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Junge Dichter

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Unser Meister war verschwunden. Alle Gemüter im ganzen Hause waren stark erregt. Die Leute tuschelten einander sonderbare Geschichten zu. Eine alte Marketenderin, die ein Stück unseres Holzschoppens gemietet und darin einen Kaffeeschank für die Soldaten der nahen Kaserne errichtet hatte, wollte mit aller Bestimmtheit wissen, dass der Teufel den Meister geholt habe. Das sei immer so bei den Freimaurern. Eines Tages seine sie fort; man wisse ganz gut wohin. Wenn sie daran denke, dass dieser hübsche Mann im höllischen Feuer büßen müsse, so möchte sie immerfort weinen. Wer habe ihn aber auch geheißen, unter die Freimaurer zu gehen! Der Schneidermeister erklärte, es sei richtig, dass unser Meister vom Teufel geholt worden. Doch er meinte den Schuldenteufel.

Droben am Fenster des Wohnzimmers saß Cäcilie, die Köchin, und weinte. Zuweilen blickte sie nach dem Fenster der Werkstatt über den Hofraum, wie sie es seit Jahren so gewohnt war. Aber sie tat es nicht mehr in der Absicht, uns durch ihre Blicke zum Fleiß aufzumuntern. Ihre Augen waren dunkel umrandet von vielen Weinen, und wir kamen allmählich zu der Ansicht, dass sie Gewissensbisse empfinde und uns um Verzeihung bitten möchte für das viele Unrecht, das sie an uns begangen.

O, sie war falsch und schlecht gewesen zu uns Lehrjungen! Wir erinnerten uns jetzt daran, wie sie uns behandelt hatte, so oft der Meister in Geschäften ausgegangen oder verreist war. Für zwei von uns hatte sie dann beständig Arbeit gehabt. Wir mussten Kartoffeln schälen, den Ofen heizen, Kohlen aus Keller holen, Wasser tragen, zum Krämer gehen und Nachrichten zu ihrer Mutter bringen, die in der Vorstadt wohnte. Unterdessen spielte sie mit dem Dienstmädchen Karten. Mit ihrem Dienste beschäftigt, versäumten wir unsere Arbeiten in die Werkstatt, und wenn dann der Meister zornig wurde und uns schwere Nachtarbeiten zur Strafe auftrug, duften wir uns nicht einmal verteidigen. Er glaubte stets nur den Worten Cäciliens; uns hielt er für Lügner und Faulenzer. Cäcilie aber log ihm jedes Mal vor, sie hätte uns höchstens fünf Minuten lang in Anspruch genommen. Wir seien eben – schrie sie dann zum Fenster herab – eine stinkträge Bande; wir müssten geprügelt werden und dürften drei Tage lang nicht zu essen kriegen. Den Gehorsam durften wir ihr nicht versagen; das litt der Meister nicht. Eine Widersetzlichkeit gegen Cäcilie bestrafte er viel strenger, als eine Nichtachtung seiner eigenen Befehle.

Jetzt freuten wir uns über ihr Unglück, spotteten ihrer und wünschten, dass sie als Köchin in einem Hause Dienst fände, wo sie ebenso schlecht behandelt werden möge, wie wir von ihr behandelt worden… Die Arme! Sie hatte Ursache, sich der Trauer hinzugeben. Die Hoffnung, dass der Meister sie heiraten werde, war zerschlagen. Ach, und die Schmach! Wusste sie doch, dass die Menschen jetzt mit Finger auf sie zeigen würden. Die Marketenderin sagte uns vertraulich, dass der Vogel mit den langen Beinen schon unterwegs sei; nach ihrer Schätzung könne er bereits in wenigen Wochen bei der Cäcilie eintreffen. Der Meister war Montagabends fort gegangen, angeblich in die Loge, und nicht zurückgekehrt. Acht Tage war das schon her. In den ersten Tagen war Cäcilie der Meinung gewesen, er habe als Freimaurer von Loge einen geheimen Reiseauftrag erhalten; dann aber hatten ihr einige Logenbrüder bestimmt erklärt, dass dieser Glaube falsch sei. Am Ende der Woche war sie durch Zufall zu der Entdeckung gelangt, dass er aus dem Schreibtisch alles Geld und alle wichtigen Papiere mitgenommen, und nun glaubte sie, er sie ins Ausland entflohen.

In der Werkstatt ging bunt und toll zu. Von den fünf Gesellen hatten sich drei entfernt; nur der lange Lorenz und der polnische Lukas waren zurückgeblieben. Diese beiden saßen auf ihren Hobelbänken, tranken „Gemischten“ und fluchten auf den verschwundenen Meister. Der lange Lorenz, der gern und mit Stolz in den Erinnerungen einer herrlichen Vergangenheit schwelgte, erzählte wieder einmal allerlei Bruchstücke aus seiner reichen Lebensgeschichte und zog dabei Vergleiche zwischen sich und dem Meister. Er sei ein berühmter Fabrikbesitzer und ein großer Kapitalist gewesen; mit Champagner und Rotwein habe er ein gewaltiges Vermögen fortgeschwemmt; in der Equipage sei er gefahren; sieben Wohnungen und sieben Weiber habe er gehabt, ohne die übrigen Liebsten, und zuletzt sei er fechten gegangen. Für seine Arbeiter und Gesellen aber habe er gesorgt, bis letzten Augenblick. Tief in den Rachen hinein würde er sich schämen, wenn er damals beim großen Krach feige fortgelaufen wäre und seine Leute in Stich gelassen hätte. So etwas bringe nur ein ganz gemeiner Lump fertig.

Der polnische Lukas hörte nicht zu, wenn der lange Lorenz erzählte; er beschäftigte sich nur mit sich selbst, schüttelte den Kopf und knirschte hörbar mit seinem schneeweißen Zähnen. Ab und zu hieb er in raschen und kurzen Wutanfällen mit dem Hammer auf die Hobelbank. Am sechsten oder siebenten Tage nach dem Verschwinden des Meisters wurde er plötzlich so wütend, dass er den Hammer ergriff und das kunstvoll zusammengefügte Gestell eines Zimmerspringbrunnens, das er mühsam gebaut hatte, in kleine Stücke zerschlug. „Psiakrew, die Bestie!“ schrie er. „Krieg’ ich noch nix bezahlt! Soll sich holen Diable ganze verfluchtige Arbeit!“

Uns Lehrjungen behagte das alles. Wir hatten die uns aufgetragenen Arbeiten vollendet; nun konnte wir mit ruhigem Gewissen müßig gehen. Cäcilie kümmerte sich wenig um uns; nur wenn sie eines Dieners oder Boten bedurfte, ließ sie einen von uns durch das Dienstmädchen rufen. Sie kochte das Essen, wie sie es sonst getan hatte, und wir bekamen auch unsern Vesperkaffee. Bei Tisch konnten wir uns jetzt nach Belieben satt essen. Das war früher nicht immer möglich gewesen. Die Sitte gebot, dass ein Lehrling nicht öfter als zweimal während des Mittagessens seine Teller aus der Schüssel füllen durfte. War einer beim Füllen des Tellers zufällig von Meister oder von Fräulein Cäcilie angeblickt worden, so hatte ein solcher Blick lähmend eingewirkt auf die Hand des Jungen, und dieser war dann mit ungestillter Esslust vom Tische weggegangen. Das kam jetzt nicht mehr vor, da Fräulein Cäcilie aus Gram oder Scham dem Tische fern blieb, wir also unsere Teller bis an den Rand füllen konnten. Solches Leben gefiel uns, und die Frage, wie es einmal enden solle, machte uns keine Sorgen.

Um nicht den Blicken und die Kritik des langen Lorenz ausgesetzt zu sein, versteckten wir uns im Ofenwinkel der Werkstatt. Dort vertrieben wir uns die Langeweile durch dichterische Versuche. Wir waren Dichter geworden. Franz reimte ein Gedicht, in dem er seinen Stiefvater einen Geizkragen nannte und ihm prophezeite, dass er für jedes Zehnpfennigstück, das er ihm, dem guten Stiefsohne, auf Erden als Taschengeld vorenthalte, einst je ein halbes Jahr lang im Fegefeuer braten werde. Johann beklagte es in bitteren Versen, dass heutzutage dem Käseleim aus Billigkeitsgründen der Vorzug vor dem Kölner Leim gegeben werde. Ich dichtete ein Trauerspiel. Das sollte fünf Akte haben und den Titel führen: „Das vertauschte Kind.“

Wie wir zu Dichtern geworden waren?

Im Vorderhause befand sich eine große Wagenbauwerkstatt, und der Wagenbauer hatte einen erwachsenen Sohn, der sich uns Tischlerstiften gegenüber freundlich zeigte. Nach Feierabend durften wir manchmal zu ihm in die Werkstatt kommen; dort saßen wir auf Schemeln und Schnitzbänken und plauderten. Gern redete er von seiner Schwester, die mit einem Assessor verlobt war. Er erzählte uns, dass sie ein großes Glück machte. Der Herr Assessor sei der klügste Mann in der ganzen Stadt, und weil er so klug sei, dürfte er sogar den Herrn Staatsanwalt vertreten. Wie gelehrt er sei, gehe schon daraus hervor, dass er Schillers Werke besitze. Diese Werke habe er jetzt seiner Braut geliehen, damit die darin lese und gleichfalls die höhere Bildung erlerne.

Die Mitteilung, dass man aus Schillers Werken die höhere Bildung erlernen könne, fesselte mich mächtig, und der Assessor und seine Braut, die so überglücklich waren, aus diesem Urquell der Bildung schöpften zu können, erschienen mir wie höhere Wesen. Ich fragte unsern gütigen Freund, ob er wisse, was in Schillers Werken zu lesen stünde, oder ob er mir ungefähr sagen könne, wie sie äußerlich und innerlich beschaffen seien. Er gab zur Antwort: „Es sind Bücher, wie alle andern Bücher; aber was darin steht, da können wir uns alle gar keinen Begriff davon machen. Wer Schillers Werke gelesen hat, weiß alles – kurzum alles! Da steht alles drin, was die klügsten Menschen wissen müssen. Wenn einer etwas nicht weiß, braucht er bloß in Schillers Werken zu suchen, und er findet es.“

„Das ist wohl aber schwer zu verstehen?“ fragte Johann.

„Für uns ist es nichts!“ sagte kopfschüttelnd der junge Wagenbauer. „Meine Schwester ist in der Klosterschule gewesen; dort hat sie verdammt viel gelernt. Wenn das nicht wäre, verstände sie kein Wort davon. Es ist auch vieles lateinisch und in andern Sprachen.“

Ich wusste, dass Schiller ein Dichter war, hatte jedoch noch keine nähere Kunde über ihn vernommen und noch kein Wort von ihm gelesen; auch war mir unbekannt, wo und in welcher Zeit er gelebt. Ich konnte mir kein Bild von dem menschliche Wesen und den Werken des Dichters machen; doch ich hegte die dunkle Vorstellung, dass er ein Mensch gewesen, der mit seinem Geiste über die höchsten Grenzen des menschlichen Wissens hinausragte und wohl gar in Beziehungen stand zu weisen, übernatürlichen Mächten. Er erschien mir wie das größte und verehrungswürdigste Geheimnis, und ich hätte vielleicht meine Geistigkeit hingegeben, um dafür einen Blick in seine Bücher tun zu dürfen und im Fluge einige der Worte zu erhaschen, die geeignet waren, mir den Weg zur höchsten Bildung zu weisen. Zaghaft verriet ich dem Bruder der glücklichen Braut meine Sehnsucht. Er aber sagte, die Bücher seien so wertvoll, dass die sorgsam gehütet werden müssten. Schiller lag mir fortan im Sinn, und wenn die Braut sich oben am Fenster blicken ließ oder über den Hof ging, betrachtete ich sie mit scheuen Blicken der Andacht. Sie las ja jeden Tag in Schillers Büchern; somit war ich überzeugt, dass ihr alle Weisheit dieser Welt kund und offenbar war. Deutlich sah ich ihr an, dass sie ein unendliches Wissen und die allerfeinste Bildung besaß. Sie fühlte sich auch so erhaben über uns alle, dass sie nicht einmal dankte, wenn wir sie grüßten. Johann behauptete, sie sei die dümmste Gans in der ganzen Stadt und bilde sich einen großen Fetzen ein, weil sie einen Assessor heirate. Er würde sie nicht zur Frau mögen, auch wenn sie hunderttausend Taler hätte; denn sie habe das Gesicht einer Schleiereule. Mich empörten solche Worte gewaltig; sie berührten mich wie eine freche Entweihung einer geheilten Erscheinung, und es kam deshalb zwischen Johann und mir zu bösen Auftritten, bei denen wir uns gegenseitig schmerzhaft an den Haaren zerrten. Ich wusste besser als er, wie das Fräulein zu solchen Stolze kam. Wer Schillers Bücher gelesen hatte, war ebenso über alle Maßen klug, dass er unmöglich noch auf dumme Menschen unseres Schlages achten konnte.

Eines Abends ärgerte mich der junge Wagenbauer. Wir betrachteten gemeinsam ein Bild der Stadt Paris, das ein Gesell an die Wand geklebt hatte, und ich äußerte dabei, es sei aus der Vogelperspektive aufgenommen worden. Das merkwürdige Wort hatte ich zuweilen unter Städtebildern gelesen, doch nicht klar im Gedächtnis behalten und so es jetzt falsch zum Vorschein gekommen. Das belustigte den älteren und klügeren Freund, und er verhöhnte mich so arg, dass ich tief gekränkt und weinend in ohnmächtigen Zorn davonlief. Nach einer Weile kam er in unsere Werkstatt und entschuldigte sich. Ich solle kein Narr sein und mich einer solchen Kleinigkeit wegen nicht ärgern. Als er siebzehn Jahre gewesen, habe er das Wort Vogelperspektive auch noch nicht aussprechen können. Er befand sich in so guter Laune, dass ich den Mut fasste, ihn noch einmal zu bitten, mir doch einen Band aus Schillers Werken zu zeigen. Wider mein Erwarten willigte er nach einigem Sträuben ein. „Aber nur zeigen“ sprach er und ging hinauf in seine Wohnung.

Bis in den Hof folgte ich ihm und wartete dort. Gewaltsam suchte ich die innere Erregung zu dämpfen, in dem ich an gleichgültige Dinge dachte und schließlich die Sterne zu zählen begann, die auf der schmalen Himmelsfläche über unserem Hofe inmitten hoher Mauern funkelten. Dabei lastete ein schweres dumpfes, unverstandenes Empfinden auf meiner Seele, das fast beängstigend wirkte. Ich empfand unklar, dass etwas Erhabenes, Mächtiges, Hochherrliches an mich herantrete würde, dem gegenüber ich mich winzig klein und unwürdig fühlte. Eine weitere Ursache meiner fieberhaften inneren Unruhe war wohl der aufrührerische Gedanke, dass mir nun plötzlich ein Werkzeug in die Hand gegeben werden sollte, dessen Hilfe mich schnell in einen gebildeten, wissenden Menschen verwandeln könnte. In mir lebte die unbestimmte Vermutung, es handle sich um geheime Bücher, die nur bevorzugte und glückliche Menschen manchmal erlangen, und als beginge der junge Wagenbauer einen schlimmen Verrat, in dem er mir heimlich Einblick in eines dieser Bücher gewährte.

Als er nach einer kurzen Weile mit einem Buche in der Hand auf mich zutrat, wurde mein ganzer Körper von der heftigsten Erregung erfasst. Mit bebenden Fingern griff ich danach – nach einem Buche von Schiller…

„Du sieht ja nichts zum Lesen!“ sprach er.

Richtig! Johann und Franz hatten das Licht ausgelöscht und waren auf den Boden zu Bett gegangen.

„Lassen Sie mir’s bis morgen früh!“ bat ich herzlich und dringend. „Sobald Sie in die Werkstatt kommen, bring ich’s Ihnen zurück.“

Er war einverstanden, befahl mir jedoch ernstlich, das treu zu hüten und noch vor dem Frühstück zurückzugeben. Seine Schwester dürfte nicht wissen, dass er es verliehen habe.

Ich dankte, wünschte ihm eine gute Nacht und begab mich in die finstere Werkstatt. Hurtig verdeckt ich die kleinen Fenster mit Brettern, damit von draußen kein Lichtschein wahrgenommen werden könne; dann zündete ich eine Lampe an, schob sie unter die Hobelbank und umstellte sie von zwei Seiten mit Holzwerk, um dem Lichtschein so den Ausweg zu versperren. Mit hochgespannter Erwartung kroch ich unter die Bank zum Lichte und schlug das Buch auf. Ich blätterte darin und sah, dass es Gedicht und Theaterstücke enthielt. Im ersten Augenblick war ich ein wenig enttäuscht. Was ich erwartet hatte, weiß ich nicht; auf Wunder und Offenbarungen irgendwelcher Art mag ich wohl gefasst und auf den Augenblick gespannt gewesen sein, in dem ich das erste Zeichen von Bildung in mir verspüren würde. Das war aber ein rasch gekommenes und rasch verschwindendes Gefühl; es schien erstorben, als ich die ersten Sätze gelesen hatte. Entschlossen, das ganze Buch sogleich auszulesen, begann ich ganz vorn und versenkte mich mit schwelgender Inbrunst in die Lebensgeschichte Schillers. Mit hungernder Gier sog ich die Zeilen ein und stürzte darauf in glühender Glückserwartung über die Gedichte her. „Hektors Abschied“, „Amalia“, „Eine Leichenphantasie“, - das waren Worte, wie ich sie nie vorher vernommen hatte, - Worte, die eine schauervolle Andachtsstimmung und ein Gemisch von Grauen, Todesbangen, Wehmut, Jubelrausch und Entzücken in mir wachriefen.

Immer weiter las ich, lernte „Laura“, „Die Kindesmörderin“, „Minna“, „Die Größe der Welt“ und den „Triumph der Liebe“ kennen, der für mein unersättliches Gemüt ein besonders großartiges Schwelgermahl bedeutete; oft aber hielt ich inne und blätterte zurück, um die Augen zu ergötzen an Versen, die mir immer wieder durch den Sinn klangen und manchmal so kräftig ertönten, dass sie mich im Genuss anderer Gedichte störten. Am ärgsten trieben es Verse, wie:

Nasse Schauer schauern fürchterlich

Durch sein gram geschmolzenes Gerippe,

Sein’ Silberhaare bäumten sich - -

und:

Josef, Josef! Auf entfernte Meilen

Folge dir Luisens Totenchor,

Und des Glockenturmes dumpfes Heulen

Schlage schrecklich mahnend an dein Ohr

und:

Tote Gruppen sind wir, wenn wir hassen,

Götter, wenn wir liebend uns umfassen.

Das waren – ich empfand es mit überzeugender Macht – Worte der Befreiung, der Erlösung; sie brachten meine Seele zur Raserei, bis sie hinaus wollte aus ihrem engen Körperhause, - hinaus zu den Menschen, um ihnen frohlockend zu künden, dass sie Götter seien, wenn sie einander nicht mehr hassten, sondern liebend umarmten. An Johann dacht ich, der oft niederträchtig zu mir gewesen und mir erst am Tage vorher zwei Eier gestohlen. Eine fremde Henne hatte sie in unseren Schuppen gelegt, und ich fand sie auf. Das eine schenkte ich ihm; er aber nahm beide und trank sie aus. Ähnliche böse Taten waren oft von ihm begangen worden. Nun aber sollte er hören aus meinem Munde, was Schiller sagt; er sollte sein Unrecht erkennen lernen, Reue empfinden, mich umfassen und mit mir ein Gott werden.

Der Körper, in dem sich in solcher Weise die verzückte Seele wild und wollüstig gebärdete und alle Seligkeiten kostete, lag unbeweglich unter der Hobelbank; einzig nur die Finger regten sich beim Umblättern der Seiten. Das „Lied an die Freude“ wirkte fast betäubend auf mich durch seine berauschende Liebesmacht. Ich las es ein zweites Mal, und Wort um Wort prägte sich mir ins Gedächtnis ein. Aus der „Zerstörung von Troja“ und „Dido“ las ich nur wenige Strophen. Ich fand mich nicht zurecht darin, und da die beiden langen Gedichte nicht von Schiller waren, wie ich aus der Vorbemerkung ersah, überschlug ich sie, um schneller vorwärts zu kommen. Bei den erzählenden Gedichten fesselten mich nicht so sehr die erzählten Vorgänge, als das prachtvolle Wortgepränge, und immer waren es nur einzelne Verse oder Strophen, die mich begeisterten. Mit süßem Behagen genoss ich die lyrischen Gedichte, und unter diesen war es namentlich das kleine „Punschlied“, das mich durch seine niedlichen, flott klingenden Verse entzückte. Den Sinn des Gedichtes verstand ich nicht; ich unternahm auch keinen Versuch, ihn zu enträtseln, da ich mein bestes Wohlgefallen an Takt und Reimklang fand. Anders war es bei dem Liede von der Glocke. Bei den ersten Strophen wiegte sich mein Gefühl im Takte und achtete viel mehr auf den Klang der Reime, als auf den Sinn der der Worte. Bald aber nahm mich dieser Sinn gefangen und hielt mich so fest, dass ich die Singweise, nach der ich zu lesen begonnen hatte, ganz vergaß und mit trunkener Seele nur die Bilder schaute, die da in hochherrlicher Schönheit hingezaubert waren. Der urmächtig schauervolle Aufruhr aller Seelengewalten, den einzelne Gedichte auf den ersten Blättern des Buches in mir erzeugt hatten, wiederholte sich nicht beim Liede von der Glocke. Viele Stellen zwar erschütterten mich; der klare Sturm der Freude jedoch, der durch das Gemüt brauste, wurde durch solche Trauer nicht gehemmt. Wieder und wieder schweißte der Blick über die prunkhaften Strophen hin, und binnen weniger Minuten war ich mit jeder einzelnen innig vertraut. Ich konnte die Augen schlissen und sah doch Wort für Wort, Zeichen für Zeichen stehen; ich konnte das Buch zuschlagen und ganze Teile des Gedichtes hersagen, ohne Fehler, ohne zu stocken.

O Johann, o Franz! Ihr sollt ein Wunder erleben!

Weite las ich – weiter! An den ungereimten Gedichten glitt ich rasch vorbei, - scheu, wie der Sünder am Kirchentor. Mir ahnte, dass in ihnen das Geheimnis der Bildung verborgen sei, und dass ich es vielleicht finden könnte, wenn ich mich in die Gedichte vertiefte; doch sie berührten mich fremd und seltsam. Ein Unbehagen kam über mich, wenn ich am Schlusse der Zeile keinem Reime begegnete, die Worte aber wirkten auf mich, wie ein wirres Geräusch von sinnlosen Lauten. Der Vers gewann für meine Empfindungen nur durch den Reim Bedeutung und Leben. In „Semele“ ließ ich die Reimlosigkeit gelten, da ich mir sagte, dass ein Theaterstück nicht gereimt zu sein brauche. Schon zweimal war ich im Theater gewesen, hatte den „Onkel in der Klemme“ und „Hasemanns Töchter“ gesehen, wusste daher in Theaterdingen Bescheid. Der Schluss in „Semele“ rührte mich zu Tränen. – Dann kamen die „Räuber“, die berühmten Räuber! Von diesen hatte ich schon gehört oder gelesen, doch erst aus der Vorrede erfahren, dass Schiller sie geschrieben. Wie mir ums Herz war, mag einem Menschen zumute sein, der in fremder Welt urplötzlich einem hoch verehrten Freunde begegnet, den er nun beglückt die Hände, den Mund und die ganze Seele darbietet.

Wie ich nur so ruhig unter der Hobelbank liegen bleiben konnte, während meine Innenkräfte in tollster Empörung wüteten und mit dem herrlichen Helden Karl Moor sich in heiligen Zorne auflehnten wider Gesetz und Sitte! Ja, so war die Welt – so schlecht, so verabscheuungswürdig, so falsch und so heuchlerisch! Der Edle, sagte ich mir, muss dulden und wird verkannt; der heimtückische Bösewicht gilt als guter Sohn, als braver, redlicher Mensch! Ach, und Amalia!… Eine Amalia zu besitzen, ihr schwingen, ihr glühende Liebesbriefe zu schreiben - - ich musste innehalten und an meine Jugendfreundin Marie denken. Mit den Augen des Geistes sah ich, wie sie auf der Wiese bei den Kühen saß und gebratene Äpfel aß, und wie aus dem Walde drei Tiger, vier Leoparden, fünf oder sechs Löwen und viele Wölfe auf sie zugestürzt kamen und sie zerfleischen wollten; ich sah, wie sie mir in die Arme sank, mich dankbar und feurig umschlang, und ich vernahm, wie sie mit ihrer Engelstimme sagte, dass sie nur mir angehören wolle, und dass ich der tapferste aller Ritter sei, und dass - - - o Schreck! Die Lampe ging aus. Noch viele Seiten waren die Räuber lang… Bei schwelend verglimmendem Lichte nahm die Umwälzung meiner Gefühlswelt ihren Fortgang. Bei den letzten Blättern glomm die Lampe nur do dürftig, dass ich alle Sehkraft anwenden musste, um die Buchstaben zu erkennen. Mühselig drang ich vorwärts, und nur dadurch, dass ich viele Sätze ungelesen ließ, erfuhr ich das Ende des Stückes und erreichte das Schlusswort: „Dem Manne kann geholfen werden.“

Lange noch blieb ich regungslos liegen, niedergedrückt von der Wucht der neuen Gewalten, die Besitz von mir ergriffen hatten. Ich bebte und bangte zwischen Wachen und Träumen, zwischen Verdammnis und unermesslicher Seligkeit. In ein Reich der Wunder und Herrlichkeiten, in ein Reich des Edelsinnes, des Heldentums und der Weisheit war ich geraten, von dem ich vorher nicht die leiseste Kund gehabt hatte – und zugleich war ich heimlich geworden in diesem Reiche. Doch aus seligen Genüssen schreckte mich empor der graue Gedanke, dass es Zeit sei, zurückzukehren in das öde, nüchterne Land, in dem der Meister, Fräulein Cäcilie, der lange Lorenz, der polnische Lukas und andere Tyrannen das Regiment führten. Der große Trost aber war mir beschieden, dass ich die kostbarsten Schätze meines neu entdeckten Wunderlandes mitnehmen und fest im Herzen tragen konnte.

Wie spät es wohl sein mochte? Wenn nur die Rathausuhr bald einmal schlüge! Während ich gelesen, mochte sie wohl oft geschlagen haben; doch ich hatte nicht auf sie gehört. Nun wollt ich hervor schlüpfen aus meinem engen Versteck unter der Hobelbank; aber ich konnte den Körper nicht bewegen. Er war starr geworden, ganz starr. Mit aller Anstrengung nur gelang es mir, die Arme zu rühren und dann die Beine. Schon eine leise Bewegung verursachte Schmerzen, besonders in den Schultern und im Rücken. Eine Weile verging, bis es mir endlich gelungen war, auf die Füße zu kommen. Jetzt erst merkte ich, dass mir kalt war. Ich zitterte und die Zähne klapperten. Noch immer war ich nicht fähig, den Körper ordentlich zu rühren. Die ganze Nacht hatte ich regungslos auf dem Bauche gelegen; nur dürftig bekleidet, hatte ich bei Schillers Werken der Winterkälte, der dünnen Wände und der schlechten Tür nicht geachtet, durch die eine scharfe Zugluft beständig hereinkam. Auch Schnee war durch die Ritzen der Tür geflogen, bis dorthin, wo die Lampe stand und das Buch lag; ich aber hatte nichts davon gemerkt. – O Gott, wie mich nun fror! Ich nahm die Bretter von den Fenstern fort. Himmel – es war die höchste Zeit, Feuer im Ofen anzulegen! Der Tag graute bereits. Wenn der lange Lorenz, der um sechs Uhr zu kommen pflegte, nicht einen glühenden Ofen vorfand, gab es Hiebe. Am Abend war der Himmel klar gewesen, die Sterne hatten geleuchtet; in der Nacht aber war ein Umschlag erfolgt – und jetzt lag hoher Schnee im Hofe. Da gab es schlimme Arbeit für mich, weil ich Wochenkalfaktor war. Johann braucht als ältester Stift keine Kalfaktordienste zu verrichten; Franz und ich wechselten allwöchentlich in diesem Dienst ab. Also rasch Feuer angelegt! Dann hinaus in den Hof, um Bahn zu schaufeln bis zu Tür des Vorderhauses und zum Hintertor! Zuletzt hinauf auf das Dach! Denn der Meister verlangte, dass das Dach stets frei von Schnee sei. Jeden Morgen stieg er hinauf, und wenn er es nicht sauber fand, verordnete er dem Kalfaktor unbarmherzig eine Überstunde für den Abend. Er scheute sich auch nicht, ihm eine bestimmte Arbeit aufzutragen und zu befahlen: „Wenn diese Arbeit fertig ist, darfst du schlafen gehen; ehe nicht!“ So hatte ich einmal des Daches wegen eine ganze Nacht arbeiten müssen.

Als ich auf den Boden stieg, begegneten mir Johann und Franz. Sie fragten wo ich während der Nacht gewesen sei, und ich gestand ihnen, dass ich immerzu gelesen habe. „Da mach nur schnell!“ rief Johann. „Wenn der Alte durch Fenster sieht, dass du jetzt erst Schnee schaufelst, kannst du die nächste Nacht schuften!“ Ich arbeitete mich in Schweiß und war gerade fertig geworden, als Cäcilie am Fenster erschien und ihre Polizeiblicke nach der Werkstatt und dem Dache sandte. Der lange Lorenz fand einen glühenden Ofen – und alles war gut.

Meine Müdigkeit verschwand, sobald ich an Schillers Werke dachte. Fast fühlte ich mich kräftiger und frischer als sonst des Morgens – trotz der durchwachten Nacht. Lustig flogen die Späne aus dem Hobel, und eine Schillersche Strophe nach der andern ging mir durch den Sinn. Wonnig und glückverheißend strahlte das Licht des Februarmorgens durch die bestaubten Werkstattfenster. Ein neues Leben fieberte in mir…

Der junge Wagenbauer erhielt das Buch pünktlich zurück. Ach, wie gern hätte ich auch die andern Bände gelesen – Wallenstein, Maria Stuart und Wilhelm Tell, von denen ich aus der Lebensbeschreibung des Dichters Kunde erhalten! Doch der Wagenbauer war unerbittlich; er sagte, seine Schwester habe die Bücher dem Bräutigam zurückgegeben.

Im Laufe des ganzen Tages und der nächstfolgenden Tage beschäftigte ich mich in Gedanken fast unausgesetzt während der Arbeit mit den Gedichten und den Räuber. Das Lied von der Glocke konnte ich schon zum großen Teil auswendig hersagen; auch einige Strophen aus dem Liede an die Freude und aus der Leichenphantasie. Das Punschlied und das verlassene Mädchen saßen mir fest im Gedächtnis. Schon am ersten Tage versuchte ich mich selbst um Dichten, und es dauerte nicht lange, so war ein Gedicht „An die Pfaffen“ fix und fertig. Das Gedicht kam mir so großartig vor, die Reime klappten so vorzüglich und die Silben waren so genau an den Finger abgezählt, dass ich in Ehrfurcht für mich selbst erglühte.

Der Meister war Mietleser einer Zeitung, und manchmal geschah es, dass ich eine ältere Nummer erhaschen konnte. In diesen Blättern stand viel zu lesen vom Kulturkampf. In einem Artikel hieß es, dass der gehörnte Siegfried Otto Bismarck das deutsche Land säubern wolle von Pfaffen und Römlingen. Nicht dem frommen Glauben und nicht der katholischen Kirche gelte der Krieg, den er begonnen, sondern der Afterkirche und dem schwarzen Pfaffengeschmeiß, das überall den Samen der Zwietracht streue, den Frieden des Hauses störe und das Volk in Dummheit erhalten wolle. Zwar vermochte ich nicht zu ergründen, was die Afterkirche für ein Ding sei; aber ich zweifelte nicht, dass sie den Hass aller Guten und Gerechten verdiene, und mithin hasste ich sie aus voller Seele. Auch vom schwarzen Pfaffengeschmeiß hegte ich eine recht unbestimmte Vorstellung, vermutete jedoch, dass gewisse Klostermönche gemeint seien. Ich war fromm und gläubig, sogar außergewöhnlich fromm; aber da das Pfaffengeschmeiß Zwietracht säte, den Frieden des Hauses störte und das Volk in Dummheit erhalten wollte, freute ich mich herzlich, dass der gehörnte Siegfried Otto von Bismarck das Land befreien werde. Ich bildete mir ein, dass er mit seinen Soldaten von Kloster zu Kloster und von Ort zu Ort ziehe und die Pfaffen vertreibe, die wahren Priester jedoch unbehelligt lasse – was auch ausdrücklich in der Zeitung gesagt war. In meinem ersten Gedichte ermunterte ich den gehörnten Siegfried, die Pfaffen nicht zu vertreiben, sondern totzuschlagen, auf dass sie von Erdenrund verschwänden und in der Hölle Schlund kämen. Eigentlich war dieser Vorschlag nicht ernst gemeint; ich empfahl die schreckliche Mörderei nur aus dem Grunde, weil mein Gedicht recht herzhaft klingen sollte. Je öfter ich meine Verse heimlich hersagte, desto mächtiger ward der Glaube in mir, dass ich ein zweiter Schiller sei. Ich konnte mich in der Pracht meiner Reime: Bismarck – sei stark – Pfaffen – zusammenraffen – Erdenrund – Höllenschlund – Siegfried du – immerzu - - und meine Selbstbewunderung war nicht um vieles geringer, als die Bewunderung, die ich für Schiller hegte.

In der Meinung, dass Schillers Werke auf alle Gemüter eine so urgewaltig bezwingende Wirkung ausüben müssten, wie auf das meine, trug ich nach Feierabend meinen beiden Gefährten das Lied von der Glocke und das Lied an die Freude vor, soweit ich die beiden Gedichte im Gedächtnis behalten hatte. Mein eigenes Gedicht schloss ich an. Sie hörten zwar willig zu, blieben aber kalt und unterbrachten mich zuweilen mit Bemerkungen, die mir recht dumm erschienen. Ich glühte ganz in Begeisterung. In ungestümem Lodern suchte die heiligen Flammen die Herzen der Freunde zu erfassen; doch die Herzen der Freunde waren nicht empfänglich für solches Feuer. Einen großen Trost in dieser argen Enttäuschung gewährte mir das Lob, das Johann meinem eigenen Gedichte spendete. Er sagte, es gefalle ihm besser, als die Gedichte von Schiller; es läge doch wenigstens ein hübscher Sinn darin. Ich verteidigte Schiller mit brennendem Eifer; dabei aber fühlte ich mich sehr geschmeichelt durch die mir gespendete Anerkennung, und aus Dankbarkeit erzählte ich die Lebensgeschichte des berühmten Dichters. Dass es Schiller, der Sohn eines armen Regimentarztes, nur durch Gedichte und Theaterstücke, sonst durch gar nichts, zum berühmten Manne, sogar zum Professor, zum Hofrat und zum „Herr von“ gebracht hatte, kam den beiden Freunden sonderbar und erstaunlich vor. Jeder von uns dreien empfand schon längst die Sehnsucht, einmal ein großes Tier zu werden, und wir hatten bereits manchmal die Frage besprochen, auf welche Weise wir zu dem gewünschten Ziele gelangen könnten, um ein Leben in Müßiggang, Schwelgerei und Reichtum führen zu können. Bei der Betrachtung des Schillerschen Lebenslaufes kam die alte Frage wieder zur Sprache, und das vorhandene Beispiel lockt zu Nachahmung. Franz fragte, ob das Dichten schwer sei, und da ich diese Frage nach bester Überzeugung eindringlich verneinen und dabei auf mein Gedicht „An die Pfaffen“ hinweisen konnte, kamen wir alle drei zu der Ansicht, dass es ratsam sei, zu dichten. Wir wussten zwar nicht, wie viele Gedichte jemand gemacht haben müsse, um Professor oder gar adelig zu werden; doch sagten wir uns, das würde sich mit der Zeit schon finden. Ich war viel weniger genusssüchtig, als meine Freunde; mir galt der bloße Ruhm als das erstrebenswerteste Ziel. Aber da es mir lieblich und erhaben vorkam, vereint mit gleich gesinnten und gleich strebenden Freunden um die Ruhmeskrone zu werben, suchte ich schlauerweise die beiden Genossen dadurch zu Dichten anzufeuern, dass ich immer wieder auf den Professortitel und den Adel hinwies. Nach kurzer Überlegung entschlossen sich Franz und Johann, zunächst Professoren zu werden. Die begannen also zu dichten.

So kam es, dass wir Dichter wurden.

Von Einem, der auszog.

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