Читать книгу Insein für Outsider - Paul Mesa - Страница 11
ОглавлениеDie Vernunft auf dem Mountainbike, Downhill
Tizian beugt sich zu Lissa herunter. Um sie zu küssen! Danke, das will sie nicht sehen, das war’s, cut, cut, verdammt!
Aja hat bloß ein bisschen vor Tizians Haus rumgelungert. Gott! Gehört sie echt zu der Sorte hoffnungsloser Mädchen, die so was tun?
Yup.
Dann ist Lissa an seiner Haustür aufgekreuzt und sieht einfach nur zum Niederknien gut aus. Aja würde ihr beim Niederknien natürlich in die Wade beißen.
Aber ... he, von Tizian gibt’s kein Kussi, nur ein Bussi.
Elegant schwingt Lissa sich hinter ihm auf den Roller. Sie klammert sich fest (so fest ist echt nicht nötig) und dann fahren sie los.
Aja schwingt sich hinter niemandem und ganz sicher nicht hinter ihrer Vernunft aufs Rad und strampelt sich einen ab, um Ti und Li nicht zu verlieren. Der dichte Samstagnachmittagverkehr hilft, rote Ampeln müssen dran glauben, sorry, und, ups, fast die dicke Dame mit dem Einkauftrolley und dem dicken Kater darin.
Die Strampelei hat ein Ende, als die Verfolgten anhalten und absteigen und Lissa ihr Haar schüttelt und sich sofort sämtliche Blicke auf sie stürzen wie Geier auf gut abgehangenes Aas. Die Haare im klassischen Out-of-Stampede-Look hechelt sie Ti und Lis zu Fuß hinterher, so professionell Deckung suchend wie der Verfassungsschutz auf zwei müdgeradelten Beinen.
Lissa schleppt Tizian in einen Modeladen, Aja bezieht draußen Posten. Es fängt an zu nieseln. Sie holt ein paar Socken aus ihrem Rucksack, aber statt sie anzuziehen, streift sie sie über ihre Hände. Zwar versteht sie kein Wort von dem, was Tizian und Lissa hinter der Schaufensterscheibe reden, aber sie malt es sich aus:
»Gefalle ich dir?«, fragt die linke Socke.
»Das Wort gefallen«, erwidert die rechte Socke, »wird deiner Schönheit nicht annähernd gerecht, Liebste.«
Die linke Socke kichert.
»Bin ich die Schönste im ganzen Land?«
»Aber ja, Liebste, gleich hinter Aja Freumbichler. Sieh sie dir nur an, wie sie sich da die Nase an der Schaufensterscheibe plattdrückt und mit ihren Socken spricht und immer nasser wird. Ist sie nicht ein wahrgewordener Traum?«
Modeladen Nummer 2. Aja bezieht Posten. Die Socken schweigen. Der Niesel wird Regen. Modeladen Nummer 3. Aja bezieht Posten. Die Socken kleben halbtot an Ajas Händen. Der Regen wird Wolkenbruch.
Aja wird nass und sauer, Grapefruitschorle auf zwei total erledigten Beinen. Die Haare im klassischen Out-of-Kläranlage-Look. Eine Sekunde, bevor Lissa vor Tizian aus dem Laden tritt, hört der Regen auf und die Pfützen glitzern wie hingestreute Diamanten vor ihren Sandalen.
Aja folgt und tappt in eine trübgraue Lache und saut sich zu.
Der vierte Fashionstore hintereinander und keine billige Teenie-Mode! Das sind mehr First-Hand-Läden, als Aja im letzten Jahr von innen gesehen hat. Geduckt stolpert sie in eine Hofeinfahrt. Auf der anderen Straßenseite treten Lissa und Tizian in den Laden, aus dem Hip-Hop bullert. Durch das Schaufenster sieht Aja sie mit der blonden Verkäuferin lachen. Tizian lacht auch.
Dieser Verräter.
Neben dem Laden sitzen Leute in der frischen Sonne und trinken etwas Kühles, die Wassertropfen auf den Gläsern und auf den Tischen glänzen bis rüber zu ihr. Tizian muss halb verdurstet sein nach den vielen Komplimenten, die er Lissa machen musste. Aja wird sich ins Café setzen und ihm einen Stuhl freihalten. Erst vorzeigbar machen! Wenn Sie Glück hat, müssen im Klo des Cafés gerade eine Frisörin, eine Stylistin und eine Schönheitschirurgin Pipi.
Ein Müllwagen rumpelt vorbei. Aja tritt hinter ihm auf die Straße und streift die Handpuppen ab. Nach links und rechts schauen ist was für Spießer. Das große Weiße in ihrem rechten Augenwinkel sieht so unschuldig aus wie eine Schäfchenwolke. Aber ist nicht auch Moby Dick groß und weiß?
Im selben Moment, als das große Weiße ihre Beine berührt, blickt Tizian aus dem Kleiderladen nach draußen. Ihre Blicke treffen sich.
Eine schwarze Sekunde ohne Erinnerung später findet Aja sich auf einer Motorhaube wieder, die größer ist als Texas. Durch die Windschutzscheibe winkt ihr eine alte Dame fröhlich zu, und neben ihr sitzt ein mozzarellaweißer Typ, den Aja schon mal irgendwo gesehen hat.
Auf den zweiten Blick ist der Käse eindeutig Ohrzungen-Flash. Die Erkenntnis muss länger gebraucht haben. Als Aja damit fertig ist, liegt sie in stabiler Seitenlage auf der nassen Straße und einem Pappbecher. Lissa kniet neben ihr und will sie küssen.
Gerade rechtzeitig wendet Aja den Kopf ab und Lissas Lippen landen auf ihrem Ohr.
»Lass mich!« Igitt. Was finden in letzter Zeit nur alle an ihren Ohren?
»Ich glaube, sie braucht keine Mund-zu-Mund«, sagt Tizian. Wo hat er auf einmal die Handpuppen her?
»Alles in Ordnung? Aja?« Flash zieht sie sanft unter dem Auto heraus. Sie ist zu müde, sich zu wehren. »Der Krankenwagen ist unterwegs.«
»Du bist gefahren!«
»Wenn Flash nicht so toll reagiert hätte«, sagt Lissa, »wärst du jetzt eine widerliche Masse Matsch.« Die Umstehenden unterhalten sich über den Wagen: Cadillac oder Klimakiller, Vintage oder Asbach Out?
»Ich musste langsam machen«, sagt er, »wegen dem Müllwagen.«
Ein Polizist kommt angerannt, klatscht durch eine Pfütze, er hat was von einem empörten Hühnerküken.
»Was ist passiert?« Mit hektisch ruckendem Kopf sucht er nach Hinweisen auf den Unfall- oder Tathergang.
»Ich habe alles beobachtet«, sagt einer der Müllmänner. Er sieht aus wie die Rolling Stones. Wie alle zusammen. Nach einer langen, langen Nacht. Er nimmt seine Brieftasche heraus und reicht dem Polizisten eine Visitenkarte. »Ich stehe Ihnen als Zeuge zur Verfügung.«
»Dann bestätigen Sie ...«, beginnt der Polizist.
»Die Dame ...«, sagt der Müllmann.
»Philomena«, sagt die Angesprochene und flasht ihre Dritten. »Ich hatte ein Stück die Straße runter mal einen Hutladen.«
»Philomena ist gefahren«, sagt der Müllmann. »Sie musste bremsen, weil Klaus mit dem Müller die Straße blockiert hat. Das Mädchen ist ihr einfach auf die Haube gestiegen.«
»Das tut man nicht«, sagt der Polizist zu Aja und droht mit einem Finger und sieht aus wie Tick, Trick und Track.
»Jawoll, Herr Hauptwachtmeister, Sir!«, schmettert Aja und salutiert.
Der Müllmann gibt auch ihr eine Karte, schweres Papier, edler Tiefdruck. Sie riecht nach etwas, was Natalie Portman zum Spielen in eine dunkle Hofecke schleppen würde. »Recyclingbrokerage« steht darauf.
»Ich bringe Müll an die Börse«, sagt der Müllmann, der laut Karte Werner Schörling heißt.
»Damit verdient man Geld?«, fragt Tizian.
»Bisher habe ich nur die Businesskarten«, sagt Werner. »Irgendwo muss man anfangen.«
»Du hättest sterben können«, sagt Flash mit genug Weiß im Gesicht, um eine Vierzimmerwohnung zu tünchen.
Aja fühlt sich so bleich, wie Flash aussieht. Sterben? Sie wäre bei Roman. Sie streicht über ihren Nacken, die Narbe dort. Sie will nicht sterben. Wieso kommt sie sich deshalb vor wie eine Verräterin?
»Dein Vater ...«, sagt Flash, den Rest verschlingt das Martinshorn des Rettungswagens. Ein Notarzt springt entschlossen heraus, die Sirene verstummt abrupt.
»Wo ist das verdammte Opfer?«, brüllt er mit der Stimme eines ausgebildeten Opernbaritons.
»Kein Opfer hier«, brüllt Flash genauso laut zurück, obwohl er keine fünf Meter vom Notarzt entfernt steht. Das Leben ist zurück in seinen Wangen. Er wendet sich Aja zu und schreit die vor ihm auf dem Boden Sitzende an: »Die Adresse deines Vaters!«
»Was?«, kreischt Aja.
»Dein Vater hat versucht ...«, beginnt Flash, wieder normal laut. Er zieht sie hinter sich her zur offenen Hintertür des Krankenwagens. »Erkläre ich dir unterwegs.«
»Sich umzu...?«, fragt Aja mit einer Stimme wie Wackersteine. Ohne auf Flashs Antwort zu warten, macht sie sich von ihm los. Flashs Gesicht verkrampft sich vor Enttäuschung. Sie kapiert nicht wieso, kapiert es irgendwie doch, aber hat jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken.
»Drücken Sie drauf«, ruft sie dem Rettungswagenfahrer zu und stürzt zu Tizian. »Du fährst mich«, sie schubst ihn zu seinem Roller. Bei dem Verkehr sind sie auf zwei Rädern schneller. »Na los, press Gas. Vergiss, was du in der Fahrschule gelernt hast, rot heißt rüber ohne Tempodrosseln.«