu sehen, auf denen die Autos wie ankerlose Boote im braunen Wasser umher trieben. Die offenen Dachstühle erweckten den Eindruck, als wäre ihre Deckung mit einem kräftigen Ruck komplett abgerissen worden. Ein spärliches Gerippe aus Holzpfosten bildete die einzigen Überreste der Dächer und erinnerte an das Ende eines Festmahls, bei dem nur noch die Knochen der verspeisten Beute übrig blieben.

Das Atelier dagegen hatte dem Unwetter getrotzt und außer ein paar durchgebrochenen Holzleisten, die nun einem wilden Mikado gleich auf dem Rasen lagen, keine Schäden genommen. Viviane lächelte erleichtert und schien die Stabilität des Schuppens kaum für möglich zu halten. „Manche Dinge sind zäher als wir glauben“, kommentierte sie den Zustand.

Die Blumenkübel und Korbstühle aus dem Garten hatte Viviane vor Beginn des Sturms in den Keller geräumt. Gemeinsamen trugen wir sie wieder nach draußen.

Das Thermometer zeigte gerade noch 15 Grad an. Die Hitze der letzten Wochen schien aus einer längst vergangenen Zeit zu stammen. Die Luft war im Vergleich zur Nacht kaum wärmer geworden. Ein schwacher, eisiger Wind wehte und ich zog den Reisverschluss meiner Jacke nach oben.

Wir blickten beide zum See, dessen Oberfläche genauso grau und undurchdringlich wie die sich am Himmel auftürmende Wolkendecke war. Verglichen mit dem Tag meiner Ankunft wirkte der See nun düster und bedrohlich.

Mein Magen begann zu knurren und Grandma schlug – amüsiert über das laute Geräusch – vor, das Frühstück nachzuholen. Wir setzten uns an den Tisch in der Küche und ich aß innerhalb von zehn Minuten zwei große Scheiben Toast mit Schinken und Käse. Viviane begnügte sich mit einer Schale voll Müsli, das sie mit etwas Joghurt vermengte.

„Hast du etwas schlimmes geträumt?“, fragte sie mich, während ich den letzten Bissen Toast nahm.

„Ich hatte einen eigenartigen Traum, aber das Ende war schön.“

„Du hast meinen Namen im Schlaf mehrmals geflüstert“, gestand Grandma und sah dabei fast etwas schüchtern aus.

„Keine Sorge, es geht mir gut“, behauptete ich.

„Wirklich? Ich würde es verstehen, wenn du nach wie vor Angst vor den Dingen hast, die ich dir gestern gestanden habe.“

„Nein, keine Angst, ganz sicher.“ Und das war die Wahrheit. Vielleicht lag es an meinem Traum, aber so lange ich bei Grandma sein konnte, fühlte ich mich geborgen.

„Du hast gesagt, du bringst mir bei, wie ich meine Fähigkeit kontrollieren kann“, erinnerte ich Viviane und sie schien über meinen Tatendrang sichtlich überrascht.

„Das werde ich, Colby“, bestätigte sie ihr Versprechen.

„Dann lass uns gleich damit beginnen. Befindet sich hier in der Nähe irgendwo ein Geist?“

Grandmas Blick wanderte für einen Moment ins Wohnzimmer. Dann schlug sie mir vor, dort schon einmal Platz zu nehmen. Da sie meine Frage nicht direkt beantwortet hatte, rechnete ich fest damit, dass sich in ihrem Haus tatsächlich ein Geist befand und sie seine Anwesenheit spüren konnte.

Ich musste eine ganze Weile warten, bis Viviane endlich zu mir kam. Ich hätte zu gerne erfahren, für was sie so lange gebraucht hatte. Unter ihrem Arm hielt sie ein Bild, das sie auf den Holztisch vor uns legte. Ich erkannte es sofort, es hing sonst in meinem Zimmer und zeigte den Mann mit der Ballonmütze.

„Die ersten Tage kurz nach meiner Ankunft hatte ich das Gefühl, er würde mich beobachten“, sagte ich aufgeregt und deutete auf den Mann. Vivianes Augen weiteten sich, dann stimmte sie mir zu.

„Was du verspürt hast, war die Anwesenheit eines Verstorbenen. Die Präsenz des Geistes geht von diesem Bild aus. Ich habe es gemalt, als ich einige Wochen in der Normandie in Frankreich verbracht habe. Das ist jetzt inzwischen viele Jahre her.“

Über Grandmas Gesicht huschte ein Lächeln und ich vermutete, dass die Erinnerungen an ihre Reise sie heimsuchten.

„Weshalb ist er hier? Konntest du ihm bisher noch nicht helfen?“

Viviane sah zu Boden. „Er ist…nun…“ Ich spürte, dass Grandma damit rang, mir etwas Wichtiges zu sagen. Wieso zögerte sie?

„Er ist meinetwegen hier“, gestand sie.

In meinem Gesicht konnte Viviane die Irritation lesen, die mich beschlich.

„Hast du ihm etwas angetan?“, fragte ich vorsichtig. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Grandma tatsächlich irgendjemanden verletzen oder übel mitspielen würde. Und dennoch fiel mir kein anderer plausibler Grund ein.

Vivianes Augen glänzten. „Der Mann auf dem Bild…er stammt aus dem Ort, in dem wir den Wochenmarkt besucht haben. Sein Name ist Vincent. Als ich damals nach Frankreich ging…sagen wir, ich war sehr froh darüber, diese Reise unternehmen zu können. Ich habe niemandem erzählt, wohin ich genau gehe, denn ich wusste es selbst nicht einmal. Kurz nach meiner Ankunft in Frankreich hatte es mich in ein wunderschönes Fischerdorf in der Normandie verschlagen. Ich habe in einer Gaststätte mit dem Namen La sirène gearbeitet und in einem Fremdenzimmer darüber gewohnt. Die meisten Gäste waren Schiffsleute, in ihrer Art etwas rau, aber liebenswert und ehrlich. Ich habe mich sehr gut mit ihnen verstanden.

Die Abende und meine freien Tage habe ich stets in einer einsamen Bucht verbracht. Der Sand war fast schneeweiß und das Wasser schimmerte in dem wunderschönsten Blau, das ich jemals gesehen habe. Für meine Bilder gab es damals keine größere Inspiration als das Meer und die Sonnenuntergänge. Zu sehen, wie die Sonne an der scheinbaren Grenze zwischen Firmament und Ozean versank und die Wasseroberfläche und den Himmel golden und kupferrot färbte, hatte etwas magisches.

Dem Wirt der Gaststätte gefielen meine Bilder und er bot mir an, in einem Nebenzimmer, das er sonst für das Ausrichten von Feierlichkeiten der Dorfbewohner bereithielt, eine kleine Ausstellungsmöglichkeit einzurichten. Ich nahm seinen Vorschlag dankend an und kam so zu meiner – sagen wir fast meiner – ersten Galerie. Glaub mir Colby, ich war dort sehr glücklich, auch wenn es nicht mein Zuhause war und mein Herz mich jeden Tag daran erinnerte.

Jedenfalls geschah es in der letzten Juliwoche, als ich in dem Ausstellungsraum war und einige neue Bilder auf hing. Ein Mann betrat die Gaststätte und erkundigte sich nach mir. Es war Vincent. Er sucht nach mir und hatte mich nach etlichen Wochen endlich gefunden. Ob es Zufall, Glück oder Schicksal war, weiß ich nicht. Jedenfalls stand er mir plötzlich gegenüber. Er sagte, er würde hier bei mir bleiben oder mir an jeden anderen Ort dieser Welt folgen. Es spiele für ihn keine Rolle, so lange er nur mit mir zusammen sein könne.“ Vivianes Stimme versagte und ihre Unterlippe begann zu zittern.

Ich nahm Grandmas Hand und drückte sie fest. „Ist er derjenige, bei dem dein Zuhause ist?“

„Ich habe ihn so geliebt, wie keinen Mann zuvor. Er war der Erste in meinem Leben, dem ich mein Herz schenkte.“

Auf einmal beschlich mich das Gefühl, als würden Grandma und ich beobachtet werden. Wir waren nicht alleine und doch konnte ich niemanden sehen.

„Ist…ist er jetzt bei uns?“, fragte ich.

„Ja.“ Viviane strich sich eine Träne aus dem Gesicht. „Colby, er ist immer bei mir. Vincent hat sofort bemerkt, dass du seine Gegenwart spüren kannst. Er hat mir zudem verraten, was du für Elizabeth getan hast.“

Mein Blick streifte das Bild auf dem Tisch. Ich sah, wie sich der Mann darauf zu mir umdrehte. Schnell schaute ich zu Grandma. „Ich glaube, er möchte mir etwas zeigen.“

„Lass es zu, Colby. Glaub mir, er liebt dich genauso, wie ich es tue.“

Mein Herz schlug schneller. „Ist…ist er…“ Ich brachte die Worte kaum hervor, denn ein Teil von mir wollte noch nicht wahrhaben, was ich vermutete.

Viviane lächelte. „Vincent ist dein Großvater.“

Das Echo der Verstorbenen

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