Читать книгу Insein für Outsider - Paul Mesa - Страница 8
ОглавлениеPreußische Tugenden und reichlich troubled Water
»Sie sind in den Himmel geflogen?«, fragt Ajas Paps. »Wow. Was fährt er noch mal für ein Modell?«
Aja stupst ihn an. Sie stupst ihn gern an. Sie will so viel wie möglich von ihm haben, an den Freitagnachmittagen, die nur ihnen beiden gehören. Sie fasst ihn dauernd an. Könnte ja sein, dass er sich in Luft auflöst, einfach so. Man hat schon von Vätern gehört, die genau das gemacht haben, oder?
Zum Beispiel, wenn ihre Töchter ihnen eröffnen, dass sie nach dieser Saison die Schule schmeißen. Bloß den richtigen Moment abpassen.
Sie grinst. Er kaut. Sie liebt es, ihren Paps essen zu sehen. Unverscheuchbare Spatzen hüpfen zwischen ihren Beinen herum und sie alle sehen aus wie Dirk Bach mit Schnabel.
»Noch etwas Wasser?«, fragt der aufmerksame Kellner.
Sie sitzen bei ihrem Lieblingsdeutschgriechen, wie jeden Freitag seit zwei Jahren, auf der Terrasse unter einem an den Ecken leicht angeschimmelten Sonnenschirm, und schwitzen die Woche aus und all den Plunder, der ihnen in den letzten sieben Tagen quergelaufen ist. Das Ajax ist das Lieblingsrestaurant ihrer Familie, schon seit der Zeit, als sie noch eine Familie war.
»Haben Sie nicht auch bernsteinfarbenes Wasser? Mit Retsina-Geschmack?« Ajas Paps blinzelt dem Kellner zu.
Dieses Mal stupst Aja ihn so fest, dass er fast vom Stuhl kippt.
Der Kellner zieht die Brauen hoch.
»Wir haben Ouzo.«
»War nur ein Scherz«, sagt Gadd. So nannten sie ihn, als er noch ein gefragter Drummer war. Aja wird den Namen so lange benutzen, bis er genau das wieder ist.
»Ein Scherz.« Aja zupft wütend an ihrem Ohrläppchen, ungewohnt der Luft ausgesetzt, die vielen Haare ordentlich nach hinten gebunden, Modell Pferdeschwanz Mustertochter. Sie trägt ein Sommerkleid, Millefleurs, ein neues, das sie später in Eddas Second-Hand-Laden verscheuern wird. Sie hat es in Mamsell Müllers Citroën angezogen, die sie an der Haltestelle aufgelesen und sie, merci beaucoup, hierher gefahren hat.
Gadd trinkt sein Wasser und blinzelt Aja über den Rand des Glases zu. Er bleibt aussehensmäßig ein wenig hinter seinen Möglichkeiten. Ehrlich gesagt bleibt er so weit dahinter, wie die Sonne von der Erde weg ist. Immerhin gibt er sich Mühe. Seine grauen Haare sind stumpf, doch frisch gewaschen und zusammengebunden. Er hat sich rasiert, so gut es eben geht mit zitternden Fingern. Sogar seine Sonnenbrille hat er abgesetzt. Bad move. In seinen Augen verzweigen sich rote Äderchen von der Größe des Amazonas-Deltas.
»Dein Tizian wird die Schönheit bald satthaben«, sagt er.
»Ich glaube nicht mehr ans Christkind, egal, was Herr Sarytchew predigt.«
»Dann wird eben Lissa ihn abservieren.«
»Frohe Weihnachten, Paps.« Niemand serviert Tizian ab, niemals. Auch bei Lissa wird das keiner wagen. Zwei Mal keine Chance ist immer noch ziemlich wenig. Shit. Sie tritt nach den Spatzen.
»Solange er auf deiner Schule ist, besteht Hoffnung. Jeden Tag kann was passieren. Auf dem Schulhof. An der Haltestelle. Zwischen zwei Schulstunden. Ich habe Sabine auf dem Campus kennen gelernt.«
Ihr Paps legt einen salzigen Finger mitten in ihre Wunde. Wie soll sie Tizian überhaupt noch begegnen, wenn sie in irgendeiner Lehrwerkstatt Motorteile feilen oder Haarteile fegen muss?
»Love is stranger than fiction«, sagt Gadd, »hm?«
Die Essen mit ihrem Paps folgen einer eingespielten Dramaturgie. Sobald er mit der Liebe anfängt, kontert sie mit Sabines Männern.
»Sabine hat einen Neuen.«
»Weißt du, was ich hier mag?«
»Ja«, sagt Aja, aber Gadd redet einfach weiter.
»Dass keine Musik läuft. Das Schlimmste, was du Musik antun kannst: dass du sie zum Hintergrundgedudel erniedrigst.«
»Komm schon, du willst es doch wissen, das mit Sabine.« Er winkt ab, aber Aja fährt unbeeindruckt fort: »Ein Jurist ohne ein einziges Haar auf dem Kopf. Typ Serienkiller. Abartig. Steht auf Pétoncle. Und Sabine hat ihm von Roman erzählt. Heißt Edgar Richter, nein, Pförtner ...«
»Gärtner«, sagt Gadd und er sieht noch ein bisschen mehr aus wie die ehemals reinweißen Tischdecken hier vor zehn Jahren.
»Du kennst ihn?«
»Entschuldigen Sie.« Eine Stimme hinter ihr lässt sie herumfahren. Ricardo, einer der Köche, ein nach Zwiebeln riechendes Bierfass Mitte zwanzig tritt zu ihrem Tisch. »Sie sind Gadd Freumbichler! He, Mann, was geht!«
»He!«, gibt ihr Vater zurück, offenbar noch bei Roman und dem Eiermann.
»Ich liebe Ihre Arbeit auf ... auf ...« Er sieht Aja fragend an.
Sie rollt die Augen, dreht sich zu ihm um und sagt tonlos:
»Die CD.«
»Die CD«, wiederholt er laut. »Genau.« Er zieht mit einem dummen Grinsen eine CD aus seiner Tasche und liest stockend den Titel: »Preu... Preußische Tugenden.« Er runzelt die Stirn, die CD in seiner Hand bekommt langsam Fettflecken.
»Sie wollen bestimmt ein Autogramm von Gadd. Das ist mein Paps.« Sie hört sich überzeugend stolz an, wie sie findet.
»Haben Sie einen Stift?«, fragt Gadd. Kann es sein, dass er noch ein Stück deprimierter aussieht?
»Danke, Mann«, sagt Ricardo. »Ich muss zurück zu meinem Rostbraten.«
»Die CD.« Gadd hält sie ihm hin. Seine Hand zittert, aber endlich greift Ricardo zu und verzieht sich. Für diese miese Vorstellung hat sie ihm zehn Euro bezahlt und eine CD geschenkt?
»Cool, oder?«, sagt sie überschwänglich. »Dass sie dich immer noch erkennen.«
»Sie lieben mich«, sagt Gadd so traurig, dass Ajas Herz in tausend Teile bricht. »Fünf Jahre, fünf scheiß lange Jahre, in denen ich keine Sticks mehr halten kann. Geschweige denn, damit irgendwas treffe, was kleiner ist als Kanada.«
»Du machst Fortschritte. Das hast du gesagt. Das stimmt doch?«
»Preußische Tugenden«, sagt er leise, wie zu sich selbst. »Jeden Tag meine vier Stunden geübt, und ich meine, jeden beschissenen Tag. Immer der Erste im Studio. Wenn Not am Mann war, habe ich den Roadies geholfen, aufbauen, abbauen, ich habe die Band mit Essen versorgt, mit dummen Witzen und mit Trost. Ich habe sie gefahren, ich habe die Verträge ausgeschwitzt mit unserem verlogenen Dreckschwein von Manager. Hat ihn nicht davon abgehalten, sich mit der Kohle abzusetzen und der Journaille Lügen über mich zu erzählen. Und die Typen vom SWR, über die man hier dauernd stolpert, kennen mich nicht mehr.« Er fährt sich über die schwitzige Stirn.
»Du hast dir zu viel Stress gemacht.«
»Jeder hat Stress. Aber nicht jeder geht deswegen mit Cuervo Gold ins Bett, von den Frauen ganz zu schweigen.«
»Mama hätte ...«
»Sabine hat das einzig Richtige getan. Mir den Stiefel zu geben. Zerbrochene Drumsticks kann man nicht flicken. Da bleibt nur eins: wegschmeißen.«
Jetzt sind sie doch wieder da, wo sie jedes Mal hinkommen. Egal, was sie versucht, egal, wie gut das Essen oder wie schön das Wetter ist, egal wie viele Witze sie reißt oder wie sehr sie Sabines neuesten Mann verspottet, irgendwann landen sie und ihr Vater immer wieder an dieser düsteren Stelle: Tod bei Sonnenfinsternis über Schwarzafrika.
»Wir haben heute unsere Projektteams gebildet«, sagt sie rasch, um irgendetwas zu sagen.
»Der P-Day, richtig, hatte ich ganz vergessen. Und?« Er reibt sich die feuchten Augen und lächelt, dass Ajas zerbrochenes Herz in noch kleinere Teile bricht. Sein Lächeln gefriert und er blickt an ihr vorbei zum Nachbartisch, wo eine Kellnerin ein Tablett mit klaren Schnäpsen serviert. Aja rückt ein Stück mit ihrem Stuhl, genau in seinen Blick. Wut kocht in ihr hoch wie auf der Herdplatte vergessene Milch.
»Ich muss ein Projekt mit dem größten Idioten der Schule machen, ein kleiner, schmieriger Aufreißertyp. Er sagt, ich stinke nach faulen Bananen, und dann versucht er, mir die Zunge ins Ohr zu stecken.« Sie erschrickt über ihre Lügen. Sie hat jemanden verletzen wollen, egal wen.
»Du kriegst das hin«, sagt Gadd. Jetzt zittert sogar seine Stimme, ein Tick flackert in seinem linken Auge. Er setzt seine Sonnenbrille auf.
»Klar«, sagt sie mit dem schlechtesten Gewissen von hier bis Ostsibirien.
»Weißt du, dass ich deine Sommersprossen liebe?«, sagt er.
»Das erzählst du mir jedes Mal.«
»Sind es noch dreihundertvierundsiebzig?«
Er hat sich die Zahl gemerkt, trotz seines zersoffenen Hirns. Sie könnte heulen vor Freude, doch auf einmal ist diese hilflose Wut wieder da, wegen des Alks, wegen ihrer Entscheidung, die Schule zu schmeißen, die ihr mit jeder Minute dämlicher erscheint – und ihrer fest eingeplanten Lovestory mit Tizian abträglicher.
»Zähl nach, wenn du es wissen willst.« Sie steht auf, um den Schirm zuzuklappen, damit Gadd sie besser sieht, damit ihr neue Sprossen wachsen, damit sie nicht explodiert vor Wut. Aber der rostige Schirm denkt nicht daran, sich zumachen zu lassen. Sie tritt dagegen und ein überraschter Spatz fällt von seinem Rand auf den Nebentisch, mitten hinein in ein Königinnenpastetchen. »Das hier ist doch nur Show«, ruft sie. »Du reißt dich ein paar Stunden zusammen, damit ich dich den Rest der Woche in Ruhe lasse und du dich volllaufen lassen kannst.« Sie knallt ihren Hundert-Euro-Schein auf den Tisch. »Behalt den Rest.«
»Ich bin stolz auf dich«, ruft er ihr hinterher, die Leute im Restaurant sind ihm egal. Auch dafür liebt sie ihn, aber sie drängt sich weiter zwischen den Tischen hindurch. Sie springt über den Zaun auf den Gehweg und verschwindet.
Verschwinden? Wenn es doch so einfach wäre.
Denn Nicht-Verschwinden ist Dableiben und Dableiben tut viel zu weh.
Der Spatz in der Pastete zwitschert ein Lied davon.