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2. Prolog

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Da steht ein Pilz im Wald oder auf der Wiese. Das was wir von ihm sehen, ist der kleinere Teil, sein Fruchtkörper. Es ist, mit Verlaub, der Penis des Pilzes, der nie die Chance bekommen wird, zu penetrieren. Zwar bildet er Samen, die hier Sporen heißen, diese werden aber vom Wind in alle Welt verfrachtet und nicht in einer dunklen feuchten Höhle abgelagert. Findet nun eine Spore ein Substrat, welches ihr behagt, beispielsweise Holz oder organisches Gewebe, beginnt sie zu keimen und bildet ein Primärmyzel. Treffen zwei gegengeschlechtliche Geflechte aufeinander, kann daraus in einem gänzlich unspektakulären und lustfreien Akt ein Sekundärmyzel entstehen, welches dann wieder Pilze hervorbringt und damit vermehrungsfähig geworden ist.

Myzele bestehen aus zahlreichen langen Fortsätzen, den Hyphen. Sie können sich über eine enorme Fläche erstrecken. Bei den Hallimaschen beispielsweise dehnt sich das Myzel bis zu mehreren Quadratkilometern aus. Im Malheur National Forest in den USA befindet sich das größte und älteste Lebewesen der Welt, der Honey Mushroom. Er umfasst eine Fläche von knapp zehn Quadratkilometern und ist geschätzte 2.400 Jahre alt.

Das Myzel, welches die Handlung dieses Buches durchwebt, ist so alt wie die Menschheit. Es ist ein weltumspannendes Gebilde, welches Ländergrenzen überspringt und sich auch nicht durch Berge oder Ozeane stoppen lässt. Es wächst kontinuierlich, teilweise mit erstaunlicher Geschwindigkeit. Es dehnt sich unbemerkt aus und erreicht die geheimsten Ecken. Je feiner die Fäden gesponnen werden, desto tiefer können sie in unbekannte Sphären eindringen. Hauptnahrung unseres Myzels ist ein besonderes Elexir, und das ist die Information.

So etwas Ähnliches haben wir doch bereits, mag man einwenden, da gibt es doch das weltweite Netz. Doch die über das Internet verfügbaren Daten sind nur wenig wert, ganz einfach deshalb, weil sie für jeden verfügbar sind. Die Inflationierung des Wissens führt zur Entwertung der Informationen. Außerdem wird es immer mühsamer, aus dem Informationsmüll des Internets die wertvollen und richtigen Botschaften heraus zu filtern. Ja man kann sich sogar zu der Meinung versteigen, dass das Netz entscheidend dazu beiträgt, die Menschheit beschleunigt zu verblöden. Die Klicks auf den Seiten mit Inhalten, die nicht der Wissenserweiterung dienen, sondern die nur platte Informationen mitteilen, wie die Adressen der Tatootätowierer oder der Dominas vor Ort, die Anzahl der vermeintlichen Freunde im sozialen Netzwerk oder das Wetter in Künzelsau sind wesentlich häufiger, als die Seitenaufrufe in Wissensportalen. Gleichwohl gehört das weltweite Netz selbstverständlich zum Myzel, wenngleich es nur einen Teilbereich darstellt.

Vorsintflutlich mutet darüber hinaus an, dass Information und Kommunikation im weltweiten Netz über die Fingerspitzen bewerkstelligt wird. Die Kommunikation des Users findet umständlich über eine Tastatur am Computer statt. Dort wird dann eine Informationsübermittlung mittels binärer Kodierung realisiert. Das ist zwar nicht ganz so primitiv und auch deutlich schneller als die Herstellung von Holerith-Lochkarten und deren Auswertung in Tabelliermaschinen, wie sie noch bis in die 1970er Jahre verwendet wurden, erfordert aber immer noch den Zwischenschritt der externen Dateneingabe.

Während das Myzel in der breiten Öffentlichkeit noch als Metapher für Vernetzung und Verästelung konventioneller Informationsstrukturen verwendet wurde, war eine kleine Gruppe von Wissenschaftlern - Neurologen, Psychiater, Biologen, Biochemiker - aufgebrochen, nach Wegen der interindividuellen neuronalen Vernetzung zu suchen, was nichts anderes hieß, als die besten Gehirne miteinander zu verschalten. Information und Kommunikation sollten sich lösen von Tastaturbedienung, elektronischen Schaltkreisen, umständlicher Softwareentwicklung, begrenzten Speicherkapazitäten etc. Dieser verwegene Plan bedeutete nichts anderes als die Schaffung eines Weltgehirns mit einer die Grenzen der derzeitigen Vorstellungskraft sprengenden Bewusstseinserweiterung.

Wie damals zu den Ursprüngen des Internets spielte das US-Verteidigungsministerium bei diesen Forschungsprojekten eine treibende Rolle. Die ursprüngliche Aufgabe des Internets war die Vernetzung knapper Rechnerkapazitäten zur Lösung komplexer Fragestellungen gewesen, die verteidigungsrelevant waren. Später kam der wissenschaftliche Informationsaustausch dazu, bevor erst dann die breite zivile Nutzung die Oberhand gewann.

Jetzt wollte man noch mehr, nunmehr sollten nicht mehr die Apparate, sondern die Gehirne direkt verbunden werden. Das Myzel sollte bis zum Ursprung der Gedanken ranken. Klar, dass dadurch schwüle Allmachtsfantasien entfacht wurden und dass dieses Forschungsvorhaben neue Geheimhaltungsmechanismen erforderte, die über den Top-Secret-Status noch weit hinausgingen.

Doch man steckte erst in den Anfängen. Praxisrelevante Anwendungen waren noch lange nicht in Sicht, obwohl einige bahnbrechende Entwicklungen im Bereich der neuronalen Verschaltung kurz vor der Erprobung beim Menschen standen. Deswegen wurde in der nachrichtendienstlichen Praxis aber nach wie vor die Brechstange ausgepackt, um diese Barriere zwischen Sender und Empfänger zu überwinden. Die mit schierer Gewalt erpressten Informationen waren jedoch entweder falsch oder marginal, bedient hingegen wurden Rachsucht, Schadenfreude und Sensationshunger. Und es wurde ein Klima der Angst und Unsicherheit hergestellt. Grausamkeit, Menschenverachtung, Sadismus, das waren die vorrangigen Treiber der kriegerischen Seite der Informationsbeschaffung.

Ein freundschaftliches Interview war die naive Lösung. Eine Befragung unter verschärften Bedingungen – nach dem Motto, pack schon aus, sonst vergewaltigen wir deine Tochter – war da möglicherweise schon Ziel führender. Erpressung mit sexuellem und finanziellem Hintergrund gehörte zum Standardrepertoire. Oder aber man setzte die klassischen martialischen Werkzeuge ein, beispielsweise die Gehirnwäsche oder die körperliche Folter, alles sehr grobe Instrumente, um das herauszuprügeln, was sich im überaus filigranen Geflecht der grauen Zellen abspielt. Dabei riskierte man die Demolierung von Körper und Psyche. Man zerstörte den Informationsträger.

Eine elegantere Methode hingegen war der hormonelle Katalysator. Liebe macht blind und unkritisch aber auch mitteilsam. Interne Sicherungssysteme werden beim Liebenden außer Kraft gesetzt. Bei derartig hormonell infizierten Zielpersonen bekam man jedoch die Informationen auch nicht gratis. Man musste vorher ordentlich investieren, und zwar in Emotionen.

Das Myzel als verborgenes, stets bereites und kontinuierlich Informationen lieferndes System wurde für die geheime Informationsbeschaffung immer wichtiger, weil man mit einzelnen Hauruck-Aktionen ohne entsprechende langfristige Vorbereitung zuhauf gescheitert war. Da gab es nicht nur die katastrophal missglückten militärischen Einsätze der Amerikaner, wie die fehl geschlagene Invasion in der Kubanischen Schweinebucht im April 1961 oder die missratene Befreiungsaktion der Geiseln in der Teheraner Botschaft im April 1980. Da gab es auch das völlige Versagen in der Prognose des Falls der Berliner Mauer 1989 und der Anschläge auf die Twintowers des World Trade Centers in New York und auf das Pentagon im September 2001.

Eine Lachnummer war der Informant mit dem Decknamen Curveball gewesen, der die mobilen Biowaffensysteme der Iraker erfand und damit Präsident Bush das herbeigesehnte Argument für den Einmarsch der US-Truppen in den Irak im März 2003 lieferte. Bei diesem Chemiker namens Rafid Ahmed Alwan al-Janabi handelte es sich um einen verlogenen Hochstapler, dessen Identität erst fünf Jahre nach Ausbruch des Irakkrieges ans Licht der Öffentlichkeit geriet. Dann erst offenbarte sich auch dessen ausgeprägte Charakterschwäche. Peinlich für den BND, der Mann war als Quelle angeworben und der CIA stolz präsentiert worden.

In all diesen katastrophal endenden Episoden hatte man sich zu sehr auf das verlassen, was vom Pilz über der Erde zu sehen ist. Doch das, was alle sehen, muss nicht immer richtig sein.

Diese Beispiele zeigen, dass insgeheim gewonnene Informationen, mögen sie noch so detailliert sein, einen immer währenden Makel aufweisen: Es bleibt die Frage wahr oder unwahr meist unbeantwortet.

Also musste eine Qualitätskontrolle her.

Bereits in den 1970er Jahren hatten sich insbesondere forensische Psychologen auf die Suche nach den Spuren der Lüge begeben. Sie suchten nach verräterischen Körpersignalen. Die These war, dass Lügen mehr anstrengt als die Wahrheit sagen. Das müsse sich in Sprachunsicherheiten oder nervösen Verhaltensweisen niederschlagen. In umfangreichen Testreihen mit Probanden fand man aber keinerlei derartige Anhaltspunkte.

Dann setzte man eine Zeit lang große Hoffnungen in die Lügendetektoren. Deren Fehlerrate war aber viel zu hoch, ganz einfach deshalb, weil sie keine Gedanken überprüften, sondern nur psychovegetative Reaktionen wie Herzschlagfrequenz oder Feuchtigkeit der Haut maßen. Diese Zielgrößen unterliegen vielfältigen Fremdeinflüssen und können auch durch Geübte manipuliert werden, lassen also hinsichtlich ihrer Spezifität deutlich zu wünschen übrig.

Ein neuer erfolgversprechender psychologischer Ansatz zur Enttarnung der Lüge stellt die Aufforderung seitens des Ermittlers dar, den Tathergang doch bitte in umgekehrter Reihenfolge zu schildern. Die Lügner nennen dann weniger Details und verhaspeln sich gerne, so neuere empirische Forschungsergebnisse. Allerdings ist auch bei dieser Methode die Trefferquote nicht berauschend. Insbesondere für Menschen, die weit oben in der machiavellistischen Rangordnung stehen, ist Lügen ein normaler und akzeptabler Weg, um ihre Ziel zu erreichen. Diese Leute bringt auch die Methode der retrograden Berichterstattung nicht aus dem Tritt.

Deswegen suchte man nach anderen Methoden zur Verifizierung von Informationen. Schon früh hatte man gelernt, dass der Mensch nur dann lügen kann, wenn die Wahrheit aktiv im Gehirn unterdrückt wird. Dies hinterließ verräterische Stoffwechselaktivitäten, die man mit der Kernspintomographie aufspüren konnte. Nur musste man dafür das Opfer in eine Röhre stecken und zur Ruhe bringen, was nicht immer gelang. Außerdem wurden diese biochemischen Reaktionen durch andere Gemütsregungen mit beeinflusst, so dass die gewonnenen Ergebnisse vieldeutig waren.

K. war zwar Mediziner, sein Fachwissen hinsichtlich der komplexen Zusammenhänge zwischen Körper und Geist war aber vor dreißig Jahren stehen geblieben. Damals gab es noch getrennte Facharztweiterbildungen zum Arzt für Neurologie und zum Arzt für Psychiatrie, die sich bis in die Neuzeit herübergerettet hatten, aber keineswegs mehr dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand entsprachen. Dieser sammelte sich unter dem Dach des neuen Fachgebietes der Neurowissenschaften.

K. zappte sich durch das Abendprogramm des Fernsehens und landete in einer Sendung mit dem Titel Neurowissenschaften – können wir Gedanken lesen? Dieses Thema hatte gerade in den Medien eine besondere Konjunktur. Wiedergegeben wurde das Gespräch zwischen einem Neurowissenschaftler und einem Arbeitsmediziner.

Neuropsychologe: „Warst du schon einmal in einem Kernspintomographen drin?“

Arbeitsmediziner: „Nein, das Vergnügen hatte ich noch nicht.“

N: „Von wegen Vergnügen, es ist eine Tortour. Du liegst in einer engen Röhre und meinst, dass ein Güterzug über dich rüber donnert. Vorher hat dir der Studienleiter die Bilder eines nackten Playmates vor die Nase gehalten. Vor dem nächsten Durchgang zeigt er dir Bilder von KZ-Opfern. Aus den MRT-Bildern liest er dann Veränderungen in der Stoffwechselaktivität bestimmter Gehirnareale heraus. Möglicherweise sind durch die unterschiedlichen optischen Schlüsselreize auch unterschiedliche Hirnareale angesprochen worden, der größte Teil der Hirnaktivitäten wurde jedoch für die Bewältigung der absoluten Ausnahmesituation aufgewendet.“

A: „Stimmt, in der Röhre des Kernspintomographen wird die klassische klaustrophobische Situation erzeugt: Enge und Lärm.“

N: „Und dieses elementare Erleben dominiert alle anderen Gemütsregungen und Reflexe. Zwar gibt es mittlerweile offene Systeme bei den Kernspintomographen, welche weniger Anlass zur Platzangst geben, der Stress durch die Untersuchungssituation bleibt jedoch bestehen.“

A. „Ich erinnere mich noch ganz gut an unsere Felduntersuchungen zur Stressbelastung von Schichtarbeitern. Gefördert wurde die Studie damals aus dem Forschungsprogramm Humanisierung in der Arbeitswelt. Die Männer arbeiteten in einem Karosseriewerk bei einem namhaften Automobilhersteller. Die Pressen liefen rund um die Uhr. Es war ein Höllenlärm in der Fabrikhalle. Wir bestimmten die Stresshormone vor, während und nach der Nachtschicht und bekamen seltsame Ergebnisse. Der Stress war vor Schichtbeginn am höchsten, nahm während der Schicht ab, um dann nach Schichtende am frühen Morgen wieder anzusteigen. Ein paradoxes Ergebnis.“

N: „Das ist ja tatsächlich komisch. Habt ihr eine Erklärung dafür gefunden?“

A: „Zunächst waren auch wir überrascht, aber dann wurde es immer klarer. Die Schichtarbeiter waren an den Lärm adaptiert. Sie schalteten ab. Auch die Nachtschicht stellte für sie keinen außergewöhnlichen Stress dar. Das kannten sie ja bereits zur Genüge. Was sie wirklich aufregte, das war der Akt des Blutabnehmens. Das war ungewöhnlich für sie, das hatte so etwas wie eine elementare Bedrohung. Erschwerend kam hinzu, dass es sich bei den Arbeitern fast ausschließlich um Angehörige von mediterranen Völkern handelte, die mehr als wir Mitteleuropäer dazu neigen, bei medizinischen Eingriffen in Panik zu geraten. Jedenfalls kollabierten die durchweg kleinwüchsigen Probanden reihenweise beim Blutabnehmen. Unser hünenhafter Kollege hatte da eine einfache und wirksame Therapie. Er packte sie bei den Beinen und stellte sie auf den Kopf, was schlagartig die Ohnmacht beseitigte.“

N: „Und wo war der Betriebsrat?“

A: „Damals in den 1970er Jahren konnte man so ein Untersuchungsprogramm noch per Ordre de mufti durchziehen. Da mussten alle mitmachen. Die Quintessenz war, dass unser Studienansatz die Konkurrenz der stressogenen Ereignisse und Adaptationsphänomene vernachlässigte.“

N: „Siehst du, und Ähnliches passiert bei den kernspintomographischen Experimenten der Neurowissenschaftler. Die Untersuchung als solche hinterlässt weitaus stärkere Spuren, als die eigentliche Intervention. Außerdem können die bunten MRT-Aufnahmen teilweise nicht vollständig interpretiert werden, weil wir immer noch keine richtige Vorstellung von der Funktion des menschlichen Gehirns haben. Von der Farbe eines Autos lassen sich auch nur begrenzt die Charaktereigenschaften des Besitzers ableiten.“

A: „Also geht Gedankenlesen prinzipiell nicht?“

N: „Doch, es geht, aber nur auf einer seht niedrigen Abstraktionsebene, so dass weniger Gedanken, als vielmehr einfache Vorstellungen abgegriffen werden können.“

A: „Und wie muss ich mir dieses Abgreifen vorstellen?“

N: „Es sind zwei Grundvoraussetzungen erforderlich. Erstens, die Testperson muss bereit dafür sein. Und zweitens brauch man einen Detektor. Das kann die Ableitung von elektrischen Aktivitäten des Gehirns sein, oder aber es ist die bildliche Darstellung von Stoffwechselveränderungen im Gehirn, z. B. die Glucoseutilisation. Für beides stehen Standardmethoden zur Verfügung. Da ist zum einen das Elektroenzephalogramm und zum anderen die Magnetresonanztomograhie oder die Positronenemissionstomographie, kurz EEG, MRT und PET genannt.“

A: „Und wie liest man nun aus abgeleiteten Potentialen und elektronischen Bildern Gedanken?“

N: „Das ist das eigentliche Problem. Das US-amerikanische Verteidigungsministerium fördert derzeit einige Projekte zur Operationalisierung des Gedankenlesens. Angeblich machen sie das, um die Gedanken von Soldaten mit schweren Schädel-Hirn-Traumen lesen zu können. Ein wahrhaft humaner Ansatz, natürlich mit dem Hintergedanken, die Methode auch bei der nachrichtendienstlichen Informationsbeschaffung einzusetzen. Wir wissen, dass die elektrophysiologischen Prozesse im Gehirn beim Denken bei allen Menschen in etwa gleich verlaufen. Bei bestimmten Bildern entstehen dieselben Gehirnaktivitäten. Man versucht nun eine Software zu entwickeln, die es aufgrund der Art, Verteilung und Stärke der Hirnströme ermöglicht, die Bilder zu benennen, die gerade gedacht werden.“

A: „Das bringt uns doch aber nicht weiter, wenn es um regelrechte Gedankengänge geht.“

N: „Richtig. Daher besteht die nächste Innovationsstufe darin, so genannte semantische Rekonstruktionen vorzunehmen. Buchstaben und Worte werden über die gemessene Hirnaktivität identifiziert. Das funktioniert allerdings noch nicht direkt, sondern nur über die Assoziation mit vorgestellten Bildern. So müsste ich beispielsweise beim Denken des Buchstabens A an ein Auto denken.“

A: „Da treten wir aber fast auf derselben Stelle.“

N: „Ja, leider. Ich weiß nicht, ob es jemals gelingen wird, Gedanken zu lesen und zwar Gedanken, welche Handlungen determinieren, Meinungen und Einstellungen wiedergeben und mitteilen, was der Denkende demnächst vorhat. – Was wir aber neuerdings immer besser machen können, das ist die Beeinflussung bestimmter Hirnfunktionen, die Stimmungen oder motorische Funktionen steuern. Wir nennen es Neuroenhancement. Das versetzt uns in die Lage, indirekt Gedanken und Handlungen zu modulieren.“

K. drückte sich weiter durch die Programme. Bei ZDF Neo klinkte er sich in eine Sendung ein, welche den Titel Wie Geheimdienste wirklich ticken trug. Der Präsident des Bundesnachrichtendienstes schloss gerade sein Statement ab, in dem er mit staatstragenden Worten die Wichtigkeit seiner Behörde für den Fortbestand der parlamentarischen Demokratie beschwor. Dann leitete der Moderator zum Erfahrungsbericht eines BND-Mitarbeiters über. Damit kein zu schiefes und zu futuristisches Bild über die nachrichtendienstliche Tätigkeit entstehe, solle an dieser Stelle ein Angehöriger des Geheimdienstes zu Wort kommen. Das Gesicht des Mannes war durch eine Milchglasprojektion unkenntlich gemacht und die Stimme wurde verzerrt wiedergegeben. Auch ein paar biographische Details würden verändert dargestellt werden, um die Anonymität zu wahren, erklärte der Moderator.

„Das was sie da gerade mitgehört haben, ist die Vision unserer fantasiebegabten Vordenker“, hörte man den Zeitzeugen in einer quäkenden Kopfstimme sagen. „Wollen sie wissen, wie es in Wirklichkeit aussieht? Es hat so gar nichts mit dem zu tun, was sie aus den Filmen und Büchern über Spionageabenteuer kennen. Lassen sie mich ein wenig aus meiner Biographie und meinem Alltag berichten. Meine eigentliche Identität tut dabei nichts zur Sache.

Ob ich nun ein Spion bin, oder nicht, das weiß ich nicht so recht. Jedenfalls bin ich beim Bundesnachrichtendienst. Wie ich da hingekommen bin, das weiß ich allerdings. Es war ein bisschen Abenteuerlust und Angst vor der Routine in einem normalen Bürojob. Ich habe angewandte Sprachwissenschaften studiert. Fragen sie mich nicht, warum. Ich weiß es nicht. Ausschlaggebend war wohl mein angeborenes linguistisches Talent. Fremdsprachen lernen war nie ein Problem für mich. Ich spreche fließend englisch und italienisch. Spanisch geht auch noch. Zu Studentenzeiten bin ich nie die ausgetrampelten Pfade gegangen. Ich war in Afghanistan, weil es da den besten Shit gab und man preiswert wunderbare handgeknüpfte Teppiche erstehen konnte. Den Jemen habe ich zusammen mit einem Freund bereist, der damals bei der Gesellschaft für technische Zusammenarbeit war. Auch Zentralafrika stand auf meinem Reiseprogramm.

Nach meinem Studium habe ich mich beim BND beworben und wurde sofort genommen. Denen hat gefallen, dass ich Auslandserfahrungen in exotischen Ländern gesammelt hatte. Ich landete in der Abteilung Technische Aufklärung. Die betreiben Informationsgewinnung mit technischen Mitteln. Dabei werden Informationen von außen- und sicherheitstechnischer Bedeutung durch Abhören, Mitlesen, Auswählen und Übersetzen aus dem internationalen Kommunikationsverkehr gewonnen, also Brief, Telefon, Fax, Funk, E-Mail.

Bereits nach wenigen Monaten kapierte ich, dass ich da in einem Beamtenladen gelandet war, was ich ja eigentlich hatte vermeiden wollen. Deshalb bewarb ich mich intern auf einen Posten in der Abteilung regionale Beschaffung und Auswertung. Dort war im Bereich der operativen Beschaffungsaufträge eine Stelle frei geworden. Die bekam ich. Einer der Schwerpunkte war die Bearbeitung von Auseinandersetzungen um Energie und Ressourcen.

Sie müssen besonders gestrickt sein für diesen Job. Grundlage für ihr Selbstverständnis, teilweise verbotene Dinge zu tun und zu legitimieren, ist der Glaube, die Welt besser machen zu können, Krieg einzusparen oder den Guten zu helfen, den Krieg zu gewinnen. Unter Krieg verstehe ich weniger gewalttätige Auseinandersetzungen, als vielmehr den Kampf um die Rohstoffquellen, um Arbeitsplätze, Know how und so weiter. Also die Assets, die unsere Existenz auf dieser Erde sichern und die die begrenzte Zeit unseres Erdendaseins so angenehm wie möglich machen. Dazu denken wir in unserem Amt Dinge zusammen, die vordergründig nichts miteinander zu tun haben. Wir lassen uns aus den unterschiedlichsten Quellen inspirieren: Wissenschaft, Literatur, Film, Sciencefiction und Blogs, alles Mögliche also. Wir selber dürfen auch spinnen, was Spaß machen kann, aber auch quälend ist, wenn dir nichts Neues einfällt.

Was nicht so lustig ist, das ist die weitgehend fehlende soziale Anerkennung, nicht nur des Einzelnen, sondern der ganzen Organisation. Wir sind in den Augen der Öffentlichkeit Schnüffler, Strauchdiebe und gelegentlich auch Versager. Wenn etwas schief läuft, dann war es der Geheimdienst. Läuft es hingegen gut, müssen wir das Maul halten. Es gibt keine öffentliche Erfolgsbilanz. Unser Sozialprestige ist miserabel. Selbstdarstellung nach außen ist verpönt. Wir müssen unsere Identität verleugnen, Doppelleben führen, dürfen nur Mittelklassewagen fahren. Das Outfit muss von C&A oder von Peek und Cloppenburg stammen. Bloß nicht auffallen, keine Exzentrik, keine Extravaganzen, keine Staussymbole, das ist die Devise.

Eitelkeiten können nicht durch Äußerlichkeiten oder Attitüden ausgelebt werden, obwohl wir uns doch als Elite fühlen sollen. Deswegen tobt der Kampf um Anerkennung im Inneren der Organisation. Der Ideenklau ist weit verbreitet. Die Vorgesetzten brüsten sich mit den Meriten ihrer Untergebenen. Das ist ja nichts Ungewöhnliches und auch in der Wirtschaft und der Wissenschaft gang und gebe. Aber bei uns hat das vielerorts neurotische Züge. Das führt dazu, dass man bunkert. Brisante, erfolgversprechende Informationen behält man erst mal für sich. Viele umgeben sich deshalb mit der Aura des Wissenden und der eine oder andere denkt sich spektakuläre Sachen aus und konstruiert Zusammenhänge, die es gar nicht gibt. Das führt immer wieder zu grotesken Fehleinschätzungen und zu Falschberatungen der Politik. Was meinen sie, wie viele Vorgesetzte schon gezielt durch Informationsintrigen ausgeschaltet worden sind.

Es herrscht ein Klima des Misstrauens und der Unzufriedenheit. In der Industrie erhältst du eine Prämie, wenn dein Verbesserungsvorschlag die Produktivität vorangebracht hat. Es wird über dich in der Firmenzeitschrift berichtet, du wirst gefeiert. Wenn du aber bei uns etwas Außergewöhnliches geleistet hast, dann gibt es vielleicht ein paar warme Worte unter vier Augen, dein Erfolg darf aber nicht öffentlich werden, weil ja dadurch deine Anonymität gefährdet ist.

Deshalb haben wir relativ viele Aussteiger. Die kommen damit nicht zu recht, dass es tabu ist, mit der Frau über den Beruf zu reden. Irgendwann fragen die sich auch, was sie ihren Kindern erzählen sollen, was Papi beruflich so getrieben hat. Sie sollen Helden sein, die das Vaterland retten, müssen aber unter dem Teppichflor laufen. Diesen Konflikten gehen viele Kollegen dadurch aus dem Weg, dass sie sich erst gar nicht dauerhaft in Partnerschaften binden. Die Amis machen das teilweise besser. Dort gibt es eine Verzahnung von öffentlichem und geheimem Leben. Hohe Dienstränge der CIA sitzen auch gleichzeitig in Führungspositionen der Wirtschaft oder von Nichtregierungsorganisationen. Die Durchdringung der konspirativen und der öffentlichen Welt ist viel inniger, als bei uns. Deshalb ist das Sozialprestige des Geheimdienstlers in den Staaten auch höher als in Deutschland.

Eines haben aber alle Geheimdienste gemeinsam. Sie erzählen den Politikern, dass sie ihnen über die Beschaffung geheimer Informationen Vorteile verschaffen können, was natürlich verlockend ist. Wissen ist Macht, das gilt ganz besonders für die Politik aber auch für die Industrie. Ist der Bedarf nach geheimen Informationen erst einmal geweckt, dann ist es ein Leichtes, Nachforderungen zu stellen. Manche Politiker sind regelrecht süchtig nach nachrichtendienstlichen Informationen. Andere trauen ihren eigenen Geheimdiensten nicht, so beispielsweise Stalin. Er war der Meinung, dass die nur hahnebüchenen Unsinn verbreiten würden. So wurde vom sowjetischen Geheimdienst gemeldet, dass Hitler Krebs hätte und das Jahr 1938 wohl kaum mehr erleben würde. Andererseits aber nahm Stalin nicht zur Kenntnis, dass das Unternehmen Barbarossa, der Überfall auf die Sowjetunion, unmittelbar bevorstand. Stalin notierte auf der geheimen Meldung, man solle den Berichterstatter zu seiner Hurenmutter zurückschicken, er sei ein Desinformant.

So, jetzt habe ich einiges aus dem Nähkästchen geplaudert. Noch Mal: Mein Name spielt keine Rolle. Ich halte es aber für wichtig, dass sie wissen, welche Welt sich hinter der glamourösen Geheimdienstfassade verbirgt.“

Das Myzel

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