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4. Tarifa, Frühjahr 2005

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Er hatte nicht nur das Bedürfnis, sondern er sah auch die zwingende Notwendigkeit, den ganzen Schlamassel schnell hinter sich zu lassen. Trotz Ebbe in der Kasse war sein Fluchtreflex übermächtig geworden. Möglichst weit weg, aber vertraut sollte der Fluchtpunkt sein. Da fiel ihm sein alter Freund Endo ein, der sich schon seit Jahrzehnten am südlichsten Punkt Europas niedergelassen hatte und dort ein kleines Hotel für Surfenthusiasten betrieb. Innerhalb eines Tages machte er sich auf den Weg. Er wählte die Landroute um in der anonymen Weite der iberischen Halbinsel seine Spuren verwischen zu können. Er rief nicht vorher an, weil er Angst hatte, dass sein Telefon und sein Handy abgehört werden würden. Von unterwegs könnte er eine öffentliche Telefonzelle benutzen, um seine Ankunft anzukündigen.

Die Gegend war ihm vertraut. Früher war er jeden Frühling hier her gekommen. Reizvoll war die Naturbelassenheit der Region, die jedoch nicht vollständig tourismusresistent geblieben war, kein Wunder, befand sich dort doch einer der schönsten Strände Spaniens. Der Küstenbereich war jedoch militärisches Sperrgebiet. Das hatte die üblichen Sünden der maximalen Erschließung als Ferienregion verhindert. Hochhausbeton und Pauschaltouristen gab es nicht.

K. bog nach Passieren des Hafenstädtchens an der ersten großen Kreuzung nach links in die Küstenstraße ab. Er zog die frische Meeresluft in tiefen Zügen ein. Zehn Jahre zuvor hatte man an dieser Stelle die Luft anhalten müssen, wenn der Levante blies. Damals hatte die nahegelegene Seifenfabrik ekelhaft nach vergammeltem Fisch und Ammoniak riechende Schwaden über die karge Landschaft gen Atlantik entsendet. Gott sei Dank existierte die Fabrik nicht mehr.

Weil hier immer der Wind blies, waren Miriaden von Windrädern auf den küstennahen Anhöhen und auf den Bergen Richtung Osten errichtet worden. Es sah aus wie eine Invasion von Schiffsmasten, als wenn die von Lord Nelson besiegte Armada des französischen Vizeadmirals Villeneuve vom Grund des Atlantiks wieder aufgetaucht wäre. Das Kap Trafalgar befand sich um die Ecke. Frappierend war, wie lautlos diese riesigen Apparate ihr Werk verrichteten. Stand man direkt unter einem sich drehenden Rotor, dann konnte man allerdings das leise rhythmische Fauchen der Flügel vernehmen.

Nach mehreren Kilometern schnurgerader Straße bog K. nach rechts ab. Gegenüber lag der Campingplatz mit Wohnmobilen aus aller Herren Länder. Die Straße verlor sich in einem Feldweg, der wohl mal eine leidlich ausgebaute Fahrbahn gewesen war. Davon kündeten einzelne Asphaltinseln. Der Weg schwang sich immer steiler mit engen Serpentinen den Hang hinauf. Rechts und links sah man eine üppige Vegetation, in der zahllose bizarre Felsen wie Skulpturen aufragten. Hier hatte ein Riese mit großen Brocken gewürfelt.

Nachdem man etwa zweihundert Höhenmeter bewältigt hatte, bog man auf ein Plateau ab. Da lag Endos Campo, mitten im Naturschutzgebiet. Es gab nur einen Nachbarn weit und breit, einen Kuhbauern, der ein paar hundert Meter weiter mit seinen wenigen Tieren in einem einfachen Gehöft hauste.

K. stieg aus dem Wagen aus und dehnte sich. Das letzte Mal war er vor fünf Jahren hier gewesen. Da hatte sich das Hausprojekt noch in der Planung befunden. Er setzte sich auf einen Gartenstuhl vor dem Haus. Mitten auf dem Vorplatz war vor einem Mauerfragment ein großer Sandhaufen aufgeschüttet worden, wahrscheinlich Bausand, dachte er sich. Und überall strichen Katzen herum.

Jetzt war der Hausherr angekommen. Endo hatte scharf gebremst. Er sprang aus seinem alten Land Rover.

„Hey Alter, gut dass du da bist.“

Es klang so, als wenn er nur auf K. gewartet hätte. Er drückte K. an seine Brust, dass diesem schier die Luft wegblieb.

Endo äußerte sich nicht zu K.s körperlicher Verfassung. K. empfand das als äußerst rücksichtsvoll. Man hätte durchaus Ansatzpunkte zum Frotzeln gehabt. Ein biologischer Zeitraffer hatte K.s Gesichtsregion aufquellen und zusammen mit der Haut am Hals verwittern lassen. Die Haare waren innerhalb der letzten fünf Jahre fast vollständig ergraut und auch lichter geworden. Über dem Gürtel wölbte sich ein breiter Kiel, den K. mit der Restkraft seiner Bauchmuskeln einzufahren versuchte.

„Jetzt zeige ich dir erst mal das Haus. Es hat sich einiges getan. Du bleibst ja ein Weilchen, da solltest du wissen, wo es lang geht.“

Das Haus selbst war nicht groß. Das Erdgeschoss wurde beherrscht durch einen großen Raum. Dahinter lag eine kleine Küche. Über eine schmale Holztreppe gelangte man in das niedrige Obergeschoss, welches über eine Galerie mit dem Hauptraum verbunden war und auf dem sich mehrere Schlafgelegenheiten befanden. Das alles war schlicht und bescheiden. Dem lag kein anspruchsvolles gestalterisches Konzept zugrunde. Alles war durch reine Zweckmäßigkeit geprägt.

Seitlich von der Terrasse führte eine Treppe hinab auf eine weitere ebene Fläche. Hier versammelte Endo seine Karatefreunde für meditative Übungen und die Durchführung der gemeinsamen Kata, genau vorgegebenen Bewegungseinheiten zum Training für den Ernstfall. Der künstlich angelegte große Tümpel unweit des Hauses war an seinen Rändern mit Schilf zugewachsen. Überall lagen Schläuche herum, welche zum komplizierten Wasserversorgungssystem gehörten.

Endo war der alte geblieben: Gedrungener Körper, harte Muskulatur, kein Gramm Fett, leichte O-Beine, eine wilde sonnengebleichte grau-blonde Mähne struppigen Haares, prominente Nase und ein schraubstockartiger Händedruck. Gegen ihn verblasste jeder Actionheld zum Abziehbild. Endo war das Original. Seine Fingergelenke waren rechts wie links keulenartig aufgetrieben. Tausende von Impulskontakten beim Zertrümmern von Holzlatten und Ziegeln hatten die Finger knorrig gemacht.

Der Mann war voller positiver Energie. Selbst in der Zeit, in der seine beiden Hüftgelenke ihre ursprüngliche knöcherne und knorpelige Struktur zunehmend verloren hatten und sich Gelenkkopf und -pfanne im Röntgenbild als eine amorphen Masse darstellten und er nur noch unter ständiger Schmerzmittelzufuhr und dennoch nicht schmerzfrei laufen konnte, selbst dann war die Aura der Unbesiegbarkeit da gewesen. Gleichwohl hatten sich die Gramfalten tief zwischen Nase und Mund eingegraben.

Er hatte die Hüftoperationen so lange wie möglich hinausgezögert. Als es dann wirklich nicht mehr ging, wählte er eine Operationsmethode aus, welche den Oberschenkelhals erhielt. Nur die Kugel musste geopfert werden. Was ich hab, hab ich, das war sein Hauptmotto und so verfuhr er nicht nur mit seinen Knochen, sondern auch mit seinen Besitztümern und Freundschaften.

Nach einem kurzen Rundgang über das Areal ließ Endo trockenen Chiclana aus dem großen Glasballon laufen und sie machten sich über die mitgebrachten Tappas her. Und während man über die gemeinsamen Freunde sprach, verschwand die Sonne Andalusiens hinter dem Horizont. Zwischendurch stand Endo auf und verschwand im Dunkeln. Sein Wiederauftauchen wurde von diversen Schmatzgeräuschen begleitet. Er hatte die Fressnäpfe der Katzen gefüllt. In den Nischen der alten Mauer verspeisten die Tiere ihre Abendmahlzeit.

„Ich habe ein Herz für Katzen. Das hat sich herum gesprochen. Von überall her laufen mir die Tiere zu. Die fressen mich arm. Und sie haben hier überall hingepinkelt. Jetzt habe ich sie so weit, dass sie ihr Geschäft auf dem Sandhaufen verrichten.“

Die Katzen schmatzten unentwegt und die Zikaden zirpten um die Wette.

„Übrigens, ich habe einen Meditationsfelsen“, informierte Endo, „komm mal mit.“

Vom Plateau des Hanggrundstückes führte ein Holzsteg auf einen vor gelagerten Felsbrocken. Dort oben konnten zwei Personen bequem sitzen.

„Morgen früh wirst du sehen, dass gleich hier unten ein Mangrovenhain liegt. Vereinzelt sind Pinien und Zypressen eingestreut. Darunter liegen Wiesen, auf denen wilde Calla-Blumen wachsen. Hinter der Landzunge liegt Gibraltar und gegenüber sieht man bereits auf der afrikanischen Seite in Umrissen die Felsformationen von Ceuta. Was da rechts flimmert, das sind die spärlichen Lichter von Tanger.“

K. war überwältigt. Der Sternenhimmel war hier irgendwie üppiger mit Gestirnen ausgestattet, als zu Hause. Der fast volle Mond warf einen fahlen Lichtstreifen auf die leicht ondulierte Fläche des Atlaniks. Weit und breit war kein Schiff zu sehen.

Beide schauten über Landschaft und Meer.

„Wie oft kann man einem die Eier abschneiden?“, fragte K.

„Wenn du beide auf einmal abnimmst, dann eigentlich nur ein Mal.“

„Richtig. Und mir wurden beide zugleich abmontiert. Ich bin psychisch entmannt worden. Bei derartigen Metamorphosen verliert man ganz schnell Reputation, Anerkennung, Respekt und soziale Stellung, alles Dinge, die sich langsam aufbauen und die einem dann ganz selbstverständlich erscheinen. Das alles ist nach der Operation schlagartig vorbei. Man ruft dich nicht mehr an, auf der Straße schaut man an dir vorbei, deine Meinung interessiert keine Sau mehr. Einmal im Abseits besteht die Gefahr, dass du deine Bemühungen verstärkst, um wieder so etwas Ähnliches wie deinen alten Status zu erreichen. Und dann kann es passieren, dass du ganz schnell dumme Sachen machst, die dich noch schneller ins soziale Off befördern.“

Endo schaute K. von der Seite an und lachte. „Du hast das einzig Richtige gemacht. Du bist hierher gekommen.“

„Ich sehe mich mit meinen letzten Habseligkeiten im geklauten Einkaufswagen auf dem Weg zu meinem neuen Zuhause. Und das liegt unter der Brücke, wo ein großes Feuer in einer Tonne lodert. Um das Feuer stehen verkommene Typen mit zotteligen Bärten und die haben Literflaschen Billigwein in der Hand und grölen. Hier muss ich mich ganz weit hinten anstellen, damit ich dann auch mal kurz an die warme Tonne darf.“

„Ach nun lass mal, wir finden deine Eier schon wieder“, war der einzige Kommentar zu K.s Lamento. Endo dachte nicht komplex, sondern geradeaus.

K. wusste, dass er erst mal mit sich selber ins Reine kommen musste, bevor er weitere Pläne schmieden könnte. Er spürte im Laufe der Tage in der Einsamkeit der Küstenberge, wie langsam wieder Zuversicht bei ihm einkehrte. Der Aufenthalt im Campo und die Begegnungen mit Endo wirkten wie eine geheime Kräutermixtur in der Wundsalbe, welche er auf seine aufgescheuerte Seele streichen konnte. Langsam bildeten sich Narben und er fasste wieder Zutrauen zu sich selber.

Die Stadtresidenz Endos, das Kloster, lag Mauer an Mauer direkt neben der Kirche. Auch damals schon hatte man kurze Wege geschätzt. Beide Gebäude hatten einen gemeinsamen Vorplatz, den Engelsplatz, nur wenige Gehminuten vom Stadtzentrum entfernt. Genau genommen gab es gar kein Stadtzentrum, das Cafe Central war der städtische Mittelpunkt, zumindest für die Surfer.

Vom Engelsplatz aus war vom Kloster nur ein schmaler Wandstreifen zu sehen. Deswegen unterschätzte man die wahren Ausmaße des Gebäudes. Der Eingang war überwuchert von purpurfarbenen Buganvillen. Öffnete sich ein Flügel der Eingangstüre, trat man in ein großes Patio, welches sich über vier Etagen erstreckte. Von den Galerien gingen die Türen zu den unterschiedlich großen Appartements ab. Diese Architektur war zum Zeitpunkt, als Endo das Kloster erworben hatte, faktisch nicht existent. Er hatte eine Ruine gekauft. Bei den peu a peu fortschreitenden Sanierungsarbeiten hatten sie Kinderskelette im Bereich der Fundamente gefunden. Es war also tatsächlich ein Frauenkloster gewesen.

Damals vor zwanzig Jahren war das Experiment losgegangen. K. war sich sicher, dass der gute Freund scheitern würde und allenfalls eine aufgeräumte Schutthalde zustande käme. Er wohnte damals im einzigen Hotel direkt am Strand, dem Dos Mares, errichtet auf Weltkrieg-II-Bunkern. Endo hingegen hauste mit einigen Freunden in der Ruine. Er hatte eine provisorische Dusche im Patio installiert. Ohne Türe, ohne Vorhang konnte hier geduscht werden. Endo nannte es die Bärenshow, wenn die Damen im lauwarmen Strahl des Duschprovisoriums ihrer Körperpflege huldigten. Niemand konnte sich auch nur im Entferntesten vorstellen, wie aus diesem Arrangement jemals eine geordnete häusliche Infrastruktur entstehen sollte.

Jahre später existierten vier Etagen. Das Patio war mit einer Glaskuppel überdacht und unten, am Ort der einstmaligen Bärenshow, stand eine Kutsche aus mittelfränkischer Produktion - mittlerweile fast hundert Jahre alt - auf einer mit Ziegelfliesen belegten Grundfläche. Darüber baumelte ein wunderschöner Leuchter, ganz aus graublauem Glas gefertigt, mit einem Durchmesser, so groß wie ein Wagenrad, viel zu schade für die rustikale Umgebung. Der Lüster – K. konnte seine Historie nicht genau nachempfinden, irgendetwas zwischen Biedermeier und frühem Art Deco war es wohl - hätte sich prächtig als Lichtquelle in einem Berliner Loft gemacht. Oben auf der Dachterrasse flatterten Carmens Dessous zwischen der Bettwäsche im unablässigen Wind.

Wer hätte das gedacht: Das Gebäude war reanimiert worden. Keine Frage, es gab größere Projekte, es gab woanders mehr Glamour, mehr Chichi, mehr Architektur. Aber es gab nur wenige Gebäude, denen man anmerkte, dass sie durch den Willen und die Kraft eines Einzelnen entstanden waren.

Mehrmals in der Woche begab sich K. nachmittags in die Stadt. Er kaufte das Nötigste ein, viel brauchte er nicht zum Leben. Immer schaute er im Kloster am Engelsplatz vorbei. Häufig blieb er bis abends. Ganz selten, wenn der Fino zu reichlich geflossen war, fiel er zu später Stunde in das Bett eines leeren Appartements, um dann am nächsten Morgen mit Endo und Carmen zu frühstücken.

Der bevorzugte Platz am Abend war eine Sitzgruppe auf der Dachterrasse. Nach dem heißen Tag spendete der ablandige Poniente angenehme Kühlung.

K. bemerkte eine auf dem Tisch liegende Visitenkarte. Er nahm sie beiläufig in die Hand. Jerry Gibson, Chief Executive Officer DELPHI, stand auf der Karte.

„Wie kommst du denn an den?“, fragte er Endo erstaunt.

„Der war heute Vormittag hier. Er will nächstes und übernächstes Jahr das Kloster für mehrere Monate mieten und zwar das ganze Kloster.“

„Du weist schon, wer das ist?“

„Klar, der drittreichste Mann auf der Welt.“

„Der hat eine Yacht, die ist fünfmal so groß wie dein Kloster. Was will er hier?“

„Nicht er, sondern seine Jungs sollen hier wohnen. Es ist noch nicht offiziell, aber der nächste Americas Cup wird in Tarifa stattfinden.“

Das Myzel

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