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9. Kaiser im Elend
ОглавлениеKaiser sah einfach nur schlecht aus. Die Augen lagen tief und waren finster umrändert. Die gesamte Gesichtsfront machte einen aufgedunsenen Eindruck. Der Blick war unruhig, seine Bewegungen waren fahrig und die Schultern hingen.
„Da ist er ja, der Meisterspion“, rief K., als er ihn nach längerer Zeit erstmals wieder traf.
Es war Zufall. Sie begegneten sich auf der Straße. Immer wieder hatte sich K. überlegt, was er sagen sollte, wenn er auf Kaiser treffen würde. Nicht dass er ein solches Treffen herbei gesehnt hätte, im Gegenteil, es wäre ihm am liebsten gewesen, den Mann nie wieder zu sehen. Ganz vermeiden ließ sich ein solches Ereignis aber auch nicht. Sie wohnten beide immerhin in derselben Stadt.
„Mit Verlaub, aber sie sehen aus, als wenn man ihnen ins Gesicht geschissen hätte“, vollendete K. seine Begrüßung und klopfte Kaiser auf die Schulter. Er wollte ihn gleich am Anfang ausknocken.
Der nahm die Verhöhnung stoisch hin. Er kannte K. von ihrer gemeinsamen beruflichen Zeit. Damals hatten ihn die drastischen Formulierungen K.s mitunter amüsiert. K. sagte oft das, was sich andere nur dachten.
Kaiser antwortete: „Mehr als das, man hat mir ins Herz geschissen.“
Bei K. kam diese Äußerung zunächst als makabrer Scherz an. Er blickte Kaiser in die Augen. Und dort sah er die Hoffnungslosigkeit. Die Sympathie, die er einstmals für Kaiser gehegt hatte, war schon vor geraumer Zeit gänzlich aufgebraucht worden. Er sah in ihm den Auslöser für seinen damaligen beruflichen Niedergang. Deswegen hatte er ihm immer wieder in Gedanken die Pest an den Hals gewünscht. Doch jetzt, wo der Feind im Elend vor ihm stand, wurde sein Beißzwang doch erheblich abgemildert.
„Was heißt das denn?“, fragte K. mit einem Funken von Anteilnahme.
„Ich habe mir eine Myokarditis zugezogen, irgendeine verschleppte Virusinfektion. Natürlich habe ich mich erst mal nicht darum geschert. Ich wurde aber immer schlapper. Und als dann auch noch die Herzrhythmusstörungen dazu kamen, da wäre ich fast verreckt.“
„Aber sie sitzen doch an der Quelle. Sie hätten sich mal medizinisch von den Protect-Ärzten durchchecken lassen können.“
„Schon richtig, aber sie wissen doch, wie das ist. Im eigenen Hause liefert man sich ungern anderen aus.“
„Und jetzt, wie steht es mit der Pumpe?“
„Die ist ausgeleiert. Der Kardiologe sagt, dass noch 30 Prozent Restleistungsvermögen der linken Herzkammer da wären. Das reicht im Moment gerade für ein Stockwerk Treppensteigen. Und viel besser wird das nicht werden. Wenn das so weiter bergab geht, dann kommt nur noch eine Herztransplantation in Frage.“
„Damit sind sie aber momentan für den Nahkampf in der Stiftung schlecht gerüstet. Die Sorger macht doch erheblich Dampf, oder?“
„Ach, hören sie mir bloß mit der scheiß Stiftung auf“, Kaiser machte eine schlappe abfällige Handbewegung, „das ist der Ursprung allen Übels.“
„Vor gar nicht so langer Zeit waren sie aber ganz scharf auf den Job“, sagte K.
„Sie wissen genau, dass ich keine andere Wahl hatte. Bei meinem alten Arbeitgeber, der Cargo Rail, wollten die mich nicht mehr haben. Eine Rückkehr in den Staatsdienst kam auch nicht mehr in Frage. Außerdem war ich in einem Alter, wo einem die Jobs nicht mehr hinterher getragen werden.“
„Na ja, Kaiser, da war doch noch etwas“, lockte K.
„Was denn?“
„Jetzt hören sie aber mal auf, sie haben es mir selber erzählt: Ihr romantischer Ausflug in die geheime Welt der Nachrichtendienste.“
„Stimmt, das habe ich ihnen erzählt. Ich weiß auch nicht, was mich damals geritten hat. Das war völlig überflüssig. Wahrscheinlich eine Mischung aus zu viel Wein und schlechtem Gewissen. Irgendwie taten sie mir nach ihrem Rausschmiss leid. Ich wollte ihnen mit meinem Geständnis vielleicht ein Trostpflaster geben.“
„Das kam aber anders bei mir an. Damals habe ich meinen Respekt ihnen gegenüber vollständig verloren, wenn ich mal so offen sein darf. Da spioniert einer in der Staatskanzlei für dieses Schrottregime DDR, ist auch noch so blöd, sich beim Kopieren von streng geheimen Papieren erwischen zu lassen, wird zu anderthalb Jahren auf Bewährung verknackt und erzählt mir dann auch noch ganz stolz, dass seine Töchter das gut gefunden hätten.“
„Na ja, wie das eben so ist. Man bastelt halt immer etwas an seinen Lebenslügen herum. Ich wollte irgendwas gegen die Amerikaner unternehmen. Reagan strebte meiner Meinung nach damals die Weltherrschaft an, während Gorbatschow Perestroika und Glasnost ausrief.“
„Da haben sie sich aber gründliche verspekuliert. Sie glaubten wohl, dass wenn man etwas gegen den Westen tut, das etwas Gutes für den Osten sei. Ganz schön naiv, wie sich dann in der weiteren Entwicklung gezeigt hat. Der kalte Krieg war nämlich schon längst zu Ende. Sie haben aus Idiotie, nicht Ideologie, ihr Land hintergangen, in dem sie nicht schlecht leben.“ K. war in Fahrt gekommen. Inzwischen bedauerte er nicht mehr, Kaiser getroffen zu haben. „Und dann haben sie mich verarscht, indem sie diesen Glanzpunkt in ihrem Lebenslauf einfach weggelassen haben. Hätte ich gewusst, dass sie vorbestraft waren, hätte ich mich nicht für sie zum Fenster hinaus gehängt, damit sie den Geschäftsführerjob bei der Stiftung bekommen. Sie scheinen mir eine etwas schiefe Vorstellung von Anstand und Moral zu haben. Und was ich ihnen ganz besonders übel nehme, das ist dieser Brandbrief, den sie damals an die Aufsichtsbehörde für Stiftungen, das Regierungspräsidium, geschrieben haben. Das war der Anfang vom Ende des Herrn K. in der Geschäftsführung.“
„Was meinen sie denn damit?“ Kaiser war sichtlich eingeschüchtert.
„Mensch Kaiser, sie können doch nicht immer tun wie Tulpe. Sie selber haben mir erzählt, dass sie in den Geschäftsunterlagen ihres Vorgängers diese Unterlagen gefunden haben. In diesem anonymen Schreiben sei Frau Dr. Sorger, die Vorsitzende des Stiftungsrats, denunziert worden. Es wurde deren unverschämte Selbstbedienung bei den Beratungsleistungen für die Stiftung angeprangert. Das waren In-sich-Geschäfte, die die feine Dame da angezettelt hat. Davon wussten ursprünglich nur drei Personen: Frau Sorger selber, ihr Vorstandskollege Bosse und ich. Ich habe nicht gepetzt und Sorger und Bosse scheiden aus nachvollziehbaren Gründen aus. Bleiben nur noch sie übrig, weil ich ihnen von den Verstrickungen der Vorsitzenden immer brühwarm erzählt habe.“
„Ich soll das gewesen sein?“
„Na klar, sie waren das gewesen. Nur, als die Vorsitzende von dem Schreiben erfuhr, da meinte sie, dass ich der Absender gewesen wäre und nicht sie. Sie kamen für die Dame nicht in Frage; denn woher sollten sie als Newcomer von Selbstbedienungen Kenntnis haben. Damals drehte sich für mich der Wind plötzlich und ich wusste nicht, warum. Das war damals der Anfang von meinem beruflichen Sterben. Und sie konnten dann in die Lücke hineinstoßen.“
K. genoss es, seinem ehemaligen Protege noch einmal so richtig die Meinung zu geigen.
„Ach, Herr K., ich hatte das nur deshalb gemacht, um die Sorger über den Untreuevorwurf loszuwerden. Sie hatte aber gute Freunde im Regierungspräsidium. Die bügelten alles glatt. Und als die Staatsanwaltschaft Wind von den illegalen Beratungsgeschäften der Dame bekommen hatte, waren schon längst rückwirkend Beratungsverträge formuliert worden, welche ihre Machenschaften legitimierten.“
„Aber da kamen Stundensätze von 8.000 Euro und mehr raus“, sagte K. empört und natürlich auch ein wenig neidgeplagt.
„Nur kein Neid. Die Sache verlief jedenfalls im Sande. Und selbst wenn ich eine Intrige gegen sie losgetreten haben sollte, so war das kein Glücksfall für mich. Sie hatten damals schon Recht. Die Organisation in der Stiftung ist krank und die maßgeblichen Akteure sind auch marode und zwar im Kopf. Da entstand ein mörderischer Druck. Diese Sorger ist eine skrupellose Sklaventreiberin und mit dem neuen medizinischen Vorstand, ihrem Nachfolger, bin ich auch nicht klar gekommen.“
„Ich hatte ihnen ja einen zugegebener Maßen verwegenen Vorschlag gemacht, wie man Frau Sorger hätte ausboten können, aber sie sagten damals, sie wollten sich durchlavieren. Jetzt haben sie den Salat.“
Kaiser trippelte hin und her, er machte mit seinem Oberkörper eine schraubende Bewegung, aber sagte nichts. K. hatte das Gefühl, dass er noch irgendetwas loswerden wollte. Dann brach es aus ihm hervor: „Da war natürlich noch etwas, das man wissen muss, um das alles richtig zu interpretieren.“ Kaisers Augen wurden feucht, „wenn sie einmal mit Geheimdiensten zu tun gehabt haben, so werden sie diesen Schatten nie mehr los.“
„Spionieren sie immer noch herum, sie Schwein?“, fragte K. ungläubig.
„Nein, tue ich nicht, aber...“ Kaiser gefroren die bereits formulierten Worte im Mund. „Mein Arzt sagt, dass ich nicht mehr lange leben werde. Trotzdem, ich schaffe es nicht, ihnen das zu sagen. Dass ich ihnen von meiner eigenen Spionagetätigkeit erzählt habe, war schon ein Fehler“, sagte Kaiser und schaute auf die Uhr.
K. wusste nicht, was er diesem Judas noch sagen sollte. Alles Gute wäre geheuchelt gewesen, Fahr weiter zur Hölle, das passte angesichts des desolaten Gesundheitszustands auch nicht so recht. Der Mann war mit seinem ausgelatschten Herz schon geschlagen genug.
„War interessant, sie mal wieder getroffen zu haben. Denken sie daran, auch die besten Ärzte irren manchmal. Ich gebe ihnen noch mindestens zwanzig Jahre“, rief K. seinem einstigen Freund und Widersacher hinterher, und es klang mehr nach Hohn, denn nach Trost. Kaiser war nicht nur für K., sondern auch insgesamt bedeutungslos geworden. Deshalb vergaß K. auch schnell den merkwürdigen Anlauf zu einer weiteren Enthüllung, den Kaiser vorzeitig abgebrochen hatte.
10. Nackenschlag
„Hallo Herr K.“, hörte er am Telefon. Der Anrufer, der Geschäftsführer einer großen Versicherung war am anderen Ende der Leitung. Er war jetzt auch Professor geworden. Deswegen ließ er in der Begrüßungsfloskel den sonst im Gespräch mit K. immer ausgesprochenen Herrn Professor weg. Er befand sich jetzt titeltechnisch endlich auf Augenhöhe mit K. und anderen Autoren des von ihm herausgegebenen Handbuchs. Zwar hatte er nur die Discountversion eines Professorentitels, den Fachhochschulprofessor, das machte aber für einen unbedarften Zeitgenossen keinen Unterschied. Auf der Visitenkarte, auf dem Briefpapier und an der Eingangstüre zu seinem Büro, prangte überall Prof. Dr. jur. G. Gollwitz.
„Wie geht es ihnen?“, fragte er freundlich und unverbindlich.
„Danke der Nachfrage, ausgezeichnet.“
„Das freut mich außerordentlich. – Vielleicht können sie sich denken, warum ich anrufe, es geht um die Neuauflage unseres Nachschlagewerks. Mittlerweile ist auch die fünfte Auflage vergriffen und wir müssen eine Neuauflage ins Auge fassen.“
„Das freut mich nun meinerseits außerordentlich.“
„Nun“, der Anrufer klang etwas gequält, „sie haben ja immer das Kapitel Atemwegs- und Lungenkrankheiten bearbeitet, eines der wichtigsten Kapitel in dem Werk.“
„Richtig, das ist ja auch eines meiner Spezialgebiete.“
„Tja, wir haben uns überlegt, dass die Bearbeitung dieser Thematik in Zukunft in die bewährten Hände von Herrn Nagold übergehen sollte. Sie kennen ihn ja sicherlich. Der ist noch jung, hat an seinem Lehrstuhl eine motivierte Mannschaft und kann gut formulieren. Ich schätze ihn überaus.“
Bei K. kam dieses Statement so an, als wenn der Anrufer alle die positiven Eigenschaften, die er Nagold zusprach, bei K. vermissen würde. K. hatte diesen Vorstoß erwartet. Nach seinem beruflichen Knock-out war sein Ruf in der Fachöffentlichkeit verblasst. Er war jetzt ein Einzeltäter ohne Apparat im Hintergrund, er war nicht mehr in den maßgeblichen Kommissionen präsent, Kongresse besuchte er auch nicht mehr, er war fachlich so gut wie tot.
Jedes Ding hat seine Zeit, wohl wahr, aber ein bisschen könnte man die Zeit schon anhalten, dachte sich K. in diesem Moment und erwiderte in betont jovialer Weise: „Herr Gollwitz, dafür habe ich natürlich tiefstes Verständnis. Sie wollen a jour bleiben. Aber ich kann ihnen versichern, dass ich nach wie vor mein Ohr auf der Schiene habe. Ich weiß, was an der Wissenschaftsfront los ist, und meine Publikationen sind eigentlich auf dem neuesten Stand.“
„Ja, das weiß ich doch, Herr K.“, säuselte Gollwitz, „ihre Qualifikation unterliegt keinerlei Zweifel. Aber ich muss auch an das Morgen denken. Herr Nagold gehört zur nächsten Generation. Wir brauchen für die Zukunftssicherung unseres Standardwerkes jüngere Autoren.“
Dieses Buch stand bei jedem Sozialrichter und bei jedem Unfallsachbearbeiter, der sich mit der Anerkennung und Entschädigung von Berufskrankheiten zu befassen hatte, im Regal. Es war von Auflage zu Auflage immer wichtiger geworden und bildete eine Brücke zwischen der Medizin und dem immer komplizierter werdenden Recht in der gesetzlichen Unfallversicherung. Damit wurde nicht nur Wissensmanagement, sondern auch Informationspolitik und Sozialpolitik betrieben. In diesem Zweig der deutschen Sozialversicherung wurden mal so ganz nebenbei mehr als fünfzehn Milliarden Euro pro Jahr ausgegeben, ohne dass die Öffentlichkeit viel davon mitbekam. Und dieses Geld war ausschließlich Unternehmergeld. Zwar bestand bei den Unfallversicherungsträgern eine paritätische Mitbestimmung, die Arbeitnehmervertreter hatten aber in den gemeinsamen Gremien immer mehr Präsenz als die Arbeitgebervertreter, ganz einfach deshalb, weil letztere richtig arbeiten mussten und es sich deshalb nicht leisten konnten, ihre Zeit in endlosen Sitzungen zu vertrödeln. Es war natürlich sexy für die Genossen, über die Kohle des Klassenfeindes verfügen zu können. Wenn K. also noch ein wenig in diesem Spiel mitspielen wollte, sei es als Gutachter oder als Berater, dann musste er jetzt dagegen halten; denn die Mitwirkung an diesem Buch stellte auch eine Art Visitenkarte hinsichtlich der eigenen fachmedizinischen Kompetenz dar.
„Herr Gollwitz, Hand aufs Herz, wie alt sind sie?“ Mit dieser Frage leitete K. seine Gegenoffensive ein.
„Siebenundsechzig.“
„Sehen sie, lieber Herr Gollwitz, das sind zehn Jahre mehr, als ich auf dem Buckel habe.“
Am anderen Ende der Leitung trat nun längeres Schweigen ein. Gollwitz hatte sicherlich nicht mit einer derartigen Hartleibigkeit gerechnet. Er suchte nach einem Ausweg und musste überlegen.
„Hallo, Herr Gollwitz, sind sie noch dran?“
„Ja, Herr Professor K., ich höre sie.“ Da war es wieder, das Distanz und Ehrfurcht einflößende Herr Professor. Der Mann befand sich in der Defensive. K. roch Blut.
„Ich habe einen Vorschlag, lieber Herr Gollwitz. Besprechen sie das doch einfach noch einmal mit Frau Dr. Bachmeier. Sie ist eine subtile Kennerin der Szene und sie ist sehr einfühlsam. Das wissen sie, glaube ich, am allerbesten.“
K. hatte seinen letzten Trumpf ausgespielt und der stach. Gollwitz und Bachmeier gaben zusammen eine sozialrechtliche Zeitschrift heraus, und das passierte partiell im Liegen. Frau Bachmeier war seit jeher der Wanderpokal bei den Geschäftsführern gewesen, quasi eine Kurtisane der Versicherungswirtschaft. Diese Rolle hatte sie in die Gehaltsdimensionen einer Staatssekretärin befördert, Dienstwagen der gehobenen Mittelklasse inbegriffen. Ihre ehemals steile Karriere war aber in der den letzten Jahren in einen Sinkflug übergegangen. Im Laufe der Jahre hatte sie an Attraktivität verloren. Es wurde immer schwerer, die dahinwelkenden weiblichen Reize gezielt zur Förderung der beruflichen Laufbahn einzusetzen. Und, was wohl das Entscheidende war, ihre Vergangenheit hatte sie eingeholt. Ihre allseits bekannte Promiskuität hatte die sexuellen Fantasien vieler wichtiger Herren angeregt, aber nur wenige hatten davon profitiert. Ihre neueste Liaison, noch dazu relativ offen präsentiert, trieb den anderen aufgegeilten aber verschmähten Herren den Schaum vor den Mund. Die frustrierten Biedermänner entdeckten die Moral: Nun ist sie aber zu weit gegangen, die Hure. Man kann ihr schließlich nicht alles durchgehen lassen. Ihr Aktionsradius wurde mehr und mehr eingeschränkt. Sie wurde Leiterin eines neuen unwichtigen Referats ohne Mitarbeiter. Der Bedeutungsverlust wog schwer. Deswegen klammerte sie sich um so mehr an den älteren Herrn, der die Zügel noch fest in der Hand hielt.
„Lassen sie mich noch einmal darüber nachdenken, Herr Professor K. Vielleicht können sie das ja mit dem Nagold zusammen machen.“ Bingo, er hatte kapiert.
Aber das war nur ein kleiner Sieg. Der änderte nichts an der Tatsache, dass K. in der Fachöffentlichkeit schon längst zur Leiche geworden war. Sein akademischer Lehrmeister Litwin hatte vor längerer Zeit zu ihm gesagt, „Herr K., und auch sie werden ein erstaunliches Phänomen beobachten können, wenn sie älter werden. Obwohl sie gerade wegen ihrer Lebenserfahrung nach wie vor hoch kompetent sind, werden sie nicht mehr gebraucht. Sie erhalten keine Einladungen mehr zu Sitzungen von Kommissionen, in denen sie jahrzehntelang Mitglied gewesen sind. Vortragseinladungen bleiben aus. Auf den Kongressen macht man einen Bogen um sie herum. Und wenn sie sich in eine Vortragsdiskussion einmischen, dann hört man ihnen nicht mehr zu und der Vorsitzende weist sie vorzeitig auf die begrenzte Redezeit hin. Und eins dürfen sie auf keinen Fall erwarten, das ist der Dank für die geleistete Arbeit.“
K. hatte bei einigen Herren, die nicht loslassen konnten, gesehen, wie die Abenddämmerung der Karriere unerbittlich in berufliche Finsternis überging, die Auslaufmodelle aber immer noch so taten, als wenn die Sonne scheinen würde. Deswegen beschloss er, sich diesem Siechtum nicht zu unterwerfen, sondern selber die Initiative zu ergreifen und neue Ufer anzusteuern. Und da war das Angebot Bockholds gerade zur rechten Zeit gekommen. Er drückte den Herzschrittmacher in seiner Hand ganz fest.