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6. Der Roman
ОглавлениеK. nahm Papier und Bleistift zur Hand, setzte sich auf den Meditationsfelsen und fing an zu schreiben. Zunächst wagte er sich noch nicht an die Geschehnisse der jüngeren Vergangenheit heran. Er kreiste sie ein, indem er Szenen seiner Kindheit und Jugend aufscheinen ließ. Er war immer davon ausgegangen, dass er ein schlechtes Langzeitgedächtnis habe. Dem war aber nicht so. War das Licht im alten Erlebnis angeknipst, dann entwickelte sich die Szene wie von selbst und sogar Namen, die er für immer vergessen zu haben geglaubt hatte, wurden wieder präsent. Er hatte gar kein so schlechtes Gedächtnis, nur seine Zugriffszeiten auf die Fakten und Stimmungen von damals waren etwas länger. Durch die Entschleunigung im Campo wurde der Vorhang des Vergessens beiseite geschoben und die alten Figuren und vergangene Situationen wurden wieder lebendig. Er genoss diese frisch ausgegrabenen Erinnerungen wie einen Film, in dem er die Hauptrolle spielte und gleichzeitig Regie führen konnte.
Der Umfang seines Manuskripts wuchs. K. traute sich jetzt immer mehr an die literarische Aufarbeitung seiner jüngeren Vergangenheit heran. Kaiser, sein Nachfolger in der Health Care Foundation, der subversiv an seinem beruflichen Crash mit beteiligt gewesen war, hatte ihn dazu im letzten gemeinsamen Gespräch animiert. K.s Rausschmiss sei schon kurios verlaufen, das könne man nur in Form eines Romans darlegen, hatte der gesagt. Schon bald hatte K. gemerkt, dass es ihm keine Mühe bereitete, Gedanken und Szenen zu Papier zu bringen. Schreibroutine hatte er zwar schon reichlich durch seine zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen erworben, ihm war aber niemals klar geworden, dass es ihm auch bei der Schilderung seiner Erinnerungen nur so aus der Feder fließen würde.
Er schrieb sich an manchen Tagen in einen regelrechten Rausch hinein. Die Personen, Erlebnisse und Vorkommnisse vergangener Tage, teilweise weit zurückliegend, wurden wieder lebendig. Erinnerungslücken konnten beliebig mit dem, was die Imagination bot, aufgefüllt werden. Gedanken anderer Menschen lagen auf einmal offen. Er konnte neue Personen in die Handlungen einbauen und sich bei den realen Akteuren zusätzliche Charaktermerkmale dazu denken. Ja, er konnte lieben und sterben lassen, er war in seiner Komposition aus Fakten und Fiktionen der Überirdische. Dieses göttliche Agieren produzierte aber nicht nur gelungene Sentenzen, sondern auch absolut blödsinnigen Stuss. Am nächsten Morgen, noch einmal durchgelesen, mussten diese Ausschwitzungen auf der Stelle vernichtet werden.
„Was machst du denn den ganzen lieben langen Tag?“, fragte ihn Endo.
„Ich decke ein Dach“, antwortete K. „Jede Geschichte und jede Szene ist eine Schindel. Und die befestige ich auf den Dachlatten, mal in der Mitte, mal oben, mal unten, gerade so, wie es mir einfällt. “
„Aber ein Dach baut man doch von unten nach oben.“
„Das ist das Problem. Häufig passen die Schindeln nicht richtig übereinander. Dann darf man einen Teil wieder abmontieren. Manchmal glaubt man, dass jetzt eine Passage im Dach gelungen sei, bis man merkt, es regnet rein. Dann muss man isolieren oder neu decken. Bis du den Dachfirst aufsetzen kannst, ist es ein langer Weg. Und du weißt nie, ob du das Dach vollständig dicht bekommst.“
Fast jeden Tag gelang es ihm, eine neue Schindel zu montieren, also eine Episode aus seinem Leben in Worten fest zu halten oder neu dazu zu dichten. Doch wozu das alles? War es die Lust am Formulieren und Fabulieren? Das war sicherlich ein wichtiges Motiv. Es faszinierte ihn, wie sich aus kleinen Geschichten ganze Handlungen ergeben konnten, wie weit entfernte Dinge auf einmal zusammen liefen. Vielleicht würde sich einmal die Nachwelt dafür interessieren? Aber so spannend fand er seine Biographie dann auch wieder nicht.
Das war die offizielle Rechtfertigung, wenn er nach seinen Schreibaktivitäten befragt wurde. Insgeheim jedoch baute sich mit wachsendem Opus immer mehr der Wunsch auf, dass es vielleicht gelingen möge, einen Verlag für eine Veröffentlichung zu gewinnen. Dadurch hätte er endlich einmal eine größere Leserschaft für seine Elaborate erreichen können, nicht nur die kleine Schar der Fachkollegen, die seine wissenschaftlichen Publikationen und seine seltenen Editorials zu Themen, die eigentlich fast niemand interessierten, ganz gerne lasen. Er träumte sich in die Situation hinein, mit seinem famosen Werk auf den Sellerlisten von Woche zu Woche nach oben zu steigen.
Deswegen las er die bereits formulierten Passagen immer wieder kritisch auf kompromittierende Elemente hin durch. Natürlich wimmelte es nur so von charakteristischen Wesenszügen oder Situationsbeschreibungen, aus denen man unumwunden auf bestimmte Personen und Orte schließen konnte, allerdings nur, wenn man sie vorher schon kannte. Wenn er nun hier zu sehr verschleierte, dann verloren die Darstellungen ihre Würze.
Sicherlich war es auch ein Stück Psychotherapie, sich den ganzen erlebten Mist vom Halse zu schreiben. Er hatte zwar schon einmal von diesem Effekt gehört, war aber jetzt aus eigenem Erleben ganz überrascht, dass es tatsächlich funktionierte. Sein beruflicher Supergau, insbesondere wie er zustande gekommen war – auf der Höhe des Erfolgs, aber ausgepowert und dann mit Fußtritt expediert -, hatte in seine Seelenlandschaft tiefe Krater gerissen. Nach einem halben Jahr war er noch lange nicht vollständig aus dem tiefen Tal der Ohnmacht- und Versagensfantasien heraus. Doch durch das Niederschreiben der ursächlichen Erlebnisse und nachträgliche freie Korrekturmöglichkeiten gelang quasi eine Aktenablage mit Neudefinition der Biographie. Das befreite von den Schatten der Vergangenheit und gab Zuversicht.
So wie sein Abgang gewesen war und wie seine Gegner über den Buschfunk zu vermitteln gewusst hatten, musste er Dreck am Stecken gehabt haben, sonst hätte er den Kündigungsprozess vor dem Landgericht weiter getrieben und sich nicht mit einer Abfindung abspeisen lassen. K. stellte sich vor, wie sich alle seine damaligen Mitarbeiter und Geschäftspartner hochgradig verärgert oder genüsslich, je nach dem, wie sie sich im Roman wieder fanden, durch die Seiten pflügten, wie ihnen die Lichter angingen bei der Lektüre darüber, wie es wirklich gewesen war oder wie es K. empfunden hatte.
Da las K. in der Zeitung, dass Maxim Biller seinen neuen Roman Esra zurückziehen musste, weil in diesem Liebesdrama Autobiographie und Autofiktion eine Mischung ergeben hatten, welche nach Meinung der Hauptfigur und ihrer Mutter eine Einschränkung der Persönlichkeitsrechte darstellte. Ähnliches passierte einige Monate später. Die bereits ausgelieferte Biographie des Havemann-Sohnes Florian wurde aus dem Handel zurückgerufen. In diesem Buch begeht der Sohn Vatermord und bespiegelt manisch sich selbst. Einige Personen der Zeitgeschichte kommen gar nicht gut weg. Aber die monierten nicht, sondern eine Person aus einer amourösen Randepisode begehrte auf. Mehrere Kapitel im Manuskript mussten entfernt werden. Eine Neuauflage wurde erforderlich. K. verunsicherten diese Rohrkrepierer, aber er war nach mehreren Überarbeitungen seines Textes dann nicht bereit, noch mehr Authentizität über Bord zu werfen und seine zu Buchstaben geronnenen fiktiven Gemeinheiten noch mehr zu entschärfen.