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11. Fliegenpilz, Braunschweig im Herbst 2006
ОглавлениеDer Bahnhof mit einem der längsten Bahnsteige der Republik lag zwischen dem von Zaha Hadid in Form eines intergalaktischen Raumschiffs gestalteten Gebäude und den archaischen Kraftwerksblöcken mit den vier riesigen Schornsteinen. Es war um die Mittagszeit und es fegte ein eisiger Wind über das flache Land.
Bockhold hielt ein Schild in der Hand, auf dem ein Fliegenpilz abgebildet war. Dieses Schild hatte man telefonisch als Erkennungszeichen vereinbart. Es war der erste bewusste Kontakt K.s zum Myzel.
Der Mann lehnte eine Spur zu lässig am Geländer des Treppenabgangs. K. trat auf ihn zu. Die Begrüßung war herzlich, aber auch distanziert. K. kannte diese Art der Annäherung von anderen Begegnungen mit Amerikanern. Freundlich genug, damit der andere sich wahrgenommen und willkommen fühlt, aber gleichzeitig so reserviert und unverbindlich, dass man jederzeit den unkomplizierten Absprung hinbekam.
Bockhold war von seiner Erscheinung her primär unscheinbar, was eine seiner entscheidenden Stärken darstellte. Auffällig jedoch war die hohe raue Stimme, so als wenn er permanent erkältet gewesen wäre. Ungewöhnlich war auch sein trippelnder Gang mit stark nach auswärts gerichteten Schuhspitzen. Dies als Watscheln zu bezeichnen wäre jedoch übertrieben gewesen. Seine Kleidung war zweckmäßig und sportiv, so dass sie gerade noch als Business-Outfit durchging. Sie entsprach keinesfalls dem Dresscode eines Wallstreet-Anwaltes. Doch genau da kam er her. Er war ein Lawyer aus einer mittelgroßen Anwaltssozietät. Das Büro hieß Bronfman and Levy. Es hätte auch Cohen Blackstone Seligman heißen können. Bockhold war der Repräsentant dieser US-amerikanischen Kanzlei für deren Kunden in Deutschland. Das jedenfalls war seine offizielle Aufgabe.
Sie fuhren in das Büro des Anwalts. Transportmittel war ein alter VW-Kübelwagen. Der grau lackierte Wagen war erstklassig renoviert. Bockhold registrierte den bewundernden und gleichzeitig fragenden Blick K.s. „Das ist mein Hobby. Ich sitze ja hier an der Quelle“, sagte er.
Bockholds Büro war in einem schmucklosen Seitentrakt des Verwaltungsbaus mit Verbindung zu den Produktionshallen untergebracht. K. traute seinen Augen kaum. Der Arbeitsplatz Bockholds war eingezwängt von Bücherstapeln, Papierbergen und allerlei Autoteilen, wie Bremstrommeln, Achsschenkeln, Auspufftöpfen usw. Garniert wurde dieses Chaos durch Devotionalien rund um das Urauto des Konzerns, mit dem das Unternehmen groß geworden war. Schlüsselanhänger, Spielzeugautos, Embleme, Lenkräder, alles was mit dem Urauto irgendwie in Zusammenhang stand, war hier zusammengetragen worden.
„Suchen sie sich doch einfach einen Platz“, sagte der Anwalt.
K. schichtete einen Bücherstapel um, um einen Stuhl frei zu kriegen.
„Wenn mich nicht alles täuscht, sind sie ein glühender Fan des Urautos“, sagte K., während er sich umblickte und den Tand musterte.
„Das lässt sich schwerlich verheimlichen. In meinem Haus habe ich extra einen Anbau errichten lassen, wo ich noch wesentlich mehr davon untergebracht habe.“
Hier zeigte sich ein überzeugter Amerikaner von einem typisch deutschen Erzeugnis fasziniert. Dieser äußerlich zur Schau getragene Faible für ein Produkt, welches wie sonst keines das Deutsche verkörperte, stellte für Bockhold nicht nur eine geographische, sondern auch eine historische Brücke für seine offenen und verdeckten Aktivitäten dar. Tatsächlich hatte dieses Auto eine erstaunliche ikonographische Wendung hinter sich, von Hitlers KdF-Wagen zu Herbie, dem Lieblingsauto der amerikanischen Hippies. Und gleichzeitig war dieser Wagen zu einem Klassiker avanciert, bei dem niemand mehr nach den politischen Ursprüngen fragte. Das Nutzfahrzeug war zum Maskottchen mutiert. So konnte Bockhold eine unverdächtige Schminke anrühren, in der sich ein bisschen Politisches und ein wenig Romantisches innig verbanden. Mit seiner harmlosen laut zur Schau gestellten Sammelleidenschaft konnte er seine Angst vor Entdeckung und seine finsteren Machenschaften übertünchen. Einer, der sich so liebenswürdig skurril verhält, kann doch nichts Böses im Schilde führen. Das alles war also keine infantile Marotte, sondern kaltes Kalkül.
Kurze Zeit später verspürte K. Schwingungen im Boden. Er hatte den Eindruck, als wenn das ganze Büro in Bewegung gekommen wäre. Dazu hörte er ein fernes rhythmisches Rumsen. Da war eine Herde von mächtigen Sauropoden losgelassen worden und trampelte nun durch die Norddeutsche Tiefebene. K. warf Bockhold einen skeptischen Blick zu. Der lächelte milde und riet leicht spöttisch: „Sie sollten es machen, wie unsere japanischen Gäste. Die werfen sich blitzschnell unter den Tisch. Aber im Ernst, das ist kein Erdbeben, das sind die Rohkarosseriepressen. Sie sind zwar in den letzten Jahren deutlich verbessert worden, was ihr Schwingungsverhalten und ihre Lärmentwicklung anbelangt, aber ganz haben die den Spuk noch nicht in den Griff bekommen.“
K. hatte von Anfang an den Eindruck, dass er mit diesem Mann nie richtig warm werden würde. Dessen Anwesenheit erzeugte bei ihm Unsicherheit. Er meinte, von Bockhold insgeheim beobachtet und kontrolliert zu werden. Es würde schwer werden, eine partnerschaftliche Beziehung hinzubekommen.
Ohne große Umschweife kam der Anwalt nun zu dem Thema, was ihm zunächst einmal unter den Nägeln brannte. Er sei dabei, eine neue Verteidigungsstrategie für seinen deutschen Hauptklienten aufzubauen. Es ginge im Wesentlichen um Produkthaftungsfälle deutscher Unternehmen in den USA. In den 60er und 70er Jahren wären asbesthaltige Bremsbeläge von allen Autoherstellern verwendet worden und nun, 40 Jahre später meinten viele Menschen, dass diverse vorhandene oder nicht vorhandene Lungenkrankheiten auf die damalige Asbeststaubexposition zurückzuführen seien. Geschäftstüchtige Anwälte hätten sich dieses Themas angenommen. Ja es würde sogar regelrechte Mesothelioma-Lawyers geben, benannt nach einer speziellen Krebsform, die praktisch nur nach Asbestexpositionen auftritt. Diese Anwälte würden gegen die früheren Asbesthersteller und –verwender Sammelklagen anstrengen und erzielten dabei traumhafte Erfolgshonorare. Nachdem bereits die meisten damaligen Automobilzulieferfirmen in den USA, welche asbesthaltige Teile wie Bremsbeläge oder Kupplungsscheiben hergestellt hatten, durch exorbitante Kompensations- und Strafzahlungen in Konkurs gegangen waren, hätte die Klagewelle die Automobilhersteller erreicht. Es wären mehrere 100.000 Klagen vor Gericht anhängig. Davon betroffen seien auch deutsche Automobilfirmen.
Man hätte nun ein Budget zur Verfügung gestellt bekommen, um neue stichhaltige Argumente zu finden, mit denen man in den Courtrooms in den Staaten punkten könne. Das entsprechende Programm würde zunächst aufwändige und umfangreiche Analysen der alten Bremsbeläge und des Bremsstaubes vorsehen. Man wolle einerseits wissen, welche Asbestart verwendet worden sei und wie viele Asbestfasern sich im Bremsstaub wieder finden. Zum anderen sollte eine umfassende Literaturdatenbank aufgebaut werden, um jederzeit auf Argumente der Klägerseite fundiert reagieren zu können und um neue Verteidigungsstrategien argumentativ zu unterstützen. Durch den Mord an Grosser wäre hier eine schmerzliche Lücke entstanden, sagte Bockhold.
Den ersten Wissens-Check hinsichtlich Asbest überstand K. mit einigen Blessuren. Er hatte sich gründlich vorbereitet, bemerkte aber dann doch rasch, dass er große Lücken hatte und der Anwalt viel mehr über Asbest wusste als er. K. kannte allerdings die wissenschaftliche Szene in Deutschland, also die wenigen Spezialisten, die sich mit der pathogenen Wirkung von Asbestfasern auf den menschlichen Organismus befassten. Er wusste eine ganze Menge über deren Biographien, ihre Weltanschauungen und ihre Nebeneinnahmen. Das gefiel dem Anwalt außerordentlich gut, und das war die Grundlage für ein Beratungsabkommen, welches per Handschlag zustande kam.
Nach langen Stunden des gegenseitigen Abtastens und des Informationsaustauschs fragte der Anwalt K.: „Sagen sie mal, mit der Fasertoxikologie kennen sie sich ja ganz gut aus. Wie fit sind sie denn in der Neurotoxikologie?“
„Also mit der toxischen Wirkung von Schwermetallen und Lösemitteln habe ich mich auch jahrelang befasst. Da gibt es einige Publikationen von mir, beispielsweise zur Neurotoxizität von Blei oder von Benzol. Warum fragen sie?“
„Bei uns in den Staaten nehmen die Fälle zu, wo diese Gefahrstoffe aus der Automobilindustrie als Ursache für Gesundheitsschäden angeschuldigt werden. Wir haben beispielsweise mehrere Verfahren, in denen Antimonexpositionen als Auslöser für Lungenkrebs verantwortlich gemacht werden“, erklärte Bockhold.
„In Deutschland haben wir einen ähnlichen Trend“, sagte K.
„Ich denke, uns wird in Zukunft die Arbeit nicht ausgehen. Eines würde mich noch interessieren: Haben sie sich auch schon einmal mit Gehirnschrittmachern befasst?“
„Offen gestanden, nein. Beim Morbus Parkinson verwendet man solche Apparate. Aber viel mehr kann ich ihnen dazu nicht sagen.“
K. wunderte sich über diesen Exkurs Bockholds in die Neurowissenschaften, vergaß den Vorgang aber bald darauf.