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Kino

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Das Multiplex-Kino lag in Grafenberg, einer größeren Ortschaft jenseits des Irrlacher Tals. Jonas’ Vater hatte sich bereit erklärt, den Chauffeur zu spielen. Nina und Felix waren schon zugestiegen, als das Auto vor dem Haus von Antons Eltern hielt. Im Dachgeschoss, wo sich Antons Zimmer befand, brannte Licht. Jonas kurbelte das Fenster herunter und drückte zweimal auf die Hupe.

»Anton! Beeil dich, wir kommen sonst zu spät«, rief er zum Dachfenster hinauf. Dort erschien kurz darauf Antons Gesicht.

»Bin sofort unten!«

Antons Stimme klang merkwürdig. Jonas hatte den Eindruck, dass Anton den Kinoabend völlig vergessen hatte. Das war ungewöhnlich, denn erstens war er der größte Filmfan der vier Freunde, und zweitens hatte er dem Film, den sie sich ausgesucht hatten, seit Wochen entgegengefiebert. Er hieß Am seidenen Faden und handelte von einem Geheimlabor, dessen Forscher zu grässlichen Spinnenwesen mutiert worden waren. Da der Film erst ab 16 freigegeben war, hatten sie ihren Eltern erzählt, sie würden sich einen Superheldenfilm ansehen. Die Tickets hatte Jonas vorsichtshalber mit einem Gutschein im Internet bestellt, und den Platzanweisern war es sowieso egal, wie alt sie waren.

Anton kam aus der Haustür gerannt und stieg ein. Er trug ein verwaschenes T-Shirt, das mit einem Gremlin-Monster aus dem gleichnamigen Film bedruckt war. Seine Sammlung von Film-T-Shirts war so groß, dass er einen ganzen Monat auskam, ohne zweimal dasselbe T-Shirt zu tragen. Jonas’ Vater fuhr los. Normalerweise plapperte Anton auf dem Weg ins Kino unentwegt, schilderte den Filmtrailer, den er sich mindestens zwanzig Mal angesehen hatte, bis ins kleinste Detail und zählte die Filme auf, die der Regisseur bis dato gedreht hatte. Doch diesmal blickte er gedankenverloren aus dem Fenster.

»Na, freust du dich schon auf Beastman 2«, wollte Jonas’ Vater wissen.

»Wieso Beastman?«, fragte Anton abwesend. Ein Stoß in die Rippen von seiner Sitznachbarin Nina erinnerte ihn daran, dass sie ja vortäuschten, sich den Superheldenfilm anzusehen.

»Ach so, klar, ich freue mich riesig darauf.« Einen Moment lang sah er aus dem Fenster, dann wandte er sich wieder an Jonas’ Vater. »Sagen Sie mal, Herr Wagner, wissen Sie, was sich hinter dem Maschendrahtzaun im Wald verbirgt?«

Herr Wagner dachte einen Moment lang nach. »Ich glaube, das Areal war früher mal eine Giftmülldeponie. So stand es jedenfalls damals in der Zeitung, falls ich mich recht entsinne.«

»Haben Sie den Artikel noch?«, fragte Anton.

»Nein, das ist Jahre her. Das war, kurz nachdem ihr auf die Welt kamt.«

Anton ließ nicht locker und bohrte weiter nach. »Und was für Giftmüll soll das gewesen sein?«

»Oh, das kann ich dir nicht mehr sagen. Schwermetall vielleicht?«

Anton schwieg den Rest der Fahrt.

Der Wagen hielt vor dem Kinokomplex, und Jonas, Anton, Nina und Felix stiegen aus. Sie betraten das Foyer, und der vertraute Geruch von Butter und Popcorn schlug ihnen entgegen. Da es Samstagabend war, hatten sich lange Schlangen vor den Ticketschaltern und der Snackbar gebildet. Während Nina und Anton Popcorn und Cola besorgten, stellte Jonas sich mit Felix an einem der Ticketautomaten an. Vor ihnen lösten gerade drei Mädchen ihre Eintrittskarten.

»Was ist bloß mit Anton los?«, fragte Jonas Felix. »Normalerweise quatscht er vor jedem Film ohne Punkt und Komma. Heute scheint er total abwesend zu sein.«

»Das ist mir auch aufgefallen«, sagte Felix und fuhr sich mit der Hand durch seine Igelfrisur. »Seit wir die Festnahme am Zombiepark beobachtet haben, verhält er sich echt merkwürdig.«

Der Automat spuckte die Tickets aus, und die Mädchen drehten sich um. »Hallo Jonas«, sagte eine von ihnen. »Was seht ihr euch an?«

Sie hatte kastanienbraune Haare und Sommersprossen. Das schönste Mädchen der ganzen Schule. Jonas blickte sie an, und sein Herzschlag setzte einen Moment lang aus.

»Äh … Am seidenen Faden«, murmelte er.

»Cool. Wir haben Tickets für Beastman 2. Ich muss los. Wir sehen uns in der Schule!«

Damit drehte sie sich um und verschwand mit ihren Freundinnen in der Menge.

»Wie gesagt«, fuhr Felix fort. »Anton verhält sich total merkwürdig. So abwesend und gedankenverloren. Hast du deine Geheimzahl vergessen?«

Jonas stand mit ausgestreckter Hand vor dem Ticketautomaten und wusste nicht mehr genau, was er als Nächstes tun wollte. Felix tippte ihm auf die Schulter.

»Hallo, Erde an Jonas.«

»Äh … Ja. Klar.«

Er tippte die Geheimzahl über den Touchscreen ein, und der Automat druckte die vier Eintrittskarten für Am seidenen Faden aus.

»Vielleicht ist das, was Anton hat, ansteckend. Du scheinst jedenfalls auch nicht mehr voll und ganz geistig anwesend zu sein«, scherzte Felix.

Jonas drehte sich zu ihm und konnte gar nicht anders, als zu grinsen. »Sie weiß meinen Namen!«, stammelte er.

»Wer?«, fragte Felix.

»Alina. Alina Sommer.«

Felix kam immer noch nicht mit. »Hä?«

»Sie hat mit mir geredet, und sie weiß meinen Namen.«

Nina und Anton stießen, mit Popcorn und Cola beladen, zu ihnen. »Habt ihr die Tickets?«, fragte Nina.

»Ja«, sagte Felix. »Aber leider hat Jonas einen Hirnschlag erlitten, denn er faselt wirres Zeug.«

Jonas überhörte Felix’ Kommentar. »Sie hat gesagt, es ist ›cool‹, dass ich mir Am seidenen Faden ansehe. Und dann hat sie gesagt ›Wir sehen uns in der Schule‹.«

Nina kratze sich am Kinn. »Oh, es ist schlimmer als ein Hirnschlag«, lautete ihre Diagnose. »Ich fürchte, Jonas ist verknallt.«

Jetzt erst ging Felix ein Licht auf. »Ach so.«

Nina ließ ihren Blick durchs Foyer schweifen und entdeckte die drei Mädchen, die sich gerade in Richtung eines der Kinosäle von ihnen entfernten.

»Lass mich raten«, meinte Nina. »Ein schwerwiegender Fall von Alina Sommer?«

»So ist es«, antwortete Felix.

»Na ja, wenigstens hat er Geschmack … Hey Jonas, jemand zu Hause?«

Jonas dachte an Alinas Sommersprossen und nahm die Unterhaltung seiner Freunde wie in Trance wahr. Erst als Nina mehrmals vor seinem Gesicht mit dem Finger schnippte, kam er wieder zu sich.

»Nimm mal das Grinsen aus deinem Gesicht und komm mit. Der Film fängt gleich an.«

Jetzt erst wurde Jonas bewusst, wie dämlich er vermutlich gerade dreinschaute. Er warf einen letzten Blick in die Richtung, in die Alina verschwunden war, und folgte Felix und Nina in den Kinosaal. Anton, der neben ihm ging, sagte kein Wort.

Der Werbeblock war gerade zu Ende, als die vier in der Mitte der hinteren Reihe ihre Plätze einnahmen. Das Licht ging aus, der Film fing an, und die Blicke der Zuschauer hefteten sich gebannt auf die Leinwand, auf der ein Wissenschaftler von einer furchterregenden Kreatur gejagt wurde. Trotz der spannenden Szene konnte Jonas dem Film nicht folgen. Er spielte in Gedanken immer wieder die Begegnung mit Alina durch und analysierte jedes Wort bis ins kleinste Detail. Noch immer konnte er nicht fassen, dass das tollste Mädchen der Schule ausgerechnet mit ihm gesprochen hatte.

Gedankenverloren griff Jonas in den Popcorneimer zwischen ihm und Anton. Dabei fiel sein Blick auf Anton. Er hatte das Popcorn nicht angerührt. Jonas schien nicht der Einzige zu sein, der nicht bei der Sache war. Normalerweise gehörten Popcorn und Horrorfilme für Anton einfach zusammen. Doch jetzt saß er stocksteif da und starrte auf die Leinwand, scheinbar ohne etwas von der Handlung wahrzunehmen. Es war fast ein bisschen unheimlich. Jonas hatte zwar keine Ahnung, was in Antons Kopf vorging, aber er vermutete, dass kein Mädchen für diesen Zustand verantwortlich war.

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